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Der Zaubergarten

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Es waren einmal zwei Freunde, Assan und Chassen, beide sehr arm. Assan bestellte ein kleines Stück Land. Chassen weidete eine kleine Herde. Davon lebten sie. Beide waren seit langem verwitwet, aber Assan hatte eine schöne und liebevolle Tochter— sein einziger Trost, Chassen einen starken und gehorsamen Sohn — seine einzige Hoffnung. An einem Frühlingstag, als Assan gerade auf sein Feld gehen wollte, ereilte Chassen ein Unglück. Die Steppe fing Feuer, und seine Schafe verbrannten. Todunglücklich, auf den Sohn gestützt, kam Chassen zum Freund und sagte: „Assan, ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen. Meine Herde ist verbrannt, nun bin ich dem Hungertod ausgeliefert.” Als Assan die Worte des alten Hirten hörte, drückte er ihn an sich und sprach: „Mein Freund, dir gehört die Hälfte meines Herzens, nimm also auch die Hälfte meines Feldes. Weine nicht, greif zur Hacke und gehe fröhlich an die Arbeit.“ Fortan bestellte auch Chassen den Acker.
Tage, Nächte, Monate und Jahre gingen ins Land. Eines Tages hörte Chassen, als er sein Feld umgrub, ein seltsames Geräusch. Hastig scharrte er die Erde auf und erblickte einen alten Kessel, bis zum Rand mit Goldmünzen gefüllt. Freudestrahlend lief er zum Freund. „Assan, dir ist große Freude widerfahren“, rief er noch von weitem, „bei dir ist das Glück eingekehrt! Ich habe auf deinem Feld einen Kessel voller Gold ausgegraben. Jetzt wirst du nie mehr Not leiden!“ Assan trat mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu und entgegnete: „Chassen, ich kenne deine Großmut, aber das Gold gehört dir. Du hast den Schatz auf deinem eigenen Stück Acker gefunden.“ — „Assan, ich kenne deine Hochherzigkeit“ , antwortete Chassen, „doch als du mir Acker schenktest, hast du mir nicht das geschenkt, was er in sich birgt.“ — „Lieber Freund, aller Reichtum des Bodens gehört dem, der ihn mit seinem Schweiß tränkt“ , sprach Assan.
Lange währte der Streit, und jeder weigerte sich entschieden, den Schatz zu nehmen. Schließlich sagte Assan: „Begraben wir den Zwist, Chassen. Du hast einen Bräutigam, deinen Sohn, ich habe eine Braut, meine Tochter. Seit langem lieben sie sich. Verheiraten wir sie und geben wir ihnen das Gold. Mögen unsere Kinder die Armut vergessen.“ Als die Freunde den Kindern ihren Entschluß kundtaten, wären die fast vor Glück gestorben. Sogleich wurde eine fröhliche Hochzeit gefeiert. Das Fest endete erst spät in der Nacht. Am nächsten Tag fand sich das junge Paar schon im Morgengrauen bei den Vätern ein. Sie schauten besorgt drein und hielten den Kessel mit Gold in den Händen. „Was ist geschehen, liebe Kinder?“ fragten Assan und Chassen aufgeregt. „Welch ein Unglück hat euch so früh geweckt?“ — „Wir wollen euch sagen, daß die Kinder das, was ihre Eltern verschmähen, nicht besitzen dürfen. Wozu brauchen wir das Gold? Unsere Liebe ist wertvoller als alle Schätze der Welt.“ Und sie stellten den Kessel in die Mitte der Erdhütte.Nun entbrannte abermals der Streit darüber, was mit dem Schatz zu tun sei, und er dauerte so lange, bis alle vier auf den Gedanken kamen, bei dem Weisen Rat zu holen, der sich im Volk seiner Redlichkeit und Gerechtigkeit rühmte. Viele Tage wanderten sie durch die Steppe und gelangten endlich zur Jurte des Weisen. Die schwarze ärmliche Jurte stand einsam inmitten der Steppe. Die Wanderer baten um Einlaß und betraten mit einer Verbeugung die Jurte. Der Weise saß auf einer alten Filzmatte. Vier Schüler saßen neben ihm. Zwei zu jeder Seite. „Welch ein Kummer führt euch zu mir, gute Leute?“ fragte der Weise die Eintretenden. Diese erzählten ihm von ihrem Streit.
Nachdem der Weise sie angehört hatte, schwieg er lange, dann fragte er seinen ältesten Schüler: „Wie würdest du an meiner Stelle den Streit dieser Leute schlichten?“Der älteste Schüler antwortete: „Ich würde ihnen raten, dem Chan das Gold zu bringen, denn er ist der Herrscher über alle Schätze der Erde.“ Der Weise krauste finster die Brauen und fragte den zweiten Schüler: „Und wie würdest du an meiner Stelle entscheiden?“ Der zweite Schüler gab zur Antwort: „Ich würde das Gold an mich nehmen, denn das, worauf der Kläger und der Beklagte verzichten, gehört rechtmäßig dem Richter.“ Da verfinsterte sich der Weise noch mehr, stellte dennoch dem dritten Schüler besonnen die Frage: „Sage uns, welchen Ausweg du aus dieser schwierigen Lage finden würdest?“ Der dritte Schüler sagte: „Da dieses Gold niemandem gehört und alle darauf verzichten, würde ich heißen, es wieder in der Erde zu vergraben.“
Nun wurde der Weise noch düsterer und fragte den vierten, den jüngsten Schüler: „Und was meinst du, mein Junge?“ — „Mein Lehrer, zürnen Sie mir nicht, vergeben Sie mir meine Einfalt, aber mein Herz hat so entschieden: Ich würde für dieses Gold in der öden Steppe einen großen schattigen Garten pflanzen, damit sich alle müden Armen darin ausruhen und an seinen Früchten laben können“, antwortete der jüngste Schüler. Bei diesen Worten erhob sich der Weise und umarmte den Jüngling mit Tränen in den Augen. „Es stimmt schon, wenn man sagt, ehre den Jungen wie den Alten, wenn er klug ist“ , sprach er. „Dein Urteil ist gerecht, mein Junge! Nimm das Gold, begebe dich in die Hauptstadt des Chanreiches, kaufe dort den besten Samen, kehre zurück und pflanze den Garten. Mögen die Armen für ewig deiner und dieser großherzigen Leute gedenken, die sich nicht von dem großen Reichtum verlocken ließen.“ Der Jüngling steckte den Schatz sogleich in den Ledersack und trat den Weg an.
Lange wanderte er durch die Steppe, bis er endlich wohlerhalten die Hauptstadt des Chans erreichte. Dort ging er zum Basar, wo er nach den Samenverkäufem Ausschau hielt. Einen halben Tag strich er vergeblich herum, besah sich die exotischen Dinge und bunten Stoffe, als er plötzlich Schellengeläut und gellende Schreie vernahm. Der Jüngling drehte sich um: Eine Karawane zog über den Basar. Sie hatte seltsame Fracht: Statt der Warenballen waren lebendige Vögel, tausende Vögel, wie sie nur in den Bergen, in den Wäldern, in der Steppe und in der Wüste nisten, an die Kamele angebunden. Ihre Beine waren zusammengeschnürt, ihre zerflederten und zerschundenen Flügel hingen wie Fetzen herunter; bunte Federwolken wirbelten über der Karawane auf. Bei jeder Bewegung, die die Karawane machte, schlugen die Vögel mit ihren Köpfen an die Flanken der Kamele, und ihren Schnäbeln entrangen sich Klageschreie.
Des Jünglings Herz verkrampfte sich vor Mitleid. Er drängte sich durch die neugierige Menge, trat an den Karawanenführer heran, verbeugte sich ehrerbietig und fragte: „Herr, wer hat diese herrlichen Vögel zu dieser Höllenqual verdammt, und wohin führt euer Weg?“ Der Karawanenführer antwortete: „Unser Weg führt uns zum Palast des Chans. Diese Vögel sind für das Mahl des Herrschers bestimmt. Er zahlt uns fünfhundert Goldmünzen dafür.“ — „Läßt du die Vögel frei, wenn ich dir zweimal mehr Gold biete?“ fragte der Jüngling. Der Karawanenführer schaute den Jüngling nur spöttisch an und setzte den Weg fort. Da schnallte der Jüngling den Sack ab und öffnete ihn vor dem Karawanenführer. Der blieb staunend stehen, als er den Schatz sah, befahl den Treibern, die Vögel loszubinden.
Die freigelassenen Vögel erhoben sich mit einem Schwung in die Lüfte, und es waren so viele, daß der Tag für Augenblicke zur Nacht wurde und von ihrem Flügelschlag ein Wirbelsturm über die Erde fegte. Der Junge schaute den forteilenden Vögeln lange nach, und als sie seinen Augen entschwunden waren, begab er sich mit dem leeren Ledersack auf den Rückweg. Sein Herz jubelte, seine Beine trugen ihn schnell, er stimmte ein fröhliches Lied an. Doch je näher er dem Heimatort kam, desto düsterer wurden seine Gedanken, desto heftiger brannte die Reue in seiner Brust. „Wer gab mir das Recht, nach eigenem Gutdünken über fremden Reichtum zu walten? Wollte ich nicht selbst einen Garten für die Armen pflanzen? Was werde ich dem Lehrer und jenen treuherzigen Menschen sagen, die mich mit Samen zurück erwarten?“ schalt sich der Jüngling. Seine Verzweiflung wuchs, bis er sich schließlich zu Boden warf, weinte und stöhnte und den Tod herbeiwünschte. Vor Kummer und Tränen war er so ermattet, daß er einschlief. Da hatte er einen Traum: Ein schöner bunter Vogel flog von irgendwoher auf seine Brust und sang mit wundersamer Stimme: „O guter Jüngling! Vergiß deine Not! Die freien Vögel können dir das Gold nicht zurückgeben, aber sie belohnen dich anders für deine Barmherzigkeit. Wache schnell auf, wache auf!…“ Der Jüngling öffnete die Augen und war starr vor Staunen: Weit und breit sah er unzählige Vögel aus aller Herren Ländern. Mit den Krallen gruben, die Vögel Löcher in den Boden, ließen aus den Schnäbeln Samen hineinfallen und scharrten sie rasch mit den Flügeln zu. Der Jüngling regte sich, da flatterten die Vögel auf. Und wieder wurde der Tag zur Nacht, und von ihrem Flügelschlag fegte ein Wirbelsturm über die Erde …
Als sich das Unwetter legte, brachen aus jedem Löchlein grüne Sprosse hervor, reckten sich höher und höher und wurden bald zu weitausladenden Bäumen mit glänzenden Blättern und goldenen Früchten. Selbst der Padischah von Indien besaß wohl keinen so üppigen und großen Garten. Mächtige Apfelbäume mit einer Rinde wie aus Bernstein wuchsen in großer Zahl. Durch die schlanken Stämme schimmerten fruchtbare Weingärten, Aprikosenhaine, lichte Wiesen mit dichtem Gras und bunten Blumen. Überall murmelten kühle, mit Edelsteinen ausgelegte Wassergräben. In den Zweigen flatterten und zwitscherten Vögelchen ohne Unterlaß, so hübsch und mit so schöner Stimme, wie jener Vogel, der dem Jüngling im Traum erschienen war. Verwundert schaute sich der Jüngling um, er wollte und wollte nicht glauben, daß er diesen Garten in Wirklichkeit sah. Deshalb schrie er laut und hörte deutlich seine Stimme, die vielfach widerhallte. Das Trugbild blieb. Da eilte er vor Freude und Aufregung zur Jurte des Weisen.
Rasch verbreitete sich die Kunde von dem Zaubergarten durch die ganze Steppe. Als erste kamen die Reiter des „Blauen Bluts“ auf ihren schnellen Rossen zum Garten geritten. Doch kaum hatten sie den Rand des Gartens erreicht, da wuchs ein hohes Gitter mit einem Eisentor und sieben Schlössern vor ihnen auf. Sie stellten sich auf die geschnitzten Sattel und versuchten, über das Gitter nach den goldenen Äpfeln zu langen. Doch jeder, der die Früchte berührte, fiel tot zu Boden. Als die Reiter das sahen, wendeten sie ihre Pferde und galoppierten in Windeseile in ihre Aule zurück.
Nun strömten von allen Seiten Arme zum Garten. Als sie sich näherten, fielen die Schlösser vom eisernen Tor, und es öffnete sich. Der Garten füllte sich mit Volk— Männern, Frauen, Greisen und Kindern. Sie traten auf die leuchtenden Blumen, aber die Blumen verwelkten nicht; sie tranken Wasser aus den klaren Wassergräben, aber das Wasser blieb rein; sie pflückten Früchte von den Bäumen, die Früchte wurden nicht weniger. Den ganzen Tag hörte man im Garten Dombraklänge, buntes Stimmengewirr, lautes Lachen. Als die Nacht anbrach und sich Dunkelheit auf die Erde senkte, fiel von den Äpfeln milder Schein, und die Vögel sangen im Chor ein stilles und süßes Lied. Da legten sich die Armen unter die Bäume ins würzige Gras und schliefen fest ein, zum ersten Mal in ihrem Leben zufrieden und glücklich.

Quelle:
(Kasachische Volksmärchen)

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