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Märchenbasar

Der Zauberspiegel

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Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne und einen Spiegel, in dem man jeden Feind erblicken konnte, der in das Reich kam. Eines Tages entstand ein großer Sturm und riß diesen Spiegel mit sich fort, und alles Suchen war vergebens. Da machten sich die drei Söhne auf, um ihn wieder zu finden, und reisten zusammen drei Tage lang, bis sie an einen hohen Marmorfelsen kamen, bei dem der Weg nach drei Richtungen auseinander lief. Dort legten sie ihre Ringe auf den Felsen und machten untereinander aus, daß, wer den Spiegel finde, hierher kommen und auf die anderen warten solle, und darauf trennten sie sich und schlug jeder einen andern Weg ein.
Der älteste Bruder kam auf seinem Wege in eine Stadt, in der es ihm so gefiel, daß er dort sein ganzes Reisegeld in Saus und Braus verzehrte, und dann die Ochsen hüten mußte, um nicht zu verhungern. Dem zweiten Bruder ging es grade so, und kam so herunter, daß er die Schweine hüten mußte. Der jüngste kam zu einer großen Stadt und kehrte in einem kleinen Häuschen ein, das vor derselben lag und in welchem eine alte Frau mit ihrer schönen Tochter wohnte. Als er sah, daß die Alte sehr klug war, so erzählte er ihr von dem Spiegel und wie sie ihn verloren hätten und wie er nun nach im suche. Darauf erwiderte die Alte: »seit einiger Zeit hat der Drakos, der unser König ist, einen Spiegel in seinem Garten an den großen Apfelbaum gehängt, der jeden anzeigt, welcher dorthin geht, um Äpfel zu stehlen, und auf seinen Ruf kommt die Wache heraus und erschießt den Dieb. Willst du nun versuchen, den Spiegel zu holen, so mußt du hingehen, wenn der Drakos schläft, und keinen von den Äpfeln anrühren.« Des andern Tags um Mittagszeit schlich sich also der Prinz in den Garten und kam ungesehen bis zu dem Spiegel; als er ihn aber von dem Aste losbinden wollte, an dem er hing, da streifte er einen Apfel ab, und wie der zu Boden fiel, rief der Spiegel: »man will mich stehlen.« Da stürzte die Wache herbei und der Prinz ließ vor Schreck den Spiegel fallen und entkam mit knapper Not.
Der Prinz kehrte zur Alten zurück und erzählte ihr, wie es ihm ergangen sei, und diese sprach: »nun mußt du ein ganzes Jahr warten.« Während also der Prinz das Jahr bei der Alten verlebte, entspann sich zwischen ihm und deren Tochter eine heimliche Liebschaft, und nachdem das Jahr verflossen war, ging er wieder in den Garten des Drakos, und diesmal glückte es ihm besser, denn er kam mit dem Spiegel zur Alten zurück. Nun aber hielt er bei ihr um das Mädchen an, und als diese hörte, daß sie einander schon lange liebten, willigte sie ein. Darauf nahm der Prinz Abschied von der Alten, setzte seine Braut hinter sich auf das Pferd, ritt bis zu jenem Felsen und fand dort die Ringe seiner Brüder noch unberührt. Er ließ also seine Braut bei dem Felsen und holte sie beide herbei, nachdem er ihre Schulden bezahlt und ihnen goldene Kleider angeschafft hatte.
Als die beiden mit ihm zum Felsen kamen und sahen, daß er sowohl den Spiegel als die schöne Frau gefunden, wurden sie so neidisch, daß sie ihn zu verderben beschlossen und ihn unversehens in einen großen Fluß stürzten, bei dem sie gelagert waren. Sein guter Stern ließ ihn aber einem Baumstamme begegnen, auf den setzte er sich und kam so bis zu einer großen Stadt, wo er sich bei einem Goldsticker in die Lehre gab und in dieser Kunst bald so geschickt wurde, daß er es allen andern zuvor tat.
Darauf schickte er seiner Frau einen Brief, in dem er ihr schrieb, daß er ein Goldsticker geworden sei und sie bei ihm ihre Kleider bestellen solle, denn die beiden Brüder hatten ausgemacht, daß sie der ältere heiraten sollte, und erzählten daher ihrem Vater, daß der Jüngste unterwegs gestorben sei. Als nun der alte König der jungen Frau ein Hochzeitsgewand machen lassen wollte, da gefiel ihr keines von allen, die man ihr brachte, und endlich sagte sie, daß sie es selbst bestellen wolle. Da schickte sie zu ihrem Manne, und dieser machte ein Kleid, wie man niemals ein schöneres gesehen hatte; als sie dieses angezogen und der König sie verwundert fragte, welche Hände dies Kleid gestickt hätten, antwortete sie, daß es sein eigener Sohn gestickt habe, und erzählte ihm darauf die ganze Geschichte. Da schickte der Vater hin und ließ seinen jüngsten Sohn kommen und mit der Jungfrau einsegnen, seine älteren Söhne aber von dem Scharfrichter enthaupten, und nach seinem Tode wurde der Jüngste König und lebt bis auf den heutigen Tag; wir aber leben noch besser.

[Griechenland: Johann Georg von Hahn: Griechische und Albanesische Märchen]

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