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Märchenbasar

Die Gefangene vom Wolkenturm

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Sarah-Su, die Elfenprinzessin, schwebt auf rosa Wolken des Glücks. Endlich haben die Eltern nichts mehr gegen eine Heirat mit dem gräflichen Bergelfen Brendon-Li.

Alle Verwandten und Freunde der Familie werden eingeladen.
Brendon-Li, der sich genauso auf die bevorstehende Hochzeit freut, hält sich von den Vorbereitungen im Schloss fern.
„Ein Fest zu gestalten ist Frauensache. So jedenfalls wird es bei uns in den Bergen gehalten“, meint er lächelnd und streift deshalb lieber allein im Walde umher. Auch ist er ab und zu auf dem Rücken des Einhorns Lotus unterwegs. Und eines Tages kommt er von einem seiner Ausflüge nicht mehr zurück. Alle im Schloss, besonders Sarah-Su, sind sehr in Sorge und König Milan schickt seine Soldaten los, den Bräutigam zu suchen. Da sich auch Lotus nicht mehr blicken lässt, wächst die Sorge der Prinzessin ins Unermessliche. Brendon-Li und das Einhorn bleiben unauffindbar. Nicht einmal Fips, der kleine Kobold, kann mit seinen Späßen trösten.
„Ach Fips“, seufzt die Prinzessin, „vielleicht liebt mich Brendon-Li nicht mehr und ist zu seiner Familie zurückgekehrt.“ Dicke Tränen der Verzweiflung rollen ihre Wangen hinunter.
„Wenn er das getan hat“, sagt Fips und schlägt einen doppelten Purzelbaum, „dann hat er dich nicht verdient.“

Sarah-Su weint sich jeden Abend in den Schlaf. Eines Nachts jedoch pocht es an ihr Fenster. Sie wacht auf und sieht einen dunklen Schatten, der sich im Mondlicht vor der Scheibe abzeichnet. Sie ist ängstlich, steigt aber trotzdem aus dem Bett und öffnet geschwind. Ein großer Vogel hockt auf der Fensterbank. Ohne Vorrede sagt er zu ihr mit krächzender Stimme: „Wenn du wissen willst, liebliche Prinzessin, wo dein Liebster ist, dann steig auf meinen Rücken. Ich bringe dich zu ihm.“
„Wo ist er? Bitte, sag es mir.“
„Er ist beim Drachenkönig. Dort wird er auf dich warten. Kommst du nicht bis zum Morgengrauen, wird dein Liebster in ein Verlies im Wolkenturm gesperrt und muss dort elend verhungern.“

Sarah-Su bleibt bei diesen Worten beinahe das Herz stehen. Sie überlegt nicht lange und steigt auf den Rücken des schwarzen Vogels, der sich sofort in die Luft erhebt. Rechtzeitig sind beide am Ziel angekommen, wo der Gefiederte mit der Elfe auf einer Plattform des Wolkenturms landet. Es weht ein rauer Wind hier oben. Sarah-Su hat große Angst.

„Endlich bist du bei mir, Prinzessin. Lange habe ich auf diesen Tag gewartet.“
Die Elfe erschrickt. Im Dämmerschein des beginnenden Morgens steht, wie aus dem Boden gewachsen, die hässliche Gestalt des Drachenkönigs vor ihr. Seine Haut ist von grell-grüner Farbe und die Augen stehen weit aus den Höhlen hervor. Quer über seine Nase zieht sich eine dicke, rot-braune Narbe. Sarah-Su fällt in Ohnmacht. Als sie wieder erwacht, liegt sie auf einem großen Bett und der Drache steht daneben. Sarah-Su rückt ans andere Ende des Lagers.
„Wenn du dich erst einmal an mich gewöhnt hast, wirst du bei meinem Anblick nicht mehr umfallen“, sagt er mit laut dröhnender Stimme.
„Niemals!“, rief die Elfe aus. „Wo ist mein Bräutigam?“
„Noch geht es ihm gut. Und dass dies auch so bleibt, hängt von dir ab, Liebste. Werde meine Frau und er ist frei. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.“
„Niemals werde ich deine Frau!“, rief Sarah-Su aus.
„Das solltest du dir gut überlegen. Dein Bräutigam wird hier in einem Verlies jämmerlich verhungern, wenn du nicht einwilligst. Ich gebe dir Zeit, bis der Mond in dein Zimmer scheint. Dann musst du dich entscheiden.“
Er verlässt den Raum und Sarah-Su ist allein.
Diesen Drachen heiraten, das würde sie niemals tun. Sie eilt zum Fenster. Ein dort angebrachtes Eisengitter macht jegliche Flucht unmöglich. Ihre Finger umklammern die dicken Stäbe so fest, dass es schmerzt. Sie geht zur Tür, doch diese ist verschlossen. Sie ist gefangen. Weinend sinkt sie zu Boden. Was soll sie tun? Wenn sie sich weigert, muss Brendon-Li sterben. Dieser Drache kennt keine Gnade. Sie hat keine Wahl, wenn sie das Leben ihres Liebsten retten will. Als ihre Tränen versiegt sind, fühlt sie eine Leere in sich. Ihr stets freundliches Gesicht und der zum Lachen bereite Mund verwandeln sich in eine starre Maske.

Der Mond scheint bereits hell ins Zimmer, als sich die Tür öffnet und der Drachenkönig hereinkommt.
„Nun, wie lautet deine Antwort?“
„Gut, ich werde hierbleiben, doch wie weiß ich, dass mein Bräutigam auch wirklich frei ist?“
„Morgen bei Sonnenaufgang wird der Vogel, der dich brachte, an deinem Fenster vorbeifliegen. Er trägt den Bergelfen auf seinem Rücken und bringt ihn in die Freiheit. Das muss dir als Beweis reichen.“ Der Drache geht zur Tür. „Und nun komm, das Essen wartet auf uns.“ Sarah-Su verspürt keinen Appetit, nichts wird sie essen und das sagt sie dem Ungeheuer auch.
„Wie du willst. Wenn du Hunger hast, wirst du dich schon melden.“ Wieder ist sie allein, geht zum Fenster und schaut in die Nacht. In der Tiefe ist der große See, der den Wolkenturm vom Walde trennt. Eulen rufen in der Ferne und ein Käuzchen schreit. Hier will sie stehen bleiben, bis die Sonne aufgeht, um ja nicht Brendon-Lis Abflug zu verpassen. Noch einmal will sie ihn sehen, ihm zurufen, wie lieb sie ihn hat und dass sie ihn niemals vergessen wird. Irgendwann sind ihre Füße vom Stehen so müde, dass sie diese gar nicht mehr richtig fühlt. Doch sie hält durch bis zum Morgengrauen und da sieht sie ihn, den Vogel, mit Brendon-Li auf dem Rücken.
Laut ist ihre Stimme, als sie ihm zuruft, was ihr auf dem Herzen liegt, doch er reagiert nicht.
„Er wird dich nicht hören und dir auch nicht antworten“, vernimmt sie hinter sich die verhasste Stimme. „Ich habe ihn mit einem Zauberschlaf belegt und meinen treuen Diener, den Vogel gebeten, ihn zu seiner Familie in die „Hohen Berge“ zu bringen. Wenn er später erwacht, wird er nicht mehr wissen, dass es Sarah-Su gibt. So kann ich sicher sein, dass er nicht versucht, dich zu befreien.“
Sarah-Su dreht sich um und schaut den Drachen mit starrer und ausdrucksloser Miene an. Alles Leben ist daraus gewichen.

So vergeht die Zeit. Die Prinzessin verlässt niemals ihr Zimmer, sodass einer der Zwerge, die im Dienste des Drachenkönigs stehen, ihr das Essen bringt. Sie rührt nur wenig an und steht den ganzen Tag am Fenster, bis sie die Beine nicht mehr spürt. Dann legt sie sich auf das Bett und schaut mit leeren Augen an die Decke. Der Drachenkönig kommt täglich zu ihr, um sich zu unterhalten und ihr mitzuteilen, dass die Hochzeitsvorbereitungen bald vorüber sind. Und jedes Mal, wenn er wieder geht, ist er mürrischer als zuvor. Er hatte Sarah-Su doch gerade wegen ihres liebreizenden Wesens zu sich geholt, damit der Turm endlich von Lachen und Fröhlichkeit erfüllt ist.

Als er am nächsten Tag kommt und abermals nur in ihr starres Angesicht sieht, ist es mit seiner Geduld zu Ende. Er tobt, schreit, faucht und schlägt das Bett entzwei. Sarah-Su, die am Fenster steht, schaut mit ausdrucksloser Miene zu, bis er davongeht. Erst nach zwei Tagen erscheint er erneut und die Stimme, die zu ihr spricht, ist kaum mehr wiederzuerkennen.
„Du bist nicht mehr das Mädchen, welches ich für mich haben wollte, Sarah-Su. Wo ist deine Fröhlichkeit geblieben? Deine Herzlichkeit? Du lachst nicht mehr, dein leerer Blick ängstigt mich. So sehr liebst du also diesen Bergelfen, dass du all diese Tugenden, die dein liebreizendes Wesen ausmachten, ablegst?“
Sarah-Su schaut ihn an und plötzlich erscheint er ihr nicht mehr so hässlich, nein, eher traurig.
„Du bist frei, Sarah-Su, mein Vogel wird dich morgen nach Hause bringen. Vor einer solch großen Liebe kann ich nur aufgeben.“ Er dreht sich zur Tür um und geht.

Es ist später Nachmittag des folgenden Tages, als Sarah-Su mit dem schwarzen Vogel die „Hohen Berge“ erreicht. Sie hätte nicht sagen können, warum sie dorthin wollte und nicht erst zu ihren Eltern. Mitten auf einem freien Platz setzt der Vogel sie ab. „Jetzt musst du deinen Weg allein weitergehen. Hier habe ich den Elfen auch abgesetzt“, sagt er und erhebt sich wieder in die Luft.
Sie bleibt eine Weile stehen und blickt sich um. Da sieht sie ein paar Bergelfen, die miteinander sprechen und geht zu ihnen hin. Sie erkundigt sich nach Brendon-Li.
„Der wird heute vermählt, dort vorne wohnt er.“ Der Elf deutet mit dem Finger auf eines der Häuser und Sarah-Su geht darauf zu. „Brendon-Li heiratet!“, schießt es ihr durch den Kopf. „Das kann doch nicht sein.“ Sie beschleunigt den Schritt und pocht kräftig an die Tür des Hauses. Ein weiblicher Elf in den Kleidern einer Dienerin öffnet.

Nachdem Sarah-Su darum gebeten hat, zu Brendon-Li vorgelassen zu werden, führt die Bergelfe sie umgehend und ohne Fragen zu stellen zu ihm. Da steht er, groß und kräftig, Brendon-Li im Hochzeitsgewand. Plötzlich macht ihr Herz einen Sprung und das Lächeln kehrt auf ihre Lippen zurück. Sie flüstert seinen Namen und er wendet sich ihr zu. Es liegt keine Spur eines Erkennens auf seinem Gesicht und Sarah-Su geht näher an ihn heran. „Liebster, erkennst du mich nicht?“, fragt sie mit zitternder Stimme. Erst jetzt erinnert sie sich an das, was der Drache ihr gesagt hat: „Wenn er aufwacht, wird er nicht einmal mehr wissen, dass es eine Sarah-Su gibt.“
Er schüttelt seinen Kopf. Da ergreift sie seine Hand, presst sie an ihre Wange und beginnt zu weinen. Als aber ihre Tränen seine Haut berühren geschieht das Wunderbare: Der Zauber, den der Drache ihm auferlegt hatte, weicht und er erkennt seine Sarah-Su wieder.

Dass ihn sein Vater nun abermals aus seinem Haus weist, ist Brendon-Li egal, er ist überglücklich, dass seine Elfenprinzessin wohlbehalten wieder bei ihm ist. Nachdem sie ihm alles erzählt hat, machen sie sich gemeinsam auf die lange Reise in den Zauberwald. Sie haben die „Hohen Berge“ gerade verlassen, als ihnen Lotus entgegenkommt. Auch ihn hatte der Drache mit einem Zauber belegt, der in dem Augenblick vorbei gewesen war, als Brendon-Li seine Sarah-Su wiedererkannte.

Gemeinsam sitzen die Elfen auf dem Rücken des Einhorns und die Heimreise kann beginnen. Als sie am großen See ankommen und eine kleine Rast einlegen, müssen sie zweimal hinschauen, denn der Wolkenturm ist verschwunden und an seiner Stelle ist eine wunderschöne grüne Wiese entstanden, auf der sich munter Enten und Schwäne tummeln. Lotus, der dem Wasser niemals zu nahe kommen durfte, weil es der einhornhassende Drachenkönig einst mit einem Bann belegt hatte, steht mit seinen Beinen im See und genießt das kühle Nass.
„Vor diesem Ungeheuer müssen wir niemals mehr Angst haben“, sagt Brendon-Li zu Sarah-Su und nimmt sie fest in seine Arme. „Er hat ganz sicher seine gerechte Strafe bekommen.“

Was aus dem Wolkenturm und dem Drachen geworden ist, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben.

Quelle: Brigitte Kemptner

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