„Warum willst du ihn als Bettler ziehen lassen?“, fragte die Königin traurig. „Sieh nur, wie zerlumpt er daher geht. Schlimmer als ein Stallbursche!“
König Baldus lachte. „Meine Liebe, schimpf nicht! Es war sein eigener Wunsch und Wille, nicht als Prinz, sondern als Bettelmann durch die Lande zu ziehen, um sich eine Frau zu suchen. Wir haben doch nun wirklich alles versucht, unzählige Bälle gegeben und Prinzessinnen eingeladen. Doch keine war ihm gut genug, weder vom Wesen noch von Gestalt. Und wenn es dich beruhigt, verhungern wird er sicher nicht. Was er an Gold bei sich hat, reicht für ein ganzes Jahr. Und nun sei nicht traurig, lass ihn sein Glück suchen. Welches Mädchen er uns auch als Braut vorstellen wird, sie soll uns willkommen sein!“
Im Nachbarreich stand Salina, Prinzessin zu Tilsit, eines Abends in ihrem Schlafgemach vor einem großen Kristallspiegel und betrachtete sich von allen Seiten. Vor allem der Halsschmuck hatte es ihr angetan, der mit seinem Glanz ihre Jugend und Schönheit vollendete.
Salina hatte heute etwas getan, was strengstens untersagt war. Sie hatte sich aus der Schatulle der Königinmutter das goldenes Amulett genommen und um den Hals gelegt. Der Schmuck, geprägt mit einer diamantenen Schlange, deren gespaltene Zunge Blitze zu verschleudern schien, war hunderte von Jahren alt und wurde von Thronfolger zu Thronfolger weiter vererbt. So manche Geschichte rankte sich um das wertvolle Stück. Eine davon war ihr im Gedächtnis geblieben.
Sollte das Amulett jemals verloren gehen, würde ein Fluch über das Reich kommen. Es würde verderben und kein Thronfolger würde mehr das Licht der Welt erblicken.
Trotzdem hatte die Prinzessin gewagt, den Schmuck anzulegen. In ihr Spiegelbild vertieft, träumte sie von einem schönen und starken Prinzgemahl an ihrer Seite. Doch schon bald wurde sie schläfrig, legte das Schmuckstück auf den Frisiertisch und ging zu Bett, um weiter zu träumen.
Am nächsten Tag, das Fenster im Gemach der Prinzessin stand weit offen, saß der Rabe Kraks wie immer beizeiten auf einem der vielen Schlosstürmchen. Er war unsterblich in Salina verliebt. Sobald er jedoch in ihrer Nähe auftauchte, verscheuchte sie ihn angewidert.
Seine kohlschwarzen Augen hatten beobachtet, wie die Prinzessin das goldene Amulett am Abend zuvor auf dem Frisiertisch ablegte. Das wollte er bei Tageslicht einmal näher besehen.
Da die Prinzessin noch schlief, gab es kein Halten mehr. Er musste es einfach haben! Mit ruhigem Flügelschlag landete der Rabe auf dem Fenstersims, hüpfte lautlos über den Fußboden, bemächtigte sich des Prunkstücks und flog davon.
Als Salina erwachte, wollte sie zuallererst das Amulett zurückbringen. Doch es war verschwunden! In Tränen aufgelöst, suchte sie jede Ecke ihres Gemachs ab. Vergebens!
Kraks erfreute sich unterdessen im Schlossgarten, versteckt hinter einer Heckenrose, am Glanze des Amuletts. Er konnte sich kaum satt sehen. Nun wollte er ein sicheres Versteck suchen. Als er über das Wasser des Schlossteiches flog, nuschelte er vor sich hin: „Eine kleine Bestrafung hat Salina einfach verdient. Sicher hat sie noch anderen Schmuck und wird das Amulett gar nicht vermissen.“ Dabei glitt ihm das wertvolle Stück aus dem Schnabel und sank auf den Grund des Teiches.
Die Königinmutter hatte von dem Verschwinden des Ahnenstückes noch nichts bemerkt. Sie wunderte sich nur, dass die Prinzessin nicht bei Tische erschien und stattdessen draußen am Schlossteich saß. Dass Salina bittere Tränen vergoss, sah sie nicht.
Kraks saß mit hängenden Flügeln und traurig über den herben Verlust in ihrer Nähe auf einem Baum. Das Weinen seiner geliebten Prinzessin rührte sein Herz. „Ob sie wegen dem Schmuck so bitterlich weint? Oh je! Wie soll ich ihr sagen, was passiert ist, wenn sie mich immer verjagt, noch ehe ich den Schnabel aufgemacht habe!“ Ratlos blieb er auf dem Ast sitzen.
Zu gleicher Zeit ritt Reinald laut singend durch den Wald, der an den Schlossgarten grenzte. Des Prinzen Aussehen glich dem eines Bettelmannes, doch sein Schimmel war von edlem Geblüt.
Salina sah den Fremden kommen, trocknete rasch ihre Tränen und wollte davonlaufen. Doch der Fremde hatte das Mädchen schon erblickt, ritt rasch auf sie zu und stieg schwungvoll vom Pferd.
„Warum weint Ihr, schönes Fräulein?“, fragte er höflich. „Und warum sitzt Ihr so alleine hier am Teich? Ist Euch Eure goldene Kugel ins Wasser gefallen?“, versuchte er zu scherzen.
Kraks krächzte laut, so lustig fand er die Frage. Schnell flog er näher heran, um besser hören zu können.
Salina hatte plötzlich keine Angst mehr vor dem Fremden und fragte: „Woher kommt Ihr? Und was sucht Ihr in unserer Gegend?“
Reinald setzte sich zu ihr, zeigte hinter sich, lächelte und sagte: „Ich komme von dort und suche mein Glück.“
Salina blickte in seine braunen Augen und ein tiefes Vertrauen erfasste sie.
„Das ist so eine Sache mit dem Glück“, antwortete sie leise. „Der eine sucht es und der andere hat es für immer verloren!“
„Weinst du deshalb? Hast du dein Glück verloren?“, fragte Reinald.
Salina nickte. Tränen benetzten erneut ihre zarten Wangen. Wortlos reichte ihr der Fremde ein Schnupftuch. Sie erzählte von dem verlorengegangenen Amulett und den Folgen, wenn das Ahnenstück nicht mehr gefunden werden sollte.
Reinald nahm seinen Hut vom Kopf, machte eine tiefe Verbeugung und bemerkte mit Bewunderung in seiner Stimme: „Dann seid Ihr also eine richtige Prinzessin?“
„Ja! Leider!“, sagte sie. „Aber nun muss ich gehen! Die Glocke zum Abendessen hat längst geläutet.“
In der folgenden Zeit trafen sich die beiden täglich am Teich. Ihre Köpfe rückten dabei näher und ihre Herzen schlugen laut.
Kraks beobachtete die Prinzessin und den Fremden. Wenn es möglich gewesen wäre, wäre er vor Eifersucht noch schwärzer geworden. Doch bei aller Liebe musste er sich doch eingestehen, dass der Fremde besser zur Prinzessin passte.
Als Salina abends an das geöffnete Fenster trat, um noch einen Blick auf den Schlossteich zu werfen, saß Kraks wieder auf dem Türmchen vor ihrem Fenster.
„Noch einmal versuche ich es. Wenn sie mich nicht davonjagt, beichte ich ihr, wo das Amulett zu finden ist“, machte er sich Mut.
„Prinzessin Salina!“, rief er. „Ich möchte dir etwas erzählen. Es ist wichtig! Ich könnte dir helfen!“
„Verschwinde!“, rief sie erbost. „Wie kannst du mir schon helfen!“ Schon flog ein dickes Buch direkt an seinem Kopf vorbei.
„Dann eben nicht!“, krächzte er wütend und flog davon. „So, nun schweige ich für immer!“
Anderntags saß der Fremde wie gewohnt am Schlossteich und wartete auf die schöne Prinzessin. Sein Schimmel graste friedlich. Salina kam nicht. Das machte ihn traurig. Als Kraks ihn bemerkte, gesellte er sich zu ihm.
„Na, du schwarzer Teufel!“, grinste der Fremde. „Kannst du mir vielleicht sagen, warum die Prinzessin heute nicht kommt?“
„Das weiß ich nicht! Aber ich könnte dir eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte von großer Bedeutung. Soll ich?“
„Fang an!“, sagte der Fremde, „ich liebe Geschichten.“
Kraks erzählte von dem Missgeschick, das ihm passiert war. Er beteuerte, er habe die Prinzessin doch nur ein klein wenig bestrafen wollen.
„Und du weißt, wo das wertvolle Stück zu finden ist?“, fragte Reinald.
„Natürlich!“, triumphierte Kraks und sah zu, wie der Fremde sich entkleidete und ins Wasser stieg. Nach kurzer Zeit tauchte ein lachendes Gesicht auf, dann eine Hand, die das Zeichen des Königsgeschlechts hin und her schwenkte.
Am späten Nachmittag wurde Salina zur Königinmutter gerufen. Ihr Herz klopfte vor Angst, da sie glaubte, es ginge um das wertvolle Amulett.
Doch wie erstaunt war sie, als ihr der Fremde, den sie ehrlich lieb gewonnen hatte, vorgestellt wurde. Mit einem hoheitsvollen Lächeln sagte die Königin: „Meine geliebte Tochter! Prinz Reinald von Hohenstein hat um deine Hand angehalten.“
Der Prinzessin’ kleines Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, es könnte vor Glück zerspringen. Aber das Allerschönste war, Prinz Reinald übergab ihr heimlich den so wichtigen Ahnenschmuck. Salina legte ihn unbemerkt und glücklich zugleich in die Schatulle zurück.
Prinz Reinald hatte die rechte Braut gefunden und seine hochherrschaftlichen Eltern waren mit der Wahl mehr als zufrieden.
Umgeben von einer großen Kinderschar herrschte das junge Königspaar für lange Zeit gütig und weise über beide Reiche, welche dank des Amuletts blühten und gediehen.