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Ein Mädchen, welches Menschen frisst

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Es waren zwei Leute, die hatten einen Knaben schon etwas größer und ein Mädchen in der Wiege. Der Mann klagte eines Tages, er wisse nicht, wie das sein sollte, es fehle ihm jeden Morgen ein Schaf. Er hatte im Hof eine Schafherde. Der Knabe sprach: »Laß mich, Vater, ich hüte sie diese Nacht.« Er nahm sich die Axt in die Hand und versteckte sich in den Hof. Die Eltern schliefen. So um Mitternacht erhob sich die Kleine aus der Wiege, ging hinaus und nahm sich ein Schaf und aß es mit Haut und Haaren, daß nicht ein Haar vom Fell noch auch die Füße übrig blieben. Der Bruder erschrak und warf die Axt auf sie und hatte den kleinen Finger getroffen. Das Kind legte sich wieder in die Wiege und fing an zu weinen, daß seine Mutter erwachte und es in die Arme nahm, ihm zu trinken zu geben. Das Kind weinte noch ärger, nur einmal sah seine Mutter Blut am Finger. Sie sah in der Wiege nach, dort war nichts, woran sie sich hätte stoßen können. Da kam der Knabe in die Stube und sagte es seinen Eltern, was geschehen. Aber sein Vater stand auf, nahm den Stock: »Was sagst du, du Betrüger, wie kannst du so elende Worte über dein Schwesterchen reden, ein kleines Kind in der Wiege wird ein Schaf essen können, sie kann sich nicht einmal aus der Wiege auf die Füße stellen, du Elender, Lügner.« Er hieb mit dem Stock auf ihn und jagte ihn hinaus in die Nacht.
Der arme Knabe weinte und ging vom Hofe seines Vaters. Er ging und ging immer weiter, bis er an die schwarzen Gebirge gelangte, dort stand ein Haus, und in der Türe war ein Mann und fragte: »Du Erdensohn, wie kommst du zu mir, hierher verirrt sich nicht einmal der Adler der Hölle (pasare maiastra).« – »Ach, Herr, sieh so und so ist es mir ergangen, jetzt möchte ich mich als Knecht verdingen.« – »Dann bleib bei mir, ich brauche grade einen.« Er blieb und arbeitete, was er konnte. Sein Herr konnte sich auf ihn verlassen und behielt ihn zwölf Jahre. Als diese um waren, sehnte er sich nach seinen Eltern und seinem Lande und bat seinen Herrn, ihm zu erlauben, einmal hinzugehen und nach ihnen zu sehen, wie es ihnen gehe. »Ich will dich lassen, mein Sohn, aber dir wird Feuer kommen und mir Rauch.« Dann gab er ihm ein Pferd zum Reiten. Er ritt hinunter nach Siebenbürgen und gelangte dorthin, wo er sein Dorf wußte, aber dies fand er nicht mehr, es stand nur eine Hütte am Ende des Dorfes, diese Hütte hatte er erkannt, es war die seines Vaters. Wo das Dorf gewesen, wuchs Gras. Als er an sie heranritt, saß seine Schwester am Fenster und nähte. Er band sein Pferd an einen Stecken und ging in die Stube: »Guten Tag, Schwester.« – »Ich danke, Bruder, komm, setz dich an den Tisch.« Als er saß, ging sie hinaus, er sah durchs Fenster, wie sie seinem Pferd einen Fuß ausriß und ihn samt den Haaren fraß. Jetzt wußte er, was in diesen zwölf Jahren geschehen war. Das Mädchen hatte zuerst die ganze Schafherde aufgegessen, dann hatte sie das Vieh der andern Leute verzehrt, und als sie mit dem fertig geworden, fing sie an den Menschen an und hatte auch die alle um das Leben gebracht.
Sie kam in die Stube und sprach: »Ach Bruder, wie merkwürdige Pferde ihr dort habt mit drei Füßen.« Sie ging wieder hinaus, riß auch den zweiten Fuß aus und verschlang ihn. Kam wieder hinein und sprach: »Ach Bruder, was für merkwürdige Pferde ihr dort habt mit zwei Füßen.« Sie ging wieder hinaus, sie hatte keine Ruhe, und aß auch den dritten Fuß. »Ach Bruder, was für merkwürdige Pferde ihr dort habt mit einem Fuß.« Wieder ging sie hinaus, und fing jetzt das ganze Pferd an zu zerreißen und zu fressen. Der Jüngling merkte, was auch seiner warte, wenn er hier bliebe, schwang sich durchs Fenster und floh in den Wald. Er lief und lief, bis er in der Ferne das Mädchen schreien hörte. Er stand grade an einer Zwillingseiche und stieg in die Spitze. Als sie das Pferd gegessen, war sie noch nicht satt, denn seit sie das ganze Dorf aufgegessen, hatte sie weder Tiere noch Menschen bekommen. Sie kam jetzt in die Stube, um auch den Bruder zu verzehren, und fand ihn nicht mehr dort, aber sie roch, wohin er geflohen, und nun lief sie auch auf demselben Weg ihm nach. Als sie ihn oben auf der Eiche sah, rief sie ihn herunter, er wollte aber nicht. Da legte sie den Mund an den Stamm und fing an zu nagen und durchnagte den ganzen Stamm, der Bruder aber schwang sich auf den zweiten, wußte freilich, daß auch dies nicht lange helfen werde. Da gedachte er der beiden Hunde seines Herrn, der eine hieß Audebine (Hör gut), der andere Greupomunta (Stark wie die Erde), diese waren in ihrer Hütte immer eingesperrt. Er pfiff ihnen laut und fein. Wie er einmal gepfiffen, sagte der eine zum andern: »Hör, Kamerad, mir scheint, unser Knecht pfeift uns, er muß in großer Not sein, komm, daß wir ihm zu Hilfe eilen, aber wie sollen wir herauskommen?« – »Warum heiße ich ‚Stark wie die Erde‘, wenn ich nicht hinaus kann?« Er stemmte sich gegen die Türe mit den Füßen, daß sie gleich einfiel, dann liefen sie schnell nach Siebenbürgen in den Wald zum Burschen und gelangten grade hin, als die Verwünschte auch den zweiten Stamm durchfressen. Die Hunde packten sie und fraßen sie selbst auf und hatten ihn so befreit. Jetzt war das ganze Stück Land, wo das Dorf gestanden, sein. Er blieb dort, fing an zu arbeiten, sein Herr half ihm, dann heiratete er.
Von wo ich’s gehört, von dort hab ich’s erzählt.

Lina Subtirel, Alzen
[Rumänien: Pauline Schullerus: Rumänische Volksmärchen aus dem mittleren Harbachtal]

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