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Märchenbasar

Die Buche

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Unweit von hier steht eine alte, mächtige Buche. 

Sie stand nicht immer da, und wie es dazu kam, das will ich euch heute erzählen.
War es im Mittelalter, oder ist es schon länger her? 

Auf jeden Fall zog zu dieser Zeit ein junger Jäger durch einen tiefen Wald. Hungrig und müde war er, als er sich am Abend am Ufer eines Weihers müde niederließ und ein Feuerchen anblies, um sich eine Mahlzeit zu bereiten. 

„Jetzt käme mir ein knuspriger Braten gerade recht,“, sagte er, „aber mehr als ein mageres Süppchen und ein Stück trockenes Brot wird es wohl nicht werden.“ 

Über ihm rauschte es von den Flügelschlägen der Wildgänse, die gegen Norden zogen.
Eine Schar nach der anderen zog vorüber und erfüllte die Luft mit knatterndem Geräusch. Da hob der Bursche sein Gewehr, zielte, legte an und schoss. 

„Getroffen!“, jubelte er, als sich eine aus der Reihe löste und zu Boden taumelte.
Da die Wildgans im Wasser aufschlug, sprang er sofort in den Weiher, um seine kostbare Beute zu bergen.
Wie aber erstaunte der Jüngling, als er näher schwamm und anstelle der Wildgans eine verletzte Jungfrau erblickte. Verzweifelt versuchte diese ihm zu entkommen, aber sie war zu schwach dazu 

und wurde ohnmächtig. Da ergriff der Bursche die Verletzte und brachte sie ans rettende Ufer. Nachdem die Schöne wieder ihr Bewusstsein erlangt hatte, fing sie leise zu klagen an.
Jäger Claudius bat sie um Verzeihung, für das Leid, welchen er ihr unwissend bereitet hatte und sprach: „Ich konnte ja nicht wissen, dass du mit den Graugänsen fliegst, ansonsten hätte ich sicherlich nicht auf dich geschossen.
Aber sei gewiss, dass ich dich so lange pflegen werde, bis du wieder geheilt und ganz gesund bist und deines Weges weiterziehen kannst.“ 

Da lächelte das Mädchen wehmütig und sagte: „Es ist ja nicht deine Schuld, denn mein Vater Manusch, hat mich nach alter Zigeunertradition zwar vieles gelehrt, aber er hätte mich die Zauberformel lehren sollen, die mich gegen Gewehrkugeln unverwundbar macht.“
Während sie dieses sprach, röteten sich ihre Wangen.
Ihr Haar hatte sich gelöst und hüllte Gesicht und Schultern in dunkle Wellen ein. Ihre Augen 

glühten wie Karfunkelsteine, und ihre blutroten Lippen verhießen Liebe und Leidenschaft.
Kein Wunder war es daher, dass der Jäger seinen Blick nicht von ihr lassen konnte 

und ihn ihre fremdartige Schönheit immer mehr und mehr gefangen nahm. 

Dass sie zaubern konnte, machte sie für ihn noch reizvoller, und er entbrannte in tiefer Liebe.
Es wurde eine wunderschöne Zeit miteinander, bis die Wildganszigeunerin gänzlich ausgeheilt war. Jedoch, wie alles im Leben, ging auch diese Zeit zu Ende. 

Bevor ihn die junge Frau verließ, um wieder mit ihren Gefährten, den Wildgänsen zu fliegen,
gab sie Claudius einen Wunsch frei. „Ich möchte mich in jedwedes Tier und in jede Pflanze verwandeln können, um zu wissen, wie diese leben, und was sie fühlen.“, bat er sie beim Abschied. 

Die Zigeunerin schwieg eine Weile, und es schien, als horche sie in sich hinein.
Dann aber hob sie beschwörend ihre Arme gen Himmel und flüsterte: „Alles wandle sich in dir,
Stein und Pflanze, Mensch und Tier.
Frei erwähle Stoff und Zeit, lege ab dein Menschenkleid! Werde Vogel oder Baum, Leben sei nur Wunsch und Traum.“ 

Während sie diese Beschwörungen vor sich hinmurmelte, versank Claudius in einen tiefen Schlaf. 

Ihm träumte, er wäre so schnell wie eine Schwalbe, so scharfsichtig, wie ein Falke und so kräftig, wie ein Adler. 

Er trotzte dem Sturme und ließ sich vom Winde über Gebirge, Wälder und Täler tragen. Aber,
als er aus dem tiefen Schlaf erwachte, war er allein.
Fernes Rauschen verriet ihm, dass ihn seine zauberkundige Geliebte verlassen hatte.
Da wollte Claudius sogleich erkunden, ob ihm ihre Zauberkunst auch wirklich dienstbar sei. Deshalb stellte er sich auf, hob seine Arme beschwörend gen Himmel und flüsterte:
„Alles wandle sich in mir, Stein und Pflanze, Mensch und Tier. Frei erwähl ich Stoff und Zeit,
lege ab mein Menschenkleid, Werde, wie im tiefen Traum, Vogel nun, jedoch nicht Baum.“ 

Sogleich verwandelte er sich in eine Schwalbe, an die er intensiv gedacht hatte und flog jubilierend durch die Lüfte. Welches Glück war es, sich aufzuschwingen und unter dem Blau des Himmels dahinzutreiben, oder, wie ein Blitz niederzustoßen und den sausenden Flug dicht über dem Erdboden aufzufangen. 

So wechselte er nach Lust und Gefallen noch viele Male seine Gestalt.
Eines Tages rettete ihn nur der Zauberspruch der Wildganszigeunerin vor dem sicheren Verderben. Verfolgt von einer eingefallenen Soldateska und den sicheren Tod vor Augen, rief er mit letzter Kraft den Zauberreim: 

„Lege ab, mein Menschenkleid, werde, wie im tiefen Traum, jetzt ein Baum, ein Buchenbaum.“ Sogleich wuchs, an der Stelle, wo er gestanden hatte, eine hohe Buche empor.
Heulend vor Schrecken entflohen seine Verfolger. „Warum sollte ich nicht für eine Weile ein Baum bleiben?“ frug sich Claudius.
Mit ihrer silbergrauen Rinde und den glänzenden, zart gewimperten Blättern, machte die Buche 

einen prachtvollen Eindruck. Anfangs hatte der Verwandelte geglaubt, er würde sicherlich bald wieder ein Mensch oder Tier werden wollen, jedoch andauernde Einfälle feindlicher Heere und blutige Bauernaufstände hielten ihn davon ab, eine andere Gestalt anzunehmen.
„Ich will warten, bis die Menschen friedfertig geworden sind“, sprach er zu sich selbst. 

Da rauschte eines Tages eine Schar Wildgänse über ihn hinweg. 

Aus der letzten Kette löste sich ein Vogel und ging am Fuße des Baumes nieder. 

„Bist du es Claudius?“ hörte er die Wildganszigeunerin fragen. „Komm wandle dich um und flieg mit uns nach Süden, dann können wir für immer beisammen sein.“ 

Jedoch der Jüngling schüttelte seine Blätter und antwortete, dass er bleiben wolle, da er schon allzu lange hier verwurzelt sei, mit Dachs, Eichkatz, Dohle, Sperber und vielem anderen Getier 

Freundschaft geschlossen habe, und sich wohl immer zurücksehnen würde. 

„Hab Dank, dass du gekommen bist“, sagte er.
„Hab Dank für deinen Zauberspruch! Doch lass uns nun Abschied nehmen, möge ein anderer 

dich glücklich machen.“ So blieb Claudius eine Buche und wartet bis heute sehnsüchtig auf Frieden. Jedoch, wird wohl jemals Frieden unter den Menschen sein? 

Deshalb steht die alte Buche noch immer auf jenem Hügel, aber vielleicht hat Claudius auch schon längst seinen Zauberspruch vergessen. 

(Quelle: Märchenklaus)

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