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Die vier kunstreichen Brüder

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Ein nicht reicher, aber wohlhabender Vater hatte vier Söhne, durchaus hübsche, aufgeweckte Bursche, die er zu versorgen trachtete, und eine noch hübschere sehr reiche Mündel, die jeder von diesen zu heirathen wünschte.
Da führte er einst die Söhne auf einen Kreuzweg und sagte zu ihnen: »Gehe jeder von euch einen von diesen vier Wegen, lerne ein Handwerk, komme nach einem Jahre wieder auf diesen Punkt, und wenn ihr wieder beisammen seid, so kommt zu mir. Der das grösste Meisterstück in seiner Kunst ablegt, der soll meine Mündel haben, jeder andere aber ein Drittheil meines Vermögens.«
Und so geschah es.
Der eine wurde ein Tischler, der andere ein Jäger, der dritte ein Dieb und der vierte ein Zauberer (mago).
Gerade nach einem Jahre fanden sich die vier Söhne wieder bei ihrem Vater ein, der, obgleich ihm das Handwerk der beiden letztern nicht sehr gefiel und ihm die Mündel unterdess geraubt worden war, die Prüfung der Söhne vorzunehmen begann.
»Wohlan«, sagte er zum Dieb, »hier auf dem Baume ist ein Amselnest. Die Mutter sitzt auf den Eiern; bist du im Stande die Eier zu stehlen, ohne dass dich die Mutter sieht?«
»Das ist sehr leicht«, antwortete dieser, stieg sachte auf den Baum, bohrte das Nest von unten an, so dass die Eier durchfielen, die Amsel aber im Glauben, die Eier unter sich zu haben, sitzen blieb.
Natürlich waren die Eier vom Falle zerbrochen. »Bist du so geschickt«, sprach der Vater hierauf zum Tischler, »die Eier wieder ganz zu machen?«
»Wenn Sie befehlen«, antwortete der Tischler, und flickte die Eier, dass sie wie neue aussahen.
»Wohlan«, sagt der Vater zum Jäger, »binnen kurzem kommt das Männchen, bist du so ein guter Schütze, den Amseln auf einen Schuss die beiden Schnäbel vom Kopfe wegzuschiessen?«
»Ohne Zweifel«, antwortete der Jäger, und als bald darauf das Männchen kam, liess er knallen und beide Amseln flogen ohne Schnabel vom Neste weg.
»Kinder!« sagte der Vater, »ihr seid brav in eurem Geschäfte, das muss ich sagen; jetzt aber habe ich eine schwere Aufgabe für dich«, fuhr er zum Zauberer gewandt fort: »Mir wurde während euerer Abwesenheit die Mündel geraubt, weisst du wo sie ist?«
»O ja«, erwiederte dieser, »sie ist so eben im Garten des mächtigen Fürsten Segeamoro und speist einen Pfirsich.«
»Das wäre eine Hauptaufgabe für dich«, sagte der Vater zum Diebe, »die Mündel diesem zu stehlen.«
»Das soll alsogleich geschehen«, sagte der Dieb, schlich sich in den Garten des Fürsten, ergriff sie und sprang mit ihr in eine Barke, die am Ufer des durchströmenden Flüsschens war. Vergebens war das Schreien und Laufen der fürstlichen Dienerschaft, den Dieb einzuholen; da liess der Gärtner einen grimmigen, zum Schutz des Gartens angeketteten Drachen los. In wenigen Augenblicken hatte der Drache die Barke eingeholt und schwebte wie ein zum Stosse bereiter Raubvogel über ihr; da knallte ein Schuss und tödtlich getroffen von des Jägers sicherer Kugel stürzt das Ungeheuer aus der Luft – leider gerade auf die Barke herab, die es durch seine Schwere zerschmetterte. Schon zappelten Dieb und Mündel dem Ertrinken nahe im Wasser, als sich der Tischler in den Fluss stürzt, in wenig Augenblicken die Barke ausbessert und Mündel und Bruder zu sich hereinzieht.
Da sprach der Vater hocherfreut: »Der Zauberer hat zwar die Mündel entdeckt, der Dieb hat sie gestohlen, der Jäger vom Drachen gerettet, aber ohne des Tischlers Schwimmkunst und Leim wäre sie doch verloren gewesen; sie möge also des Tischlers Frau werden, ihr andern aber sollt mein Vermögen in drei Theile theilen.«

[Italien: Georg Widter/Adam Wolf: Volksmärchen aus Venetien]

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