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Märchenbasar

Die Osagen oder der Stamm der einer Schnecke entsprang

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Nahe am Ufer des Missouri lebte einst eine junge Schnecke sorgenfrei und mühelos. Sie amüsierte sich köstlich nach Schneckenart, streckte ihre Fühlhörner so weit aus, wie sie konnte, und labte sich reichlich an stärkender Nahrung, die ringsum im Überfluß vorhanden war. Plötzlich aber kam über Nacht eine starke Überschwemmung, und das arme Tierlein mußte schnell, um nicht zu ersaufen, auf einen nahe liegenden Baumstamm klettern, mit dem es nun weit fortgetrieben wurde.
Als sich nach drei Tagen das Wasser so ziemlich wieder verlaufen hatte, blieb die Unglückliche in Schlamm und Dreck stecken, und zwar so tief, daß sie sich gar nicht bewegen konnte. Dann kam auch noch die Sonne und trocknete sie mit ihren brennenden Strahlen so fest ein, daß sie alle Hoffnung aufgab und sich in großer Resignation mit dem Gedanken an den Hungertod vertraut machte.
Als sie so eine Weile besinnungslos dagelegen hatte, öffnete sich auf einmal auf geheimnisvolle Art ihr Häuschen; sie fühlte ihre Lebenskräfte wieder erwachen, ihr Kopf wuchs merkwürdig schnell in die Höhe, und unten bildeten sich zwei Beine daran. An beiden Seiten erschienen Arme mit vollständigen Gelenken und Fingern, und so war in wenigen Augenblicken ein schöner Jüngling fix und fertig.
Anfangs war er etwas unbeholfener Natur und hatte sehr unklare Gedanken; doch entwickelte er sich bald unter dem Einfluß der Sonne so weit, daß er sich zur Reise in seine Heimat vorbereiten konnte. Aber er war nackt und in vielen Dingen unwissend, auch fühlte er unbeschreiblichen Hunger in seinem Magen. Er sah eine Masse fetter Tiere und Vögel an sich vorüberziehen, wußte aber nicht, wie er sie töten sollte. Da wurde er denn abermals sterbenstraurig und legte sich, von Anstrengungen und Entbehrungen zu Tode ermattet, nieder und wünschte sich wieder in seinen ehemaligen Schneckenzustand zurück, in dem er doch wenigstens die Kunst verstand, sich ernähren zu können.
Als er sich nun wieder mit dem Gedanken an den baldigen Tod zu befreunden suchte, kam es ihm vor, als höre er jemand neben sich rufen. Er wandte sich um und sah den Großen Geist vor sich auf einem ganz weißen Pferd sitzen. Seine Augen leuchteten wie blendende Sterne, und sein langes Haar bestand aus lauter Sonnenstrahlen. Der Schneckenmann zitterte am ganzen Leib und wagte kaum seine Augen aufzuschlagen.
»Wascha«, sagte der Große Geist in freundlichem Ton, »mein Sohn, warum fürchtest du dich so sehr?«
»Ach«, erwiderte er, »es wird mir schwer, meinen Schöpfer anzusehen; auch bin ich elend und hungrig, denn seitdem mich die Wasserflut forttrieb, habe ich noch keinen Bissen zu mir genommen.«
Da hob der Große Geist seine Hand, zeigte ihm Pfeil und Bogen und winkte ihm, auf ihn zu sehen. In kurzer Entfernung saß ein großer Vogel auf einem Baum, den schoß er herunter, und dann erschien ein fetter Hirsch, den er mit einem zweiten Pfeil erlegte. »Das sei in Zukunft deine Nahrung«, sagte er darauf und gab ihm jene Waffen. Auch lehrte er ihn, wie man den Tieren das Fell abzieht und sich Kleider daraus macht, und er gab ihm Feuer, damit er sich das Fleisch braten konnte. Zum Abschied hing er ihm eine glänzende Wampumschnur um den Hals, wodurch er ihn zum König über alle Tiere machte. Darauf verschwand der Große Geist.
Nachdem sich Wascha wieder gründlich restauriert hatte, setzte er seine Reise fort und kam an das Ufer eines großen Flusses. Als er sich dort eine Weile hinsetzte, um ein wenig auszuruhen, kam ein großer Biber aus dem Wasser und sagte: »Wer bist du, der sich erfrecht, hierherzukommen, um mein Königreich zu zerstören?«
»Ich bin ein Mensch und war ehemals eine unglückliche Schnecke«, antwortete Wascha. »Aber wer bist du denn eigentlich?«
»Ich bin der König aller Biber und führe mein Volk stromaufwärts und stromabwärts, und dieser Fluß hier bildet mein Königreich.«
»Dieses Reich muß ich mit dir teilen«, erwiderte Wascha, »denn der Große Geist hat mich zum Beherrscher aller Tiere, Vögel und Fische gemacht und mir auch Mittel und Kraft verliehen, meinen Rechten Geltung zu verschaffen.« Dabei deutete er auf Pfeil, Bogen und Wampum.
»O komm her!« sagte darauf der Biber in äußerst mildem Ton. »Ich glaub‘ es ja gerne, daß wir Brüder sind; wir müssen uns daher näher kennenlernen. Komm mit mir in meine Wohnung, und erhole dich von deiner langen Reise.«
Wascha folgte der freundlichen Einladung des Biberchiefs und ging mit ihm in seine Hütte. Diese bestand in einem geräumigen, fein ausstaffierten Zimmer, dessen Boden mit fein geflochtenen Matten belegt war. Als sie sich niedergesetzt hatten, befahl der Chief seiner Frau und seiner Tochter, dem Gast ein recht nahrhaftes Mahl zu bereiten.
Während nun wacker gekocht und gebraten wurde, sann der alte Biber hin und her, wie er mit Wascha einen dauernden Freundschaftsbund schließen könne, und er erzählte ihm allerlei vom großen Fleiß seines Volkes, wie seine Untertanen mit ihren Zähnen die dicksten Bäume fällten, große Dämme bauten usw. Darauf erschienen Mutter und Tochter mit saftigem Weidenholz und köstlichem Sassafras, und alle setzten sich nieder und aßen.
Wascha aß jedoch sehr wenig, denn die Biberkost mundete ihm nicht recht. Desto mehr Gefallen fand er aber an der schönen, reinlichen und folgsamen Tochter, die ihm gerade gegenüber saß. Beide gewannen sich lieb, und zur größten Freude des alten Biberkönigs wünschten sie sich, zu heiraten. Darauf wurde das großartigste Fest, das je das Biberreich gesehen hatte, veranstaltet, und alle Biber der ganzen Welt wurden dazu eingeladen.
Als Wascha und die Bibertochter eine Zeitlang Mann und Weib gewesen waren, wurden sie, wie alte Medizinmänner erzählen, die Stammeltern der Osagen.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas

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