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Die Strafe der Hexe

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Eine Mutter hatte eine Tochter, welche Röschen hieß. Röschen war gut und fleißig und gehorchte der Mutter in allem, was sie ihr befahl. Eines Tages sagte die Mutter: »Röschen, nimm den Korb und schütte den Kehricht fort.« Röschen, gehorsam wie immer, ging, den Kehricht in ein Loch zu werfen. Sie versah es aber, und der Korb fiel gleicherweise in das Loch. Da fing sie an zu jammern, besann sich aber bei zeiten, daß in dem Loche die Hexe wohne, und so rief sie: »Hexe, gute Hexe, gib mir meinen Korb wieder!« Die Hexe antwortete: »Steig‘ du selbst herunter und hole ihn dir.« – »O nein«, sagte das Mädchen, »das thue ich nicht, denn du frissest mich!« – »Habe nur keine Furcht! Ich fresse dich nicht. Bei der Seele meiner Tochter Cola, ich fresse dich nicht!« – »Aber wie kann ich hinabkommen?« – »Setze nur einen Fuß da, den andern dorthin, so kommst du schon herab.« Das Mädchen trieb die Angst vor den Schelten der Mutter des verlorenen Korbes wegen, hinabzuklettern. Wie sie drunten war, umarmte die Hexe sie und streichelte sie und rief einmal über das andere: »Ei, wie schön bist du, mein Röschen! Wie lieb! Kannst mir auch mein Haus einmal kehren?« Das Mädchen war sogleich bereit, und die Hexe fragte: »Was findest du in meinem Hause?« Röschen antwortete: »O, nur ein wenig Staub und Pulver wie bei andern Menschen.« Als sie fertig war, sagte die Hexe: »Jetzt suche mir den Kopf ab. Was findest du?« – »Läuslein und Nißchen wie bei andern Menschen.« – Sagt die Hexe: »Jetzt säubere mir auch das Bett! Was findest du?« Und Röschen antwortet freundlich: »O, Wänzlein und Flöhlein wie bei andern Menschen.« Da sprach die Hexe: »Wie gut bist du, Röschen. Möge auf deiner Stirn ein Stern stehen, vor dessen Glanze alle die Augen niederschlagen müssen. Wie schön ist dein Häuptlein, auf ihm sollen Haare von gesponnenem Golde wachsen, und kämmst du dich, so fallen Perlen und Edelsteine von der einen und Korn und Weizen von der andern Seite herab.« Darauf wurde Röschen von ihr in eine Kammer geführt, die war voll alter und neuer Kleider. Die Alte nahm ein Paar schöne und ein Paar schmuzige lumpige Strümpfe und fragte: »Welche willst du? Die schönen oder die schmuzigen?« Das Mädchen antwortete: »Die schmuzigen!« – »Nun sollst du gerade die allerschönsten haben«, sagte die Hexe. So ging es mit dem Hemd, Röschen wählte das älteste und gröbste und bekam das allerfeinste. Und das Kleid, das ihr die Alte gab, war, trotzdem jene ein schlechtes gewollt, das allerneueste und allerschönste. Endlich war Röschen von Kopf bis zu Fuß bekleidet und sah so nett aus wie eine Puppe aus Deutschland; die Hexe gab ihr noch einen Beutel mit Geld, und sie durfte zu ihrer Mutter zurückkehren.
Wie die Mutter ihre Tochter so gar schön wiederkommen sah, schlug sie vor Verwunderung die Hände zusammen und wollte wissen, wie das zugegangen. Röschen erzählte ihr alles, und nun ward es auch in der Nachbarschaft bekannt. In der Nähe wohnte nämlich eine Gevatterin, die war neidisch auf Röschen’s Glück und neugierig, zu erfahren, woher ihr dasselbe gekommen; der beichtete Röschen’s Mutter alsbald die ganze Geschichte. Diese Gevatterin hatte eine Tochter, die war bös und dazu noch häßlich wie die Nacht; die nahm sie auf die Seite und sprach: »Weißt du denn, woher Röschen die schönen Sachen hat? Die hat ihr die Hexe gegeben. Nimm nur gleich den Kehricht, wirf ihn in das Loch und schleudere den Korb hinterher. Darauf rufe die Hexe, daß sie ihn dir wiedergebe, und was dann geschieht, wirst du schon sehen.« Jene that also, und wie der Korb drunten lag, rief sie: »Hexe, gib mir meinen Korb wieder!« – »Komm herab und hole ihn dir!« Sie stieg ohne weitere Umstände hinab und kam in das Haus der Hexe. Die gab ihr den Besen in die Hand und forderte sie auf zu kehren. Wie sie kehrte, fragte die Alte: »Was findest du?« Und das Mädchen antwortete schnippisch: »Dreck und Koth wie bei anderm Lumpengesindel.« – »Nun reinige mir den Kopf und sag‘ mir, was du findest.« Das Mädchen: »Läusegeschmeiß und Nissebrut wie bei anderm Lumpengesindel.« Zuletzt sagte die Hexe: »Jetzt säubere mir das Bett! Und was findest du?« – »Flohgeschmeiß und Wanzenbrut wie bei anderm Lumpengesindel«, antwortete das Mädchen. »Ei, wie häßlich bist du!« rief die Hexe. »Möge dir auf deiner Stirn ein greuliches Horn wachsen! Beim Kämmen aber sollen nur Koth und Schmuz aus deinen Haaren fallen.« Das war schlimm genug! Darauf führte sie die Hexe in die Kammer, wo die Kleider lagen, legte ihr die schönen und die schmuzigen Strümpfe vor und fragte sie, welche sie wolle? »Natürlich die guten«, sagte das Mädchen. »Nun sollst du gerade die schmuzigen haben.« So ging es mit dem Hemd, mit dem Rock und den andern Kleidern, bis das Mädchen wie eine schlechte Magd angekleidet war. Zuletzt gab ihr die Alte noch einen derben Backenstreich und rief: »Jetzt pack‘ dich nach Hause.«
Die Mutter hatte schon oben gewartet; wie sie aber das Unbild heraufsteigen sah, fiel sie vor Schrecken fast um. »Meine Tochter«, rief sie, »wie ging denn das zu?« Und die Tochter sagte: »Die Hexe hat mir’s angethan.« – »O die verdammte Hexe!« Sie lief zur Nachbarin im hellen Zorn und wollte der alle Schuld geben, wo doch alles nur Strafe für Neid und Bosheit war. Ihr Zanken und Schimpfen war jedoch umsonst: Röschen und ihre Mutter waren reich; sie blieb mitsammt der Tochter häßlich und arm.

[Italien: Waldemar Kaden: Unter den Olivenbäumen. Süditalienische Volksmärchen]

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