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Märchenbasar

Die goldene Zwiebel

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Vor langer, langer Zeit lebte König Mahendra. Umgeben von Wiesen und Wäldern stand auf einem Berg sein Schloss. Dessen Kammern waren reich gefüllt mit Gold und Edelsteinen. Der junge König lebte jedoch einsam und zurückgezogen. Es gab weder eine Königin noch hörte man Kinderlachen. Viermal im Jahr hielt er vom Balkon seines Schlosses eine Rede an sein Volk. Vorher wurden Barrieren und Wachen aufgestellt, denn niemandem war es gestattet, Mahendra aus der Nähe zu sehen. Er schämte sich vor seinem Volk. Auf seiner Nase prangte eine riesige Warze. Alles, was seine Leibärzte bisher empfohlen und angewandt hatten, war umsonst. Sein Volk wusste davon, doch helfen konnte keiner. Deshalb ließ er in seinem Königreich verkünden, er würde sein Schloss demjenigen schenken, der diesen Auswuchs für immer verschwinden lassen könnte!

Eines Tages kam ein fahrender Händler in die Königsstadt. Sein Gaul hatte ein Hufeisen verloren und an der Karre war die Deichsel gebrochen. Also musste er den nächsten Schmied aufsuchen, der recht redselig war und bei der Arbeit von der Not des Königs und auch der Belohnung erzählte.
„Dem Manne kann geholfen werden“, sagte der Händler, zahlte den verwunderten Schmied aus und zog zum Schloss. Als er sein Anliegen vortrug, wurde ihm sofort Einlass gewährt. König Mahendra saß im Thronsaal hinter einer spanischen Wand und hörte aufmerksam zu, was der fahrende Händler zu berichten hatte: „Majestät! Ich habe von einer goldenen Zwiebel gehört. Sie wächst am Rande Eures Reiches. Ein paar Tropfen ihres Saftes würden genügen, um Euer Übel zu beseitigen. Es wird nicht leicht sein, dieser Kostbarkeit habhaft zu werden, da sie streng von einem bösartigen Gewitter behütet wird. Aber ich werde es schaffen und verspreche, schon bald mit dem Heilmittel zurückzukommen!“
„Warum sollte ich deinen Worten glauben?“, grollte der König verbittert. „Ich habe schon viele Mittelchen versucht, keines hat bisher geholfen! Sicher hast du gehört, was ich verkündet habe!“
„Ja, das habe ich. Mich interessiert Euer Schloss jedoch nicht. Ich bin nicht sesshaft, fahre lieber durch die Lande und biete meine Ware feil!“, beteuerte der Händler.
„Dann will ich dir glauben“, lenkte König Mahendra freundlicher gestimmt ein, „denn, so wie ich aussehe, kann ich meinem Volk nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten!“
Der fahrende Händler erbat sich einen kleinen Henkelkrug, ließ Pferd und Wagen unterbringen und machte sich zu Fuß auf den Weg. Nach einiger Zeit blickte er sich um. Da sah er ein junges Huhn, das ihm folgte wie ein Hündchen. Er ließ es näherkommen. „Warum läufst du mir nach?“
„Nimm mich bitte mit!“, bettelte das Hühnchen. „Ich möchte die weite Welt kennenlernen! Vielleicht kann ich dir sogar helfen! Ich weiß, was du suchst!“
Der Händler schüttelte seinen Kopf. „Da, wo ich hingehe, ist nicht die weite Welt sondern ein furchtbares Gewitter. Was willst du da ausrichten? Oder bist du vielleicht lebensmüde? Trifft dich ein Blitz, ist es aus mit dir! Also bleib zurück, du dummes Huhn!“ Der Mann eilte weiter. Er kümmerte sich nicht mehr um das Hühnchen. Aber es lief ihm weiterhin nach – wenn auch mit Abstand. Der fahrende Händler gönnte sich weder Rast noch Ruhe. Er wanderte durch Wiesen und den großen, alten Wald.

Am siebenten Tage fand er das Feld, auf dem die goldene Zwiebel wuchs. Sie war groß wie eine Melone und innen so saftig, dass man sie nur anstechen musste. Er brach von einem Strauch ein spitzes Hölzchen ab, rammte es in die Zwiebel und sofort tropfte der Saft aus dem Einstich in den Henkelkrug. Ein ungutes Gefühl kroch ihm den Rücken hinauf, wusste er doch, was jeden Moment passieren würde. Kaum, dass er einige Tropfen erhascht hatte, brach ein fürchterliches Gewitter los. Der Hüter der goldenen Zwiebel verfinsterte den Himmel. Grelle Blitze zuckten gefährlich. Donner grollte wütend. Der Händler glaubte, die Hölle hätte sich aufgetan. Angstvoll rannte er in den angrenzenden Wald zurück und verkroch sich unter einem Reisighaufen. Erleichtert umklammerte der Mann das Krüglein. Nun, da er die goldene Zwiebel gefunden hatte und dem Gewitter ohne Schaden entronnen war, fühlte er eine bleierne Müdigkeit in sich aufsteigen und schlief auf der Stelle tief und fest ein. Sein Schlaf dauerte lange. Viel zu lange. Er machte sich große Vorwürfe, als er erwachte. Hatte er doch dem König versprochen, so schnell wie möglich zurückzukehren. Da erblickte er einen wunderschönen, bunten Vogel, der neben ihm in aller Ruhe Heidelbeeren von einem Strauch pickte. „Na, ausgeschlafen? Was macht denn einer wie du hier so allein im Wald? Und was hast du in dem Krüglein?“, fragte der Vogel den gähnenden Mann.
„Schau einer an! So einen Schönen wie dich, hab ich noch nie gesehen“, lächelte der Händler.
„Ich bin ein Phönix“, antwortete der Gefiederte. „Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet!“
„Ja, das kam so!“ Der Händler erzählte von der Pein des Königs, der Gefahr, als er dem Hüter der Zwiebel entronnen war und dass er viel zu lang geschlafen habe. Da kam er auf eine Idee: „Sag mal, Phönix! Könntest du nicht dem König das Krüglein übergeben? Fliegen geht nun mal schneller als laufen. Der Vogel nickte, nahm den Krug in seinen Schnabel und flog pfeilschnell davon. Aber bald wurde auch der Vogel müde, denn das Gefäß war ihm recht schwer. Er flog auf eine Tanne, um auszuruhen. Aber das Gewitter hatte die Suche nicht aufgegeben, verfolgte grollend den Vogel und stand plötzlich vor ihm. Es verwandelte sich in ein schemenhaftes Wesen und sprach listig: „Ich habe mir schon immer gewünscht, dich, den schönsten Vogel unter der Sonne, von Nahem zu sehen! Noch schöner wäre es, wenn ich einmal deine herrliche Stimme hören dürfte!“
Der Vogel fühlte sich über die Maßen geschmeichelt. Ohne Überlegung öffnete er seinen Schnabel, um ein Lied anzustimmen. Da fiel der Krug auf einen Tannenzweig und zerschellte. Der kostbare Saft tropfte zäh nach unten. Mit Blitz und Donner verzog sich das Gewitter. Sein Lachen hallte grauenvoll gleich einem Echo durchs Land. Angstvoll schwang sich der bunte Vogel in die Lüfte und verschwand.
Unter jener Tanne saß das junge Huhn, welches dem Händler nachgelaufen war. Es hatte sich unbemerkt ebenfalls im Wald versteckt, als das Getöse losging und der Händler in den Wald zurückrannte. Scherben fielen nun rechtst und links am Hühnchen vorbei und eine Flüssigkeit tropfte genau auf den Kopf. Aufgeschreckt begann es zu gackern und legte sein erstes Ei, welches zerbrach. Flink ergriff es mit dem Schnabel eine Schalenhälfte, leerte sie und ließ Tropfen für Tropfen hineinlaufen, wusste es doch um die Kraft dieses übelriechenden Saftes.

Endlich kam der Händler zu dieser Tanne, sah die Scherben des Henkelkruges auf dem Waldboden liegen und begann verzweifelt zu jammern: „Oh je! Was soll ich nur König Mahendra erzählen? Ich kann ihm nie mehr unter die Augen treten! Hat doch der Vogel das Krüglein fallenlassen und ist auf und davon. Alles umsonst! Der weite Weg und die Angst! Ach, hätte ich doch dem König nie von der goldenen Zwiebel erzählt!“
Das Huhn kroch unter der Tanne hervor, als es die Stimme erkannte.
„Du schon wieder!“, begehrte der Händler auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Ja, ich schon wieder! Ich habe auf dich gewartet! Habe genug von der weiten Welt!“, gackerte das Huhn und plapperte weiter: „Erst kam dieser bunte Vogel, der sich auf die Tanne setzte, dann das schreckliche Gewitter. Eigentlich gab es gar keinen Streit. Doch mit einem Mal fielen Scherben vom Himmel und dazu die stinkige Flüssigkeit, die mir direkt auf den Kopf tropfte. Aber gut! Wenn du mich von nun an nicht mehr allein lässt, kannst du sie haben! Ich weiß ja, dass es sich um den berühmten Zwiebelsaft handelt. So viel übrigens zum dummen Huhn. So will ich nie wieder genannt werden, verstanden!“
„Entschuldige bitte! Aber, soll das etwa heißen, du konntest von der Flüssigkeit ein paar Tropfen retten?“
„Bevor ich antworte, versprich mir, dass ich nie im Kochtopf ende!“, forderte das Huhn.
Der Händler verzog das Gesicht, er lachte: „Du bist mir viel zu mager!“
Das Huhn schlüpfte unter die Tanne und kam mit der halben Eierschale im Schnabel zurück. „Nun greif schon zu“, ächzte es, „ich kann ja mit der Schale im Schnabel kaum reden.“
Der Händler nahm die kostbaren Tropfen entgegen und küsste das Huhn überglücklich mitten auf den Schnabel. „Weißt du überhaupt, was die Tropfen für König Mahendra bedeuten?“
„Natürlich weiß ich das, bin doch nicht dumm“, plapperte das Huhn und pickte nebenbei nach einem Würmchen.
Die Beiden machten sich nun gemeinsam auf den Weg ins Schloss. Als das Huhn mit hinein wollte, meinte der Händler: „Das geht nicht! Versteck dich und pass auf, dass du nicht in einer hochherrschaftlichen Suppe landest!“

Mahendra, der König, hatte den fahrenden Händler nicht mehr zurückerwartet. Zu viele Tage waren vergangen. Er saß auf seinem Thron hinter der spanischen Wand und las in einem Buch, als der Mann doch noch angekündigt wurde.
„Es hat lange gedauert!“, sprach der König vorwurfsvoll.
„Verzeiht! Ihr habt recht! Doch ich bin froh, dass ich mit dem Leben davongekommen bin. Wie versprochen, bringe ich Euch Heilung“, antwortete der Händler und verneigte sich tief. Zum ersten Mal erblickte der Händler die große Warze des Königs, übergab die Eierschale mit den Tropfen und sagte: „Trinkt in einem Zuge und Eure Pein hat ein Ende!“
Der König tat wie ihm geheißen und von diesem Moment an war das Übel verschwunden wie nie dagewesen. Überglücklich nahm Mahendra den Mann in seine Arme und fragte mit Tränen in den Augen: „Womit kann ich dich belohnen?“
„Gebt mir einen Wagen, dazu ein starkes Pferd und meinem alten, schwachen Gaul das Gnadenbrot. Mehr verlange ich nicht. Auf mich wartet eine kleine Freundin, der ich alles zu verdanken habe. Ach, wenn sie doch meine Braut sein könnte, so sehr ist sie mir ans Herz gewachsen! Euch, König Mahendra, wünsche ich bald eine Königin an Eurer Seite und viele Prinzlein.“
Der König nickte zufrieden und sagte: „Sollte du jemals wieder in meine Stadt kommen, würde ich mich freuen, wenn du mich besuchen würdest. Du sollst mir willkommen sein wie ein guter Freund!“

Der fahrende Händler bekam, was er sich wünschte. Doch auf dem Kutschbock saß nicht sein Huhn sondern eine liebevoll dreinblickende, junge Frau. Der Mann war so verblüfft, dass er kaum ein Wort hervorbrachte. Sie streckte ihm die Arme entgegen: „Ich bin Anna! Komm, mein Lieber! Du hast mich mit deinem Wunsche aus meinem Dasein als Huhn erlöst. Schon vielen bin ich nachgelaufen, doch wurde ich immer nur als dummes Huhn verspottet und verjagt. Du hast mich mit dir genommen. An deiner Seite will ich nun leben und alt werden, wenn du es auch willst.“
Der Händler konnte so viel Glück kaum fassen, nahm seine Braut in die Arme, küsste sie und wollte gar nicht wissen, warum sie verzaubert wurde.
Beide verließen Königsstadt. Nur einmal noch blickten sie sich um. Das Schloss von König Mahendra schien aus der Ferne wie ein Spielzeug, jedoch erhaben schön.

 
Quelle: Marianne Schaefer

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