Vor langer Zeit regierten einmal ein König und eine Königin über ein großes Reich. Alle Untertanen waren dem Monarchenpaar zugetan, denn es herrschte gerecht und nahm an den Sorgen und Nöten des Volkes genauso teil wie an erfreulichen Ereignissen.
Alle hätten glücklich sein können, wenn nicht dem Königshaus ein Thronfolger gefehlt hätte. Das Herrscherpaar und mit ihm das ganze Volk hatte Jahr für Jahr gehofft, endlich das Trippeln kleiner Füße und Kinderlachen im Schloss zu hören, aber vergebens – kein Nachwuchs wollte sich einstellen.
Die Königin konnte das gramzerfurchte Gesicht ihres Gatten nicht länger ertragen. Sie machte sich eines Tages, gewandet wie eine Bäuerin, auf den Weg in den Wald. Dort, so erzählte man sich, lebte ein Weiblein, das schon vielen Frauen in gleicher Lage geholfen hatte.
Endlich erreichte sie eine Hütte. Noch ehe sie anklopfen konnte, öffnete sich die Türe. Eine Alte mit freundlichem, runzligen Gesicht stand vor ihr und sprach: „Seid gegrüßt, Majestät! Ich habe Euch schon erwartet!“
Die Königin wunderte sich, trotz ihres schlichten Aufzugs erkannt worden zu sein, fasste aber gerade deswegen Vertrauen zu den Fähigkeiten der Alten und trat ein.
Diese hielt sich nicht lange mit wohlgesetzten Worten auf, sondern sagte sogleich: „Ich weiß, warum Ihr gekommen seid und ich will Euch helfen. Aber meine Hilfe hat ihren Preis!“
Die Königin zog einen Lederbeutel aus den Falten ihres Gewandes, doch die Alte schüttelte den Kopf: „Steckt Euer Gold wieder ein, das brauche ich nicht. Ich habe ein anderes Ansinnen! Auch ich wünsche mir ein Kind, aber ich bin alt. Ich habe den rechten Zeitpunkt verpasst und nun fehlt mir eine Tochter, an die ich all mein Wissen von Heilpflanzen und anderen Mittelchen weitergeben kann. Hört daher meinen Vorschlag: Ich werde Euch ein Kraut geben, das Ihr mit Wasser aufbrühen müsst. Trinkt den Sud beim nächsten Vollmond um Mitternacht. Ihr werdet alsbald guter Hoffnung sein und, wenn der Zeitpunkt gekommen ist, Zwillinge gebären, einen Jungen und ein Mädchen. Bittet den König, dass ich Euch bei der Geburt als Amme beistehen darf. Den Knaben sollt Ihr behalten, aber das Mädchen wird meines sein.“ Die Königin dachte nach und willigte schließlich ein. Ihr Gatte wünschte sich so sehr ein Kind, dass sie sich auf die Bedingung der Alten einließ.
Übers Jahr gebar sie, wie vorausgesagt, zwei Kinder. „Sie sollen Leon und Leona heißen!“, bestimmte sie und küsste beide auf die Stirn, wo ihr Mund ein herzförmiges Mal hinterließ. Dann drückte sie ihre Lippen auch auf die Hand der Tochter, sodass diese ein zweites Muttermal erhielt.
Die Alte nahm das Mädchen sanft aus dem Arm der Königin und sprach: „Sagt dem König, Ihr hättet einen Knaben geboren. Das andere Kind aber verschweigt ihm bis zum fünfzehnten Geburtstag der Zwillinge! So lange brauche ich, um Leona all mein Wissen beizubringen.“
Als die Königin zögerte, da sie ihren Gatten noch nie belogen hatte, zog das Weiblein ein Fläschchen aus der Tasche. „Ich will es Euch leichter machen! Trinkt dies und Ihr könnt Euch an das Mädchen nicht mehr erinnern. Wenn die Zeit gekommen ist, werdet Ihr spüren, dass Euch ein Stück Vergangenheit fehlt. Jedoch wird einzig Leona in der Lage sein, jene Erinnerung wieder zu erwecken!“
Folgsam schluckte die junge Mutter das Mittelchen und fand sich alsbald allein mit dem kleinen Thronfolger. Sie ließ nach dem König rufen, der beim Anblick seines Sohnes der glücklichste Herrscher aller Königreiche war.
Die Jahre zogen ins Land und die beiden Kinder wuchsen heran. Das Mädchen war der Heilkräuter kundig, während der Junge alles erlernte, was ein zukünftiger König können musste.
Zur fünfzehnten Geburtstagsfeier des Prinzen veranstaltete der König eine große Jagd, die schon in den frühen Morgenstunden begann. Leon sollte erstmals an einer solchen Jagdgesellschaft teilnehmen. Ihm war gar nicht wohl bei dem Gedanken, verabscheute er doch das Töten. So kam es, dass er ein Reh verscheuchte, als er bemerkte, dass dieses von einem der Jäger aufs Korn genommen wurde. Ein Streifschuss traf Leon. Zum ersten Mal im Leben erlitt er solch einen Schmerz, sah sein eigenes Blut und wurde ohnmächtig.
Es traf sich, dass Leona just zu dieser Zeit im Wald Kräuter sammelte. Als sie leises Stöhnen vernahm, ging sie dem Geräusch nach und fand den jungen Mann. Nachdem sie ihn hinter einem Busch in Sicherheit gebracht und seine Wunde versorgt hatte, betrachtete sie ihn genauer. Sie hatte ihr eigenes Spiegelbild schon im Waldsee gesehen und meinte, wieder in das stille Wasser zu blicken, so sehr glich dieses Antlitz dem ihren. Als sie mit der Hand die dunklen Haare aus der Stirn des Prinzen strich, entdeckte sie das herzförmige Muttermal, das auch sie auf der Stirn trug.
Leona setzte sich neben Leon, legte Kräuter auf die stark blutende Wunde und streichelte ihn beruhigend, wenn er stöhnte. So wachte sie geraume Zeit und sann über alles nach, was die Ziehmutter ihr im Laufe der Jahre über ihre Herkunft erzählt hatte. Es waren nur kleine Bemerkungen hie und da gewesen. Mal hatte sie festgestellt, Leona habe die blauen Augen ihrer leiblichen Mutter. Dann hatte sie gesagt, der König würde stolz auf sie sein. Einmal hatte das Kräuterweiblein auch einen Bruder erwähnt, war aber auf Leonas Fragen nicht eingegangen. Wenn es an der Zeit ist, wirst du alles erfahren, war jedes Mal die Antwort. All das ging dem Mädchen nun durch den Kopf. Als Leon endlich aus der Ohnmacht erwachte, war sich Leona fast sicher, dem Bruder in die Augen zu sehen, zumal diese genauso blau wie die ihren waren.
Erstaunt blickte Leon auf das Mädchen, das sein Spiegelbild zu sein schien. „Träume ich?“, fragte er und richtete sich mühsam auf. Leona spürte sofort eine enge Vertrautheit, erzählte von ihren Gedanken und bekräftigte ihre Vermutung, indem sie dem jungen Mann das Muttermal auf ihrer Stirn zeigte.
Beide schauten einen Moment ins Antlitz des anderen, im nächsten Augenblick lagen sie einander in den Armen. Dann sagte Leon nachdenklich: „Meine – unsere – Mutter war in den letzten Wochen oft bedrückt. Sie hat mich immer öfter lange angesehen und vergeblich versucht, sich an etwas zu erinnern, das vor langer Zeit geschehen sein muss. Ich glaube beinahe, es hat mit uns beiden zu tun!“
„So scheint es zu sein“, bestätigte Leona. Sie dachte nach und sagte schließlich: „Meine Ziehmutter ist für einige Tage auf Märkten unterwegs. Ich werde dich in die Hütte bringen, dort bist du sicher, kannst dich stärken und in Ruhe genesen!“ Der Prinz wandte ein: „Man wird mein Verschwinden schon bemerkt haben und mich bald überall suchen!“ Leona aber entgegnete: „Sie werden nichts dergleichen tun, denn ich werde an deiner Statt ins Schloss gehen, um meine Eltern kennenzulernen!“
In der ärmlichen Behausung bat sie ihren Bruder: „Gib mir deine Kleider! Ein jeder wird annehmen, dich zu sehen! Auch möchte ich dich bitten, mir das Schloss zu beschreiben, damit ich mich darin zurechtfinde!“ Sie lauschte seinen Erklärungen, verbarg ihr langes Haar unter der Kappe des Bruders und verabschiedete sich.
Alsbald stand Leona vor dem Schloss, in dem sie geboren worden war. Die Wachen öffneten ohne zu zögern das Tor. Sie trat staunend in die prunkvolle Halle, fand den Thronsaal und trat vor ihren Vater. Sichtlich erleichtert, den Prinzen wohlbehalten vor sich zu sehen, sprach er: „Mein Sohn, du kommst spät zurück von der Jagd. Ich war sehr in Sorge um dich. Schließlich dunkelt es bereits und die Jagdgesellschaft kehrte ohne dich zurück!“
Leona, erleichtert, dass der König den Schwindel nicht bemerkte, entschuldigte sich glaubhaft und fragte nach der Mutter.
„Sie ist auch heut nicht aus ihrem Schlafgemach herausgekommen. Irgendetwas quält sie!“, entgegnete der Vater, „Geh nur zu ihr, vielleicht kannst du sie aufheitern!“
Leona begab sich sofort in die Räume der Mutter und fand diese mit bleichem Gesicht in einem Sessel sitzend.
Das Mädchen umarmte und küsste sie. Die Königin sah den vermeintlichen Prinzen lange an und sagte schließlich: „Du siehst aus wie mein Sohn, aber doch bist du es nicht!“
Leona, die zu Füßen der Mutter kniete, fragte: „Wer sonst soll ich sein?“ Wieder betrachtete die Königin ihr Kind eindringlich und sagte wie im Traum: „Da war ein zweites Muttermal!“
Leona streckte ihr die Hand mit dem Lippenabdruck entgegen.
„Ich erinnere mich plötzlich wieder daran, zwei Kinder geboren zu haben! Habe ich vielleicht zwei Söhne? … Nein, … nein, das andere Kind war ein Mädchen! Ich nannte es Leona! Aber wer bist du?“
„Ich bin deine Tochter Leona“, gab das Mädchen sich zu erkennen, nahm die Kappe ab und schüttelte die langen Locken.
Die Königin umarmte ihre wiedergefundene Tochter unter Tränen. „Nun soll auch mein Gemahl die ganze Wahrheit erfahren“, sprach sie erleichtert.
Der König war nach den ersten Worten ihrer Erklärung außer sich vor Zorn. Wie hatte seine Gemahlin ihn so hintergehen können? Doch bei aller Gekränktheit wurde ihm zunehmend klar, dass er nicht nur einen Sohn, sondern auch eine Tochter hatte. Als er den Blick aus den gütigen blauen Mädchenaugen auffing, waren alle bösen Gedanken verflogen. Schon breitete er die Arme aus, umarmte sein Kind und Tränen liefen dem sonst so starken Manne über die Wangen: „Wie konnte das alles nur ohne mein Wissen geschehen?“
Die Königin verschonte sich nicht und offenbarte ihm die ganze Geschichte. Er verstand allmählich, dass er seine beiden Kinder einzig dem Zaubertrunk und der Geheimhaltung des Handels verdankte.
So verzieh er seiner Frau und dem Kräuterweiblein den Schwindel schließlich. Mehr noch, er lud die Alte ein, bei ihnen im Schloss zu wohnen. Diese jedoch mochte ihr freies Waldleben nicht aufgeben, wurde aber zum gern gesehenen Gast im Schloss.
Die Zwillinge lebten fortan zusammen bei den Eltern. Leon wurde später ein gütiger und beliebter König und Leona war eine angesehene Heilerin, die für jeden, der ihre Hilfe brauchte, das rechte Heilkräutchen fand.
Quelle: nicht angegeben