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Märchenbasar

Die Kraft der Liebe

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Vor langer Zeit herrschte der mächtige Zauberer Azrael über ein gewaltiges Reich. Es war ein finsteres Land, das er regierte, denn Azrael war ein grausamer Tyrann, dessen Gier keine Grenzen kannte. Während er selbst in Prunk und Überfluss schwelgte, litt sein Volk bittere Not. Die Furcht vor Azrael wurzelte tief in den Herzen der Menschen, denn niemand, auch keiner von den ganz Alten, konnte sich an die Zeit vor des Magiers Schreckensherrschaft erinnern. Dieser litt jedoch nicht etwa an der Gebrechlichkeit des Alters. Trotz seiner ungezählten Jahre strotzte Azrael vor jugendlicher Schönheit und Stärke, denn er wusste um das Geheimnis des ewigen Lebens. In einem dunklen Ritual, das er zu jedem seiner Geburtstage vollzog, ergötzte er sich am Blut einer Jungfrau, dem Quell seiner Unsterblichkeit.

Wenn der Tag, an dem Azraels Geburt sich jährte, wieder einmal bevorstand, ermahnten die besorgten Eltern ihre Töchter, das Haus nicht zu verlassen. Und doch verschwand in jedem Jahr wieder ein Mädchen, das die Warnungen der Eltern aus Übermut in den Wind geschlagen hatte. So geschah es denn auch, dass ein zartes, junges Ding, das wegen seiner roten Lippen von allen nur Kirschmund gerufen wurde, in des Zauberers Fänge geriet. Azrael verschleppte seine Gefangene in eine verborgene Höhle, wo er sie an den blanken Felsen kettete. Drei Tage und Nächte sollte sie nur ein wenig Wasser bekommen, ansonsten aber ohne Nahrung auf den sicheren Tod warten, denn das Jungfrauenblut war reiner, der Zauber wirkungsvoller, wenn das Opfer zuvor gefastet hatte.

Nicht lange nachdem der Magier das Mädchen in der Höhle zurückgelassen hatte, folgte der Hirtenjunge Jared ganz in der Nähe einem entlaufenen Zicklein. Das Tier war die Felsen hinaufgeklettert und hatte sich verstiegen, so dass Jared nichts weiter übrig blieb, als seine Herde im Stich zu lassen und dem jämmerlich blökenden Ziegenkind zu Hilfe zu eilen. Doch gerade als er das Tier auf den Arm nehmen wollte, sprang es davon und verschwand hinter einer Felsnase. Leise fluchend kletterte Jared seinem Sorgenkind nach und entdeckte so die verstecke Höhle, in der Kirschmund gefangengehalten wurde. Angestrengt lauschte er in den finsteren Schlund. Er hörte das angstvolle Meckern des Zickleins, doch tief aus dem Inneren des Felsens vernahm er noch ein weiteres Geräusch, das wie das Weinen eines Menschen klang. Geschwind riss Jared einen großen Fetzen aus seinem Hemd, den er um das Ende seines Hirtenstabs wickelte. Mithilfe des Feuersteins, den er stets bei sich trug, entzündete er den Stoff.

Das Gestein im Inneren der Grotte schimmerte feucht im Schein der behelfsmäßigen Fackel. Ein wenig beklommen folgte Jared dem engen Schacht in den Berg hinein. Bereits nach wenigen Schritten stieß er auf das Zicklein, das ein erleichtert klingendes Meckern ausstieß und von nun an nicht mehr von Jareds Seite wich. Je weiter sie vorankamen, umso deutlicher hörte Jared den seltsamen Laut. Da rief er mit lauter Stimme: „Wer ist dort?!“ Erschrocken fuhr er zusammen, als seine Worte von den Wänden widerhallten, doch sobald das Echo verklungen war, hörte er Kirschmund schluchzen: „So helft mir doch!“ Hastig trieb Jared die Ziege vor sich her, bis sich der Stollen hinter einer Biegung zu einer kleinen Kammer weitete, deren Wände in den vielfältigsten Farben leuchteten. Staunend sah Jared, dass der karge Boden im hinteren Teil der Kammer mit Edelsteinen bedeckt war, die im Fackelschein erstrahlten und den Felsen in ein buntes Licht tauchten.

Dann erst bemerkte er das Mädchen, das sich eng an den Stein kauerte. „Hab keine Angst“, flüsterte Jared, von Kirschmunds makelloser Schönheit und der Furcht in ihrem Blick gleichermaßen tief berührt. Die schweren Eisen, die Kirschmunds Handgelenke umschlossen, ließen sie in Jareds Augen noch zerbrechlicher wirken. Als er sich fragte, wer ihr dies angetan haben mochte, verspürte er einen unbändigen Zorn. Entschlossen rammte er das untere Ende seiner Fackel in eine Felsspalte, um mit bloßen Händen an den Fesseln zu zerren. Er glaubte, seine Wut müsse ihm übermenschliche Kräfte verleihen, doch so sehr er sich auch abmühte, es gelang ihm nicht, die Ketten aus dem Stein zu ziehen oder sie auch nur ein wenig zu lockern. Auch die Schellen um Kirschmunds Gelenke saßen fest. Entkräftet sank er schließlich neben Kirschmund auf den kalten Steinboden. Sanft hielt er sie im Arm, während er mit wachsendem Entsetzen ihrer Geschichte lauschte. Als er jedoch hörte, dass der Zauberer das Mädchen nicht vor der Nacht des übernächsten Tages töten würde, fiel ihm ein Stein vom Herzen. „Ich werde Hilfe holen und dich befreien!“, versprach er voll Zuversicht.
„Doch heute nicht mehr!“, mahnte Kirschmund. „Es muss schon spät sein. Azrael wird wiederkommen heute Nacht. Du musst nun gehen, denn du hast seinen Zauberkräften nichts entgegenzusetzen!“ Jared wusste, dass sie recht hatte, so schwer es ihm auch fiel, das Mädchen allein zu lassen. Wenn Azrael ihn hier fand, würde dies für sie beide den Tod bedeuten. Die Fackel war inzwischen beinahe heruntergebrannt, die Herde seit Stunden unbehütet. So verabschiedete er sich schweren Herzens und pfiff das Zicklein herbei, um den Rückweg anzutreten.

Die Ziegenherde graste friedlich, wo Jared sie zurückgelassen hatte. Jared beeilte sich, die Tiere nach Hause zu treiben. Im Dorf angekommen, sprach er sogleich jeden an, den er kannte, und bat um Hilfe für das Mädchen. Doch wen er auch fragte, niemand war bereit, ihn am folgenden Tag zur Höhle zu begleiten, um Kirschmund zu befreien. Zu groß war die Angst der Menschen vor Azraels Zorn. Das Mädchen sei verloren, sagten sie und versuchten, Jared von seinem waghalsigen Vorhaben abzubringen. Einzig der Schmied, der den Mut des Jungen bewunderte, unterstützte Jared, indem er ihm Hammer und Meißel borgte. Doch auch er schüttelte zweifelnd den Kopf, als er Jared die Werkzeuge übergab.

Als die Nacht sich wie ein schwarzer Schleier über das Land legte und es still wurde in den Behausungen der Menschen, machte Azrael sich auf, um nach seiner Gefangenen zu sehen. Kirschmund zitterte vor Angst in ihren Fesseln, als der Magier seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr brachte und hämisch flüsterte: „Bald wird es mir gehören, dein frisches, rotes Blut!“ Langsam ließ er einen spitz zulaufenden Fingernagel über Kirschmunds Kehle wandern. Als seine eiskalten Fingerkuppen ihre Haut berührten, verdunkelte das Grauen Kirschmunds Sinne, und sie sank in eine tiefe Ohnmacht.

Sie erwachte von Jareds Hand, die zärtlich ihr Gesicht streichelte. Wieder und wieder musste Jared ihr versichern, dass der Magier fort war. Schließlich beruhigte sie sich ein wenig, sodass Jared versuchen konnte, ihre Fesseln mit dem mitgebrachten Gerät zu lösen. Doch Azrael hatte einen Zauber in die Ketten geschmiedet, gegen den Hammer und Meißel nichts ausrichten konnten. So blieb Jared nichts weiter übrig, als Kirschmund am Abend abermals ihrem Schicksal zu überlassen und ins Dorf zurückzukehren.

Er hatte seine kleine Hütte fast erreicht, da bemerkte er eine magere Gestalt, die am Wegesrand kauerte. Als er näher kam, schlug sie die Kapuze ihres Umhangs zurück und zeigte ihr runzliges Gesicht. „Bitte, junger Freund, lasst eine arme, alte Frau nicht Hungers sterben“, greinte sie und streckte eine knochige Hand nach ihm aus, „ein Kanten altes Brot und ein Becher Wasser, um mehr bitte ich Euch nicht!“ Jared brachte es trotz seines Kummers nicht übers Herz, die Alte abzuweisen, und so half er ihr auf die Beine und nahm sie mit in seine bescheidene Behausung.

„Greift zu!“, forderte er sie auf, nachdem er den roh gezimmerten Tisch mit Brot, würzigem Ziegenkäse und einem Krug frischen Wassers gedeckt hatte. Das ließ sich die Bettlerin nicht zweimal sagen. Gierig schlang sie die Speisen in sich hinein. Als ihr Hunger schließlich gestillt war, lehnte sie sich mit einem wohligen Seufzen zurück. Aus weisen, klaren Augen, die nicht recht zu ihrem gebrechlichen Körper passen wollten, blickte sie Jared an. „Sagt, junger Freund, was bedrückt Euch so, dass ihr angesichts dieser Köstlichkeiten keinen Appetit verspürt?“ Da berichtete Jared der Alten von seiner Not. „Das ist wirklich ein schlimmes Elend“, meinte sie mitfühlend, „doch verzagt nicht, junger Freund. Wenn die Jungfrau ebenso für Euch empfindet wie Ihr für sie, dann könnt ihr den Schurken Azrael vielleicht ein für allemal besiegen. Azrael wählt seine Opfer mit Bedacht, müsst Ihr wissen. Nur eine Jungfrau, die ihr Herz noch nicht verschenkt hat, kann für ihn von Nutzen sein. Gegen die Liebe kann auch der mächtigste Zauber nichts ausrichten. Wenn ihr Herz Euch gehört, ist ihr Blut für Azrael verdorben.“

Ehe Jared die Alte fragen konnte, woher sie dieses Wissen hatte, erhob sie sich mit erstaunlicher Behändigkeit und eilte zur Tür. „Ich muss nun gehen. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Bleibt stark! Meine besten Wünsche sollen Euch begleiten.“ Hastig sprang Jared auf, um der Bettlerin ins Freie zu folgen. Doch als er die Tür erreicht hatte, fand er nur noch ihren fadenscheinigen Umhang auf der Schwelle vor. Von der Alten selbst war nichts mehr zu sehen. In weiter Ferne jedoch erspähte er eine winzige Gestalt im grünen Kleid der Waldelfen, die flinken Fußes dem Schutz der Bäume entgegenlief. Als sie den Waldesrand erreicht hatte, wandte sie sich noch einmal um und winkte Jared zu. Bald darauf hatte der Forst sie verschluckt.

„Nur ein einziger Tag noch, und ich werde deinen roten, reinen Lebenssaft schmecken!“, zischte Azrael in dieser Nacht. Kirschmund weinte bitterlich und bettelte, er möge sie doch am Leben lassen, doch Azrael kannte kein Mitleid.
Als Jared am nächsten Morgen kam, waren Kirschmunds Augen trüb vor Sehnsucht und Verzweiflung. „Ich will noch nicht sterben, Jared!“, hauchte sie, „Noch nie habe ich für jemanden empfunden wie für dich. Hätte ich ein Leben, dann wärest du derjenige, mit dem ich es teilen wollte.“ Als Jared diese Worte vernahm, schöpfte er neuen Mut. Dennoch wagte er es nicht, seine Hoffnung mit dem geliebten Mädchen zu teilen, da er nicht sicher sein konnte, ob sich Kirschmunds Zuneigung als stark genug erweisen würde, dem Zauber zu trotzen.

Und so legte er sich zu ihr, um ihr in den letzten, flüchtigen Stunden, die ihnen womöglich blieben, so nah zu sein, wie es zwei Menschen nur sein können. Ganz fest hielt er sie in seinen Armen und küsste die salzigen Tränen von ihren Wangen. „Bitte geh nun!“, drängte Kirschmund schließlich mit feuchten Augen, „er wird bald hier sein!“ Doch Jared wollte nichts davon hören.
„Wenn er dich töten will, dann muss er auch mich töten. Ich bleibe bei dir!“ Kirschmund flehte ihn an, sein Leben nicht sinnlos wegzuwerfen, doch er versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss.

Es dauerte nicht lange, bis die schweren Schritte des Magiers sich näherten. Kirschmund wimmerte leise, und auch Jared wurde bang zumute. Azrael stürmte in die Kammer und gab ein tiefes Knurren von sich, als er Jared erblickte. „Erstarre!“ Ein Fingerzeig des Zauberers, und Jared wurde ans entgegengesetzte Ende der Kammer geschleudert, wo er gelähmt liegen blieb. „Um dich kümmere ich mich später! Mich dürstet nach rotem, frischem Blut!“ Hilflos musste Jared mit ansehen, wie Azrael seine gewaltigen Zähne bleckte und sich auf das Mädchen stürzte. Doch kaum hatten seine Fänge Kirschmunds Haut verletzt, da fuhr er zurück. Bodenloses Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen, während ein einzelner, tiefroter Blutstropfen aus seinem Mundwinkel rann. „Un…rein!“, stammelte Azrael, bevor er zusammenbrach. Er wälzte sich noch kurze Zeit am Boden, als habe er große Schmerzen, dann lag er plötzlich still.

Mit Azraels Tod wich die Starre aus Jareds Gliedern. Gleichzeitig fielen mit lautem Klirren die Ketten von der Wand und Kirschmund war befreit. Mit großem Getöse lösten sich plötzlich Steinlawinen von der Decke. Hastig griffen beide nach den größten am Boden liegenden Edelsteinen und verließen so rasch wie möglich die zerberstende Grotte. Gemeinsam liefen sie dem Morgenlicht entgegen.

© Jeannine

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