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Die schöne Prinzessin Wen Cheng und der Gesandte aus Lhasa

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Vor mehr als tausend Jahren, es war zur Zeit der Dynastie, lebte im Kaiserhof im Reich der Mitte Prinzessin Wen Cheng, die sich gleichermaßen durch Schönheit und Vernunft auszeichnete. Als sie das heiratsfähige Alter erreicht hatte, begehrten alle Fürsten und Könige sie zur Frau. Der Kaiser fühlte sich sehr geehrt, daß viele Gesandte in der Hauptstadt Changan erschienen, einzig und allein, um im Auftrage ihrer Herrscher um die Hand der Prinzessin anzuhalten.
Im weiten Hochland Tibets fügte um diese Zeit der außerordentliche fähige Srongtsan viele widerstreitende Hirtenstämme, die sich seit eh und je befehdeten, zu einem großen Reich zusammen und stellte sich als König an ihre Spitze. Er besaß großes staatsmännisches Talent, kannte das Volk seines Landes und die Nachbarvölker, und außerdem konnte er stolz sein auf seine tüchtigen Ratgeber, ohne die auch der klügste Herrscher nicht reagieren kann. Es nimmt daher nicht wunder, daß er in der fernen Stadt Lhasa von der begehrenswerten chinesischen Prinzessin Kunde erhielt. Er beauftragte seinen klügsten Ratgeber, Lu dong zan, die kaiserliche Zustimmung für die Ehe mit der Prinzessin zu erwirken. Als Lu dong zan in Changan ankam, traf er in der kaiserlichen Diplomatenherberge die Abgesandten von sechs anderen Königen, die in der gleichen Mission erschienen waren. Jeder versuchte, seine Sache so gut wie möglich zu verfechten, um nicht das Los der Vorgänger, die alle mit abschlägigem Bescheid die Rückreise angetreten hatten, teilen zu müssen. So schwer auch dem Kaiser eine Entscheidung fiel, aber am allerwenigsten wäre es ihm in den Sinn gekommen, seiner Tochter zuzumuten, vom kultivierten Changan mit den feinen Lebensformen in das weit entfernte und rauhe Tibet zu übersiedeln. In dieser heiklen Lage rieten die Minister, keinen der Gesandten abzuweisen, sondern die Prinzessin demjenigen zu geben, dessen Vertreter sich am klügsten erweise. Der Kaiser ließ seinen Gästen fünfhundert Stuten und fünfhundert Fohlen vorführen, sodann wandte er sich an die Gesandten: „Ihre Regenten sind mir alle wert und teuer, wie mein eigen Hand und Arm. Hätte ich sieben Töchter, würde ich mit jedem von ihnen gerne in verwandtschaftliche Beziehung treten. Aber zu meinem eigenen Leidwesen habe ich nur eine einzige Tochter. Der Gerechtigkeit willen soll sie dem gehören, dessen Gesandter meine Aufgabe richtig löst. Ihr seht, verehrte Gesandte, vor euch tummeln sich fünfhundert Stuten und fünfhundert Fohlen. Wer ist in der Lage zu erkennen , welche Muttertiere und Fohlen zusammengehören?“

Da standen die Gesandten vor einem großen Rätsel. Aus Höflichkeit ließ der Tibeter seinen Kollegen den Vortritt. Der Reihe nach gingen sie in das Pferderudel und versuchten, die Fohlen zu den Muttertieren zu führen, was jedoch keinem der sechs Gesandten gelang. Denn einmal stellten sich die Fohlen bockig, und zum anderen schlugen die Stuten aus, oder sie stiegen mit den Vorderbeinen hoch und drohten die Eindringlinge niederzuwerfen. Dann war die Reihe an Lu dong zan. Als Tibeter verstand er es mit Pferden umzugehen, kannte ihr Wesen und ihre Eigenheiten. Er packte daher die Sache ganz anders an. Auf seinen Befehl schütteten die Pferdeknechte Futter aus, und nachdem die Stuten ihren Hunger gestillt hatten, lockten sie mit hellem Gewieher ihre Fohlen zum Säugen herbei. Mit einem Mal löste sich das Knäuel der spielenden Fohlen, ein jedes sprang zu seiner Mutter, ließ sich kosen und schlug übermütig mit den Läufen nach allen Seiten aus, bis es mit gesenktem Kopf an das mütterliche Euter stieß und behaglich schmatzte. Nun sah ein jeder, welches Fohlen zu welcher Mutter gehörte, ohne daß Lu dong zan auch nur einen Finger gekrümmt hatte. Der Kaiser war überrascht, daß sich der Gesandte des tibetischen Königs durch so großen Verstand auszeichnete. Aber es wiederstrebte ihm dennoch, seine geliebte Tochter einem Tibeter anzuvertrauen: „Einem klugen Gesandten will ich meine Anerkennung nicht versagen. Wenn auch mein Herz tief gerührt ist von soviel Scharfsinn, sollen sich alle, der Gerechtigkeit wegen, an einer zweiten Aufgabe versuchen!“ Er zeigte den Abgesandten einen kunstvoll gearbeiteten Smaragd. „Dieses Kleinod wurde von geschickter Hand verschlungen durchbohrt. Noch nie gelang es, einen Faden durch das Loch zu ziehen. Wer es zustande bringt. Hat gute Aussicht, über die Heiratsangelegenheit zu verhandeln!“ Wieder ließ der Tibeter seinen Kollegen den Vortritt. Die Sechs mühten sich einen ganzen Vormittag im Audienzsaal mit dem lächerlichen Faden ab. Sie kamen zu keinem anderen Resultat, als daß ihnen vor Aufregung der Schweiß den Rücken hinablief, bis sie sich schließlich geschlagen geben mußten. Lu dong zan wandte einen kleinen Kniff an. Er fing eine kleine Ameise, heftete ihr einen Seidenfaden an den Leib und setzte sie in das Bohrloch des Smaragds. An den Ausgang des Loches schmierte er etwas Honig. Die Ameise zwängte sich, zum süßen Duft strebend, durch die Windungen und kam auf der anderen Seite des Steins bald heraus. Lu dong zan nahm ihr den Faden ab, verknotete beide Enden und überreichte dem Kaiser den schimmernden Edelstein. Den Kaiser verwunderte es sehr, auch bei dieser Aufgabe den tibetischen Gesandten als Sieger zu sehen. Er sprach zu seinen Gästen: „Damit sich jeder von unserer Gerechtigkeit überzeugen kann, soll noch ein dritter Wettstreit ausgetragen werden!“ Er winkte einen Zimmermann herbei, der eine lange Holzrolle heranschleppte, die völlig ebenmäßig und glattpoliert war. „Wer von euch sagen kann, welches Ende dieses Holzstückes ursprünglich zur Wurzel und welches zur Spitze zeigte, der hat beste Aussichten, guten Bescheid in der Heiratsangelegenheit zu erhalten!“ Mit Eifer untersuchten die Sechs Gesandten die Holzrolle nach allen Seiten, maßen und verglichen, zählten und rechneten, ohne jedoch ein Ergebnis zu erzielen. Lu dong zan, der aus den Bergen stammte, kannte sich in dem Wuchs und in den Eigenheiten des Holzes aus. Er warf die Rolle in den Wallgraben, wo das Wasser ruhig und fast unmerklich dahinfloß. Erstaunt sahen die Zuschauer, wie das Holz, gleichsam durch Zauberhand geführt, eine gleichbleibende Lage einnahm und mit dem leichten oberen Ende nach vorn mit dem schweren unteren Ende nach hinten zeigte.

Im Herzen des Kaisers stritten Achtung vor der Klugheit des tibetischen Gesandten mit der Angst um das Schicksal seiner Tochter. Er wandte sich daher erneut an seine Minister, die die Befürchtungen des Herrschers teilten. Sie suchten nach neuen Hindernissen, um den Weg zur Prinzessin zu verlegen. „Eure Majestät sollten dreihundert schöne Jungfrauen genauso kleiden und schminken lassen wie die Prinzessin“, meinten einige. „Dann könnt Ihr unbesorgt sein und werdet Eure Tochter nicht verlieren, denn keinem der Gesandten dürfte es gelingen, die Richtige herauszufinden!“ Erneut bat der Kaiser seine Gäste zur Audienz: „Eine letzte Prüfung soll den Abgesandten der hohen Herrscher mein Streben nach vollkommener Gerechtigkeit vor Augen führen. Im Palast haben sich dreihundert Jungfrauen versammelt. Wer von den Abgesandten die Prinzessin herausfindet, der erweist sich unwiderruflich als der Würdigste, die Heiratsangelegenheit mit mir zu verhandeln!“ Die Sechs Gesandten verfehlten einer nach dem anderen das Ziel, weil sie der irrigen Ansicht waren, die schönste der dreihundert Jungfrauen müsse die Prinzessin sein. Auch Lu dong zan sah sich diesmal auf eine harte Probe gestellt, wußte er doch nicht das geringste über das Aussehen, über den Wuchs und über die Eigenheiten der Prinzessin, das ihm hätte die Suche erleichtern könnte. Aber er setzte alles daran, seinen König würdig zu vertreten und den ehrenvollen Auftrag zu erfüllen. Die einzige Möglichkeit erschien ihm darin, recht viele Erkundigungen über die Prinzessin einzuholen. So war er von früh bis spät auf den Beinen, um mit allen Leuten zu sprechen, von denen er annahm, daß sie irgendwie Einblick in das geheimnisvolle Hofleben hatten, wie Kutscher, Gemüselieferanten und Schneider. Er geriet auch an eine alte Wäscherin, die ihm durch ihre welken Lippen zuflüsterte: „Hoher Herr, was stellt Ihr für seltsame Fragen! Kein Mensch wagt solche Dinge auszuplaudern. Der kaiserliche Wahrsager kommt nämlich allen Verrätern auf die Spur, und dann ist es um uns geschehen!“ Lu dong zan spürte aus diesen Worten, daß von der Alten mehr zu erfahren sei, wenn man die Angst vor dem Wahrsager ihr nähme. “Altes Mütterchen, da kannst du ganz beruhigt sein! Ich weiß ein probates Mittel, das selbst den erfahrensten Orakelkünstler in die Irre führt!“

Was der Gesandte des Tibetkönigs nun begann, war der alten Wäscherin rätselhaft. Er legte drei große Steinplatten übereinander, stellte einen eisernen Kessel darauf, füllte ihn mit Wasser und setzte einen Holzschemel hinein. Die verwunderte Alte erhielt eine Kupfermünze und wartete gespannt auf die Worte des hohen Herrn. „Liebes Mütterchen, wenn du dich auf den Schemel setzt und diese Münze in den Mund legst, wird der Wahrsager sprechen: „Die Kunde über die Prinzessin wurde von einem Menschen verbreitet, der auf einem hohen Berg steht; der Berg schwimmt in einem Meer von Eisen, das von drei Silberbergen umgeben ist. Er spricht mit kupferner Stimme durch silberne Zähne! Siehst du, niemand wird jemals wissen, wo die Silberberge liegen und welcher Himmelsgeist eine Kupferzunge und Silberzähne hat. Oder man wird dich letzten Endes gar für einen begnadeten Schützling der Götter halten! Warum solltest du mir jetzt nicht alles erzählen, was du über die Prinzessin weißt?“ Da faßte sich die alte Wäscherin ein Herz und sagte: „Hoher Herr! Wenn Ihr die Prinzessin sucht, dürft Ihr Euch nicht verleiten lassen, die schönste aller Jungfrauen auszuwählen. Freilich sieht die Prinzessin nicht übel aus, aber die Leute übertreiben gerne, nur um dem Kaiser zu schmeicheln. Die Prinzessin wird auch nicht am Anfang oder am Ende der Mädchenreihe, sondern in der Mitte stehen. Und dann ist sie daran erkenntlich, daß immerzu Schmetterlinge in ihrer Nähe flattern. Sie reibt nämlich seit Kindheit ein Duftwasser ins Haar, das die Falter anlockt, und sie liebt die kleinen Gaukler über alle Maßen. Dieses Duftwasser wurde extra für die Prinzessin aus einem fernen Land herbeigeschafft, so daß es kein anderes Mädchen haben kann. Ihr müßt nur darauf achten, welche Jungfrau von Schmetterlingen umflattert wird. Das kann dann nur die Prinzessin sein.
Solches erzählen die Palastdiener. Von ihnen hat es der Koch erfahren, und weil ich dem Koch die Wäsche wasche, hat er es mir einmal verraten. Das ist alles, was ich weiß, hoher Herr! Ein gütiges Geschick sei mit Euch!“ Lu dong zan dankte der Wäscherin mit bewegten Worten, dann meldete er sich zur Audienz. Er ließ sich Zeit mit der Suche, bis der Mittag heran war.

Die Schmetterlinge spielten in der Sonne, und tatsächlich umtanzten sie immerzu eine der vielen Jungfrauen. Er ging auf sie zu und erkannte sie als Prinzessin. Da gab es ein erstauntes Raunen der Höflinge und den anderen sechs Gesandten. Misstrauisch sagte sich der Kaiser, daß dies nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Er rief den Hoforakelmeister, der aber nur zusammenhangloses Zeug zu sagen wußte. So blieb es ewig ein Geheimnis, aus welcher Quelle der tibetische Gesandte sein Wissen hatte. Endlich blieb dem Kaiser nichts anders mehr übrig, als der Werbung des Tibeterkönigs zuzustimmen und seinem Abgesandten eine Audienz bei der Prinzessin zu gewähren. „Edle Prinzessin!“, begann Lu dong zan seine Rede, „der kaiserlichen Majestät sei tausend Dank, daß er in die Heirat der königlichen Hoheit von Tibet mit Euch die kaiserliche Majestät mit vielen kostbaren Hochzeitsgeschenken ausstatten wird. Wenn ich mir dazu eine Bemerkung erlauben darf, so bitte ich Euch, weder Juwelen noch Zierat mitzuführen, denn davon wollen die Schatzkammern des Königs von Tibet schier bersten. Von großem Nutzen dagegen wären die Samen der fünf Getreidearten, wie sie die Bauern im Reich der Mitte anbauen, Pflüge und auch Menschen die sich auf die handwerklichen Künste verstehen. Dann können wir Tibeter die Felder so bestellen wie die Bauern des Han – Volkes und wie sie zu einem besseren Leben gelangen. Brautgeschenke dieser Art wären uns Tibetern unendlich mehr wert als die größten Berge von Gold und Silber!“
Die verständige Prinzessin Wen Cheng hatte ein offenes Ohr für die Wünsche des tibetischen Gesandten. So wunderlich dem Kaiser dieses Anliegen wohl schien, er vermochte seine Tochter nicht davon abzubringen. Als der Brautzug mit der schön Wen Cheng und dem Gesandten aus Lhasa nach dem fernen Tibet aufbrach, zählte die staunende Volksmenge fünfhundert Pferdelasten mit den fünf Getreidearten, eintausend Pferdelasten mit Pflügen und einige hundert Handwerksmeister, ein prächtiges Gefolge für eine Kaiserstochter! Seitdem, so erzählen sich die Leute, wird in Tibet neben der Viehzucht auch Ackerbau betrieben. Seitdem blühte in den Städten Tibets das Handwerk auf, seitdem drehen sich an den Flussläufen die Wassermühlen, und seitdem kennt jeder den Gesandten des Königs Srongtsan gambo und die kluge Wen Cheng.

Märchen aus China

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