Vor vielen, vielen Jahren trug sich am Rande des Märchenwaldes, wo die Sonne wohl vergaß, ihre Strahlen auszusenden, Folgendes zu: Die Menschen in dem Dörfchen lebten glücklich und zufrieden. Niemand neidete dem anderen irgendetwas. Pünktlich um fünf Uhr morgens erhellte ein seltsamer goldener Ball dieses Fleckchen Erde für ein paar Stunden. Doch eines Tages blieb der Morgen dunkel.
Trine, die Köchin des Bürgermeisters, lag noch im Bett und schaute zum Fenster. Ihre innere Uhr sagte, dass es längst Zeit wäre aufzustehen, um die Kurbel zu drehen. Kopfschüttelnd, da sie glaubte, verschlafen zu haben, zündete sie die Kerze auf dem Hocker neben ihrem Bett an, welche in einem wunderschön verschnörkelten Ständer steckte. Gähnend stemmte sie sich hoch, schlurfte in die Küche und griff nach der bereitstehenden Schüssel, um Mehl für die Morgensuppe zu holen, wenn der goldene Strahl alles erhellt haben würde.
Plötzlich gellte ein markerschütternder Schrei durchs ganze Haus, verbunden mit dem scheppernden Geräusch eines zu Bruch gehenden Geschirrs.
Adelbrecht – so hieß der Bürgermeister – rannte barfüßig, so schnell er konnte zu Trine, wobei er sich mehrmals böse die Zehen stieß. „Verflixt noch mal! Trine, was machst du mitten in der Nacht im Bürgersaal? Kannst du denn nicht wenigstens warten, bis es hell ist?“ Wütend stand er vor seiner Köchin und starrte sie fassungslos an. Ihr ganzer Körper zitterte, sie zeigte auf etwas und stotterte: „Die Mühle … sie ist weg! Irgendjemand hat … hat unsere Gosame gestohlen!“
Der Bürgermeister konnte kaum glauben, was seine Köchin da stammelte, nahm ihr die Kerze aus der Hand und wollte sich die ganze Sache selber ansehen. „Verflixt noch mal! Die Mühle steht nicht mehr da! Ja … um Himmelswillen, dann bleibt es von nun an immer Nacht!“
Adelbrecht hockte wie ein gebrechlicher Greis auf den Stufen neben dem Schrein, dort, wo bisher die Mühle stand. Trine hatte sich etwas beruhigt und setzte sich neben ihn. „Was machen wir nun? Gibt es denn keine andere Möglichkeit, den Tag zu erhellen?“
Der Bürgermeister wischte sich mit einem Nachthemdzipfel die Tränen aus den Augen und schaute seine Köchin verzweifelt an. „Nein, Trine.“ Er tätschelte ihre Wange. „Ich möchte dir etwas erzählen. Irgendwann hätte ich das sowieso tun müssen. Also, der Überlieferung nach floh vor etwa dreihundert Jahren des Nachts ein Vorfahre von mir gemeinsam mit ein paar Sonderlingen, die niemand im Märchenwald haben wollte, und gründete dieses Dorf, abseits von allen anderen Lebewesen. Nicht einmal die Sonne will auf diesen Flecken Erde scheinen. Na ja, so wuchs auch nichts. Als die Menschen nicht mehr ein noch aus wussten, kam eine alte, weise Frau und brachte ihnen die Mühle Gosame. Sofort wurde ein Schrein gebaut, das Zauberding daraufgestellt und keiner brauchte mehr zu hungern. Als mein Ur-, Ur-, Urgroßvater dieses Rathaus bauen ließ, stellte man den Schrein hier auf. Jeder durfte sich bedienen. An Salz und Mehl mangelte es niemandem. So waren alle glücklich. Doch jeden Morgen musste jemand eine der drei Kurbeln drehen und zwar die goldene. Dies sollte Schlag fünf Uhr morgens geschehen. So hatten wir für einige Stunden Licht und konnten unserer Arbeit nachgehen. Frühes Aufstehen und Arbeit waren die Bedingungen der weisen, alten Frau. Es sollte kein Müßiggang aufkommen. Die Tunichtgute starben nach und nach aus. Ein Dorf mit fleißigen Menschen entstand.“
„Aber diese Kurbel drehe doch ich jeden Morgen“, stellte Trine überrascht fest. „Nie habe ich über den Grund nachgedacht, sondern mich nur über den goldenen Sternenstrahl gefreut, der zum Fenster hinausströmte. Kurz darauf wurde es hell und die Hähne krähten auf jedem Hof aus voller Kehle.“
„Richtig, Trine! Wenn du einst die Kurbel nicht mehr drehen kannst, wirst du jemanden bestimmen, der dieser Arbeit weiter nachgeht. Aber was rede ich denn da, die Zaubermühle ist ja verschwunden. Oh Gott, was soll nur werden?“, lamentierte Adelbrecht von neuem.
„Wenn sie gestohlen wurde, werden wir auch rausfinden, wer es war. Und dann holen wir unsere Gosame zurück“, beendete Trine mit entschlossener Miene das Gejammer und stand auf. „Ich gehe jetzt die Bürger wecken. Dann versammeln wir uns alle hier und beratschlagen, was zu tun ist. Geht und zieht Euch an, Herr Adelbrecht. So könnt Ihr wohl schlecht unter die Leute“, grinste sie verstohlen und war schon zur Tür hinaus.
Adelbrecht tappte zurück in seine Kammer, wobei er sich erneut die bloßen Zehen stieß und das „Verflixt noch mal!“ alleweil zu hören war.
Nach kurzer Zeit füllte sich das Rathaus. Alle trugen brennende Kerzen, um wenigstens den Nachbarn zu erkennen. Der Bürgermeister schaute von der Rednerkanzel auf seine Dörfler herunter. „Liebe Bürger, sicher habt ihr mitbekommen, dass es heute nicht hell wird. Das hat einen schlimmen Grund. Unsere Mühle Gosame ist gestohlen worden. Jedenfalls steht sie nicht an ihrem gewohnten Platz.“
Ein Raunen ging durch die Bankreihen und die Kerzen flackerten unruhig hin und her.
„Was soll nun aus uns werden?“, rief der Schneider Fadenfein und alle anderen redeten nun so laut durcheinander, dass kein Wort mehr zu verstehen war.
„Ruhe!“, brüllte der Schmied Pompf in die Menge und hieb mit der Faust so heftig auf die Bank, dass sie fast zerbarst. Sofort war es still. „Hört mal zu! Wir wissen, dass unseren Ahnen Gosame vor langer Zeit von einer weisen, alten Frau zum Überleben geschenkt wurde. Nun hat wohl jemand die Zaubermühle gestohlen. Denjenigen müssen wir finden und die Mühle wieder abnehmen. Möglicherweise weiß die alte Wohltäterin Rat. Einer muss sich auf den Weg machen und sie suchen!“
„Du bist gut! Wer weiß, ob sie überhaupt noch lebt!“, warf der Schuster Stiefelknecht achselzuckend ein.
„Warum nicht, möglich ist alles“, überlegte der Bürgermeister laut, nickte und fuhr fort: „Aber wo sollen wir suchen und vor allem wer würde es tun?“
„Ich werde gehen!“, rief Pompf mutig.
Die Leute waren froh, dass sich ein Freiwilliger gemeldet hatte, wünschten ihm viel Glück und liefen fröstelnd zurück in ihre Häuser.
Der Schmied suchte sämtliche Kerzen zusammen, schnürte ein Bündel mit Wasser und Brot, schulterte seinen mächtigsten Hammer und machte sich auf den Weg. Wie lange und ob er vielleicht sogar im Kreis gelaufen war, konnte er nicht einschätzen. Pompf setzte sich müde dahin, wo er gerade stand, zündete eine neue Kerze an und seufzte: „Ein letztes Mahl mit Wasser und Brot, dann ist es aus, oh schockschwere Not!“
„Was sitzt du da und jammerst?“, vernahm er eine krächzende Stimme neben sich. Ohne jegliche Angst leuchtete er der Gestalt ins Gesicht. Vor ihm stand niemand anderes als die alte, weise Frau, jene Wohltäterin seines Dorfes.
„Oh, was bin ich froh, dass ich dich endlich gefunden habe! Gosame ist …“
„.. verschwunden, gestohlen worden“, krächzte die Alte fast belustigt. „Nein, nein! Nicht gestohlen. Ich werde dir jetzt erzählen, was wirklich passiert ist und dann wirst du den Bann dieses Fleckchens Erde brechen. Hör zu! Auf den Tag genau vor dreihundert Jahren flohen böse Menschen wie Mörder, Diebe, Hexen ohne Begabung mit ihren Familien hierher. Aus den Verwünschungen und Flüchen ihrer Opfer stieg eine mächtige, hohe Mauer auf, welche nicht einmal die Sonne durchdringen konnte. Ich hatte Mitleid mit den Kindern, denn sie können am wenigsten für die Fehler ihrer Eltern. So übergab ich den Menschen die Mühle Gosame mit der Bedingung, dass sie arbeiten und sich redlich ernähren sollen. Auch Vieh ließ ich ihnen nach und nach zukommen. Alles lief gut. Die Menschen hielten ihr Versprechen und haben gelernt, gut miteinander auszukommen. Dreihundert Jahre sind vergangen. Die Zeit ist gekommen. Schlage zwölfmal gegen die Fluchmauer. Schlag zu, so kräftig du nur kannst, dann wirst du sehen.“ Mit diesen Worten war die Alte verschwunden.
Pompf überlegte nicht lange, spuckte in die Hände und holte weit mit seinem Hammer aus. Er sah zwar keine Wand, aber als er zuschlug, dröhnte es um ihn herum, als würde ein Gebirge einstürzen. Nach dem zwölften Schlag löste sich die Mauer in Luft auf. Sonnenlicht umgab den Schmied und er blinzelte hinauf in den Himmel. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er Wolken. Der Bann war gebrochen. Rings um ihn herum wuselten fremde Menschen, die ihrem Tagwerk nachgingen.
„Schön guten Tag, starker Mann!“, lachte ihn eine üppige, hübsch anzusehende Marktfrau an und schaute anerkennend auf den geschulterten, riesigen Hammer des Schmiedes. Angetan von so viel Kraft reichte sie ihm liebevoll einen rotbäckigen Apfel. So etwas Köstliches hatte seine Zunge noch nie geschmeckt. Genau neben einem Markt hatte bisher das Dorf gelegen. Wie arg doch mussten die Vergehen der ersten Menschen dieses dunklen Fleckchens Erde gewesen sein, dass kein Laut durch die Mauer drang. Pompf zwinkerte der Frau schelmisch zu, versprach bald wiederzukommen und machte sich auf den Rückweg. Unter lautem Jubel wurde er empfangen. Die Bürger sangen Loblieder auf ihn. Herr Adelbrecht und Trine zeigten ihm stolz die Mühle Gosame auf ihrem angestammten Platz. Dass sie kein Mehl und auch kein Salz mehr hergab, störte niemanden. Die richtige, wohlig wärmende Sonne gefiel den Leuten auch viel besser als die paar Stunden Zauberlicht. Das Glück war nun vollkommen. Vielleicht steht die Zaubermühle Gosame als Erinnerung an die Geschichte des Dorfes noch immer auf dem Schrein im Rathaus, natürlich nur, wenn sie nicht von Holzwürmern zerfressen wurde.
Quelle: Doris Liese