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Märchenbasar

Einigkeit macht stark

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Vor ewigen Zeiten trafen einmal ein Riese und eine Riesin aufeinander und sogleich begannen sie sich ob ihrer Fähigkeiten hochzuschaukeln.
„Ich bin mit Sicherheit der stärkste Riese im ganzen Land!“, prahlte der Riese.
Die Riesin begann lauthals zu lachen: „Du Angeber! Schau nur, wie stark ich bin.“ Schon griff sie mit ihren übergroßen Händen nach den Sternen und begann mit ihnen zu jonglieren. Neidisch verfolgte der Riese, wie die Sterne faszinierend auf- und niederflogen. Anschließend wurde jeder wieder an seinen Platz gestellt. Nun war er an der Reihe, griff nach dem Mond und strahlte übers ganze Gesicht: „Sieh her! Ich kann mit dem Mond Fußball spielen! Schließlich habe ich Schuhgröße zweihundertzweiundzwanzig!“
Er machte sich zum Anstoß bereit und schoss, wie es nur ein Riese kann. Der Mond flog in hohem Bogen auf und davon. Nach einer kleinen Ewigkeit gab es ein lautes Krachen, gefolgt von einem solchen Erdbeben, dass sich beide auf ihren Hosenböden wiederfanden. Glücklicherweise prallte der Mond in einem Winkel auf so hartes Gestein, dass er wieder in den Himmel zurückschnippte. Hoch erfreut klatschte der Riese in die Hände und rief: „Ha, hab ich’s nicht gesagt? Ich bin der stärkste Riese weit und breit!“
Die Riesin bekam einen roten Kopf und kochte vor Wut. Vom Fußballspielen verstand sie freilich nichts. Doch schließlich war sie eine Frau und meinte zynisch: „Pah! Der Stärkste magst du wohl sein, aber ich bin die Klügere von uns beiden! Ich habe im kleinen Finger mehr Verstand wie du in deinem großen Holzkopf!“
Wieder musste der Riese lachen.
„Du glaubst mir nicht?“, erwiderte die Riesin. „Dann lass uns morgen zusammen Karten spielen. Ich wette mit dir, dass ich das Spiel gewinne! Komm zu mir, wenn die Sonne aufgegangen ist. Mein Haus liegt Richtung Norden. Es ist nicht zu verfehlen.“

„Einverstanden! Du bist übrigens ganz schön hochnäsig!“, grinste der Riese. Weißt du denn nicht, dass wir männliche Riesen erfahrene Kartenspieler sind?“
„Wir werden sehen!“ Mit diesen Worten ließ sie ihn einfach stehen und ging hocherhobenen Hauptes ihrer Wege.

Am nächsten Tag konnten es beide kaum erwarten, sich den Sieg beim Kartenspiel zu holen. Die Riesin traf noch schnell ein paar Vorbereitungen, stellte eine wuchtige Vase mit wunderschönen Sonnenblumen sowie zwei Gläser und einen Krug Wein auf den Tisch. Kaum war sie fertig, kam der Riese auch schon angestampft. Erstaunt setzte er sich an den Tisch und moserte: „Ich glaubte, wir wollten Karten spielen?“
„Gegen einen guten Tropfen Wein während unseres Spiels wirst du wohl nichts einzuwenden haben?“, fragte die Riesin mit gespielter Unschuldsmiene. „Wir weiblichen Riesen lieben es, wenn wir in einer angenehmen Umgebung spielen können. Deshalb auch die Blumen.“
Während der Riese die Karten verteilte, goss die Riesin den Wein in die Gläser.
„Auf den Sieg!“, prostete der Riese, der wie alle männlichen Riesen gerne mal ein Glas Wein trank, seiner Partnerin zu.
„Auf den Sieg!“, erwiderte die Riesin, schüttete jedoch heimlich ihren Wein in die Blumenvase, als ihr Spielpartner sein Glas ansetzte und es in einem Zuge leerte. Genauso fuhr sie mit jedem weiteren gefüllten Glas fort. Dem Riesen fiel dies nicht auf. Er war nach dem vierten Glas recht heiter und konnte sich nicht mehr richtig auf das Kartenspiel konzentrieren.
Es kam wie es kommen musste. Die Riesin gewann das Spiel und der Riese ließ verärgert seinen Kopf hängen. Doch so schnell ließ er sich nicht unterkriegen. Ihm würde schon noch etwas einfallen, womit er seine Großartigkeit unter Beweis stellen konnte. Verdrießlich verließ er das Haus seiner Kontrahentin, er wollte ungestört nachdenken.

Am Tag darauf trafen sie sich auf der Waldlichtung wieder – dem Platz ihrer ersten Begegnung – und erneut fanden sie genügend Gründe, um sich in den Haaren zu liegen.
„Verstand und Stärke sagen noch lange nicht alles aus über die Größe und Macht eines Riesen. Reichtum gehört auch dazu! Wer mehr besitzt, der ist der Allergrößte!“, behauptete der Riese. „Ich bin im Besitz eines Hauses, das ist so groß wie ganz Italien!“
„Was du nicht sagst!“, spottete die Riesin. „Und ich habe einen so großen Kleiderschrank, in dem neunhundertneunundneunzig goldene und silberne Kleider hängen, welche meinen zukünftigen Kindern gehören sollen! Das ist wahrer Reichtum!“
Der Streit nahm kein Ende. Ihr Geschrei war weithin zu vernehmen.
Ein kleiner Vogel kam dahergeflogen, doch er war so unscheinbar, dass er von den Riesen nicht wahrgenommen wurde. Verzweifelt schrie er aus Leibeskräften und schlug wild mit seinen Flügeln, um Aufmerksamkeit zu erregen. Da nichts half, flog er beiden ins Gesicht. Verdattert hielten die Streiter inne. Mutig schimpfte der kleine Vogel: „Wollt ihr endlich aufhören? Seit Tagen schon hallt es fürchterlich durchs ganze Land. Wir wollen, dass endlich wieder Ruhe einkehrt!“
Für einen kurzen Augenblick starrten die Riesen den Vogel an und bewunderten seinen Mut, sich in ihre Nähe zu sagen, obwohl sie im Grunde ihres Herzens keiner Mücke etwas zuleide tun würden.
Dann fielen sie aber sofort wieder übereinander her und stahlen sich gegenseitig das Wort.
„Ruhe! Ruhe!“, rief der kleine Vogel unentwegt, bis er endlich gehört wurde. „Ich kann euch nicht verstehen, wenn ihr durcheinander schreit!“
Also begann die Riesin von ihren Versuchen zu erzählen und der Riese endete: „Wie sollten wir uns also nicht streiten? Es ist ja offensichtlich, dass ich der größte und stärkste aller Riesen bin!“
„Du Angeber!“, konterte die Riesin. „Ich bin die Klügere von uns beiden, das musst du wohl zugeben! Also bin ich die allermächtigste Riesin!“
Schon wieder rupften sie sich an den Haaren und zogen sich an den Ohren.
Obwohl der Vogel im Vergleich zu den Riesen winzig klein war, so war er dennoch klug. Er flog zu den Zankteufeln und zwickte sie blitzschnell mit seinem Schnabel in die Nasen, sodass die beiden gleichzeitig „Autsch!“ riefen.
Der kleine Vogel setzte sich erschöpft ins Gras, hob sein Köpfchen, schaute in die Gesichter der verblüfften Querulanten und kam zu folgender Überzeugung: „Ich finde, ihr seid beide gleich mächtig. Jeder auf seine Art. Aber wenn ich euch einen Rat geben darf: Tut euch zusammen, dann seid ihr mit Gewissheit eine unüberwindliche Kraft!“
Die Riesen schauten sich erstaunt an und riefen wie aus einem Munde: „Wieso sind wir nicht selbst darauf gekommen?“
Von da an zogen sie Hand in Hand durch das Land. Alle Widrigkeiten bestritten sie gemeinsam und erfolgreich, denn Einigkeit macht stark!

Quelle: Carmen Kofler

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