„Morgen kommt Oma zu Besuch”, sagt Mama.
„Juhu, dann liest sie uns bestimmt wieder etwas vor”, jubelt Britta.
„Ich hole schon mal das Märchenbuch”, sagt Udo und geht zum Bücherregal. Er legt das Buch neben Omas Lieblingssessel bereit.
Oma hat immer Zeit für die Kinder und Vorlesen ist etwas, das allen Dreien am meisten Spaß macht.
Am nächsten Tag hat Oma kaum Zeit, sich den Mantel auszuziehen. Udo und Britta sind schon ganz ungeduldig. „Nun mal langsam”, lacht Oma, „erst brauche ich ein Tässchen Kaffee!”
Ach, das kann ja ewig dauern! Die Kinder wuseln um Oma herum. Die hat schließlich ein Einsehen mit ihnen und nimmt den Rest ihres Kaffees mit zum Sessel.
Sie setzt sich und die Kinder machen es sich zu ihren Füßen bequem.
Oma blättert ein bisschen im Buch hin und her. Dann sagt sie: „Ich glaube, diese Geschichte kennt ihr noch nicht!”
Sie beginnt zu lesen: „Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam …”
Britta schließt die Augen. Sie versucht, sich die ganze Sache vorzustellen. Wie kommt es, dass der König mit einem Müller spricht? Normalerweise treffen Könige und Müller ja nicht zusammen.
Britta kann vor ihrem inneren Auge sehen, wie der König mit einigen seiner Diener durch das Land reitet. Da sieht er in der Ferne eine Mühle mit großen Flügeln. So etwas hat er noch nie gesehen und wird daher neugierig.
„Was ist das da für ein seltsames Haus?”, fragt er seine Begleiter. Einer von ihnen antwortet: „Eine Mühle!” – „Eine waaaaas?”
„Eine Müh –le!” wiederholt der Diener und verdreht die Augen. Der König stellt manchmal aber auch zu dumme Fragen!
„Ach so”, sagt der König, „natüüüüüüürlich!”
Er denkt angestrengt nach, und schließlich fragt er: „Wozu braucht man so eine … äh, … Mühle?”
Die Diener sehen sich an und müssen ein Lachen verkneifen.
Kaum zu glauben, dass jemand nicht weiß, was eine Mühle ist! Einer der Bediensteten fasst sich endlich und antwortet:
„Zum Mahlen!””
Wieder sagt der König: „Ach so, natüüüüüüürlich!”, und wieder denkt er nach.
„Aber warum nimmt man nicht einfach Pinsel und Farbe zum Malen?”, fragt er nach einer Weile.
Die anderen sehen sich verzweifelt an. Aber sie kennen den König ja. Er weiß viele Dinge eben nicht.
Einer der Diener antwortet:
„Aber mit einer Mühle werden doch keine Bilder gemalt! Dort wird Korn gemahlen! Korn wird zu Mehl gemahlen!”
„Ach so, natüüüüüüüüüürlich!”, sagt der König, wie immer. „Aber warum denn?”, fragt er dann weiter. „Ist es nicht viel einfacher, das Mehl im Supermarkt zu kaufen?”
Der Diener, der nun antwortet, muss all seine Geduld aufwenden. „Aber das Mehl aus dem Supermarkt wird doch auch aus Korn gemahlen! Ohne Mühlen gäbe es kein Mehl, auch nicht im Supermarkt!”
Es ist klar, dass vom König wieder ein „Ach so, natüüüüüüüüüürlich!” kommt.
Dann sieht er den Müller, der einen Sack Mehl vor die Mühle stellt.
„Ist das da der Mahler?”, fragt er.
„Müller!”, verbessert ihn einer der Diener.
„Ach, du kennst den Mahler? Das ist also Herr Müller”, stellt der König zufrieden fest.
„Nein! Nein!”, schreit der andere verzweifelt. „Er ist Müller von Beruf, nicht Mahler!”
„Ach so, natüüüüüüüüüürlich! Sag ihm, dass ich ihn sprechen will. Aber dalli!”
„Jaaaa, jaaaa, Majestät”, antwortet der Untergebene und schlendert gemächlich auf den Müller zu.
„He, Müller”, sagt er, „der König will mit dir sprechen!”
Der Müller lässt vor Schreck den Mehlsack fallen.
„Waaaas? Mit mir?”, fragt er verwundert. „Wirklich? Welche Ehre! Ich eile! Ich fliege! Ich bin schon da!”
Er macht eine ungeschickte Verbeugung vor dem König. „Guten Tag, Herr König …“ Einer der Diener stößt ihn an. „… äh, Majestät!“ verbessert sich der Müller.
„Du bist also der Müller”, sagt der König, „und das ist deine Mühle! In der mahlst du Mehl für den Supermarkt. Denk nur nicht, dass ich das nicht weiß!”
Der Blick des Königs fällt auf Rosalinde, die Tochter des Müllers, die vor der Mühle am Spinnrad sitzt.
Er fragt: „Und wer ist das?”
„Das ist meine Tochter Rosalinde, Majestät”, sagt der Müller stolz.
„So, so! Müllert die auch?”, fragt der König.
Der Müller lacht. „Nein, Majestät, sie spinnt”, antwortet er. Der König fragt: „Du meinst … ?” und tippt sich an die Stirn.
„Nein, nein, ganz und gar nicht”, antwortet der Müller. „Sie spinnt mit dem Spinnrad!”
Der König versteht wieder nicht, was gemeint ist. Er sagt aber trotzdem: „Ach so, natüüüüüürlich! Mit dem Spinnrad! Was spinnt sie denn? Auch Korn zu Mehl?”
Der Müller sieht den König einen Moment verblüfft an, aber dann denkt er, dass das ein Scherz war und will es dem König gleichtun: „Ja, ja! Korn zu Mehl, Wolle zu Garn, Stroh zu Gold!”
Der König hört sein Lieblingswort, Gold, und fällt fast vom Pferd vor Aufregung.
Er schreit: „Stroh zu Gold?”
Der Müller freut sich, dass sein Witz beim König so gut angekommen ist, und sagt gut gelaunt: „Ja, ja, natürlich! Den ganzen Tag lang! Rosalinde ist sehr geschickt!”
Der König ist ganz aus dem Häuschen und sagt: „Müller, deine Tochter gefällt mir! Schick sie heute Abend aufs Schloss! Sie soll mir etwas vorspinnen!”
Der Müller merkt, dass der König angetan ist von Rosalindes Fähigkeiten und sagt: „Aber natürlich, Majestät! Wie Sie wünschen, Majestät! Nur zu gerne, Majestät! Heute Abend ist sie im Schloss!” Er verbeugt sich mehrmals tief und der König reitet davon, wobei er leise in sich hineinkichert und sagt: „Stroh zu Gold! So etwas habe ich schon lange gesucht! Ich werde der reichste Herrscher der Welt sein!”
Vor der Mühle steht immer noch der Müller und sieht dem Davonreitenden nach. Ein netter Mann, denkt er, und er versteht Spaß! Schließlich dreht der Müller sich aber zu seiner Tochter um. „Rosalinde”, ruft er, „es gibt gute Neuigkeiten! Zieh dein bestes Kleid an!” – „Mein bestes Kleid?”, sagt Rosalinde erstaunt. „Aber Vater, ich habe doch nur dieses eine Kleid!” – „Hm, äh … na ja, dann klopf ein bisschen das Mehl ab und streich es glatt. Du sollst heute Abend aufs Schloss gehen!”
„Aufs Schloss? Ich? Aber warum denn, Vater?”, fragt Rosalinde. „Der König ist beeindruckt, weil du so geschickt im Spinnen bist. Sicher will er dir Arbeit in der königlichen Spinnerei geben. Das wird gut bezahlt und dann können wir endlich das Mühldach und die Wände reparieren!” Rosalinde freut sich über diese gute Nachricht. „Wie schön”, sagt sie. „Ich gehe gerne. Ich mache mich gleich fertig!” Sie geht auf die Mühle zu, aber der Müller ruft sie noch einmal zurück: „Halt, warte einen Augenblick! Ich glaube, ich habe noch etwas für dich!”
Er läuft in die Mühle und kommt kurz darauf mit einem kleinen Kästchen zurück. „Hier, das ist der Schmuck, der deiner Mutter gehört hat. Du solltest ihn erst später bekommen, aber ich glaube, heute ist ein so besonderer Tag, dass ich dir den Ring und das Halsband jetzt schon gebe. Du sollst doch hübsch aussehen, wenn du in der königlichen Spinnerei arbeitest!”
Rosalinde fällt ihrem Vater um den Hals und ruft: „Danke, Vater! Vielen Dank! Wie schön der Schmuck ist! Ich werde ihn in Ehren halten!“ Sie legt sich die Kette um den Hals und steckt den Ring auf ihren Finger.
„Halt, Großmutter”, ruft Britta da. Die Großmutter sieht vom Buch auf und Britta sagt: „Der König ist ja ganz schön dumm!” – „Ja”, stimmt Udo ihr zu, „hat er nicht gesehen, wie arm der Müller ist? Wenn seine Tochter wirklich Stroh zu Gold spinnen könnte, dann wären die beiden doch reich! Die arme Rosalinde! Sie ahnt gar nicht, was auf sie zukommt! Von wegen Job in der Schlossspinnerei!”
„Ja”, pflichtet Britta ihm bei, „wir müssen sie warnen!” Und schon rufen beide Kinder: „Rosalinde! Halt, geh nicht!”
„Aber warum denn nicht?”, hören sie da eine Stimme. Sie schließen ihre Augen und schon steht Rosalinde vor ihnen. „Wer seid ihr denn überhaupt?” „Hallo! Ich heiße Udo und das ist meine Schwester Britta. Wir wollen dich warnen. Wir haben das Gespräch zwischen deinem Vater und dem König gehört. Dein Vater hat einen Scherz gemacht, und nun glaubt der dumme König, dass du Stroh zu Gold spinnen kannst!” – „Oder kannst du das etwa wirklich?”, fragt Britta. „Ach du liebe Zeit! Nein, natürlich kann ich das nicht. Was mache ich nur?”
„Du musst auf jeden Fall erst mal zum Schloss gehen”, entscheidet Britta. „Aber mach dir keine Sorgen, wir werden dir helfen!” – „Ja, könnt ihr denn Stroh zu Gold spinnen?”, fragt Rosalinde verwundert. „Nein, leider auch nicht. Wir können noch nicht einmal Wolle zu Garn spinnen! Aber wir bleiben in deiner Nähe. Irgendetwas wird uns schon einfallen”, sagt Udo. „Der König ist so dumm, den können wir sicher leicht täuschen.”
„Ich bin froh, dass ihr mir helfen wollt. Danke! Und jetzt muss ich mich fertig machen fürs Schloss. Bis später!”
Britta und Udo öffnen die Augen wieder. „Wie geht es weiter, Großmutter?”, fragen sie.
Und Großmutter fährt fort: „Als nun das Mädchen zum König geführt wurde, geleitete er es in eine Kammer, die voller Stroh lag, gab ihr Rad und Haspel und sprach: „ …
Die Kinder hören wieder mit geschlossenen Augen zu, um sich alles besser vorstellen zu können: Die strohgefüllte Kammer, das Spinnrad und vor allem Rosalinde und den König, …
…der gerade sagt: „Mach dich an die Arbeit und spinne dieses Stroh zu Gold! Wenn du es bis morgen Früh nicht geschafft hast, musst du sterben!“
Einer der Wächter, die den König begleiten, wispert hinter vorgehaltener Hand dem anderen Wächter zu: „Der spinnt ja, der König!” Der König hat das natürlich nicht gehört und fährt fort: „Ich schließe die Tür ab. Die Wachen bleiben davor stehen. Morgen Früh komme ich wieder. Und jetzt gehe ich schlafen und träume von Gold! Gooooooooooold!” Er gähnt herzhaft, weist den Wachen ihren Platz vor der Tür zu und geht.
Nun sagt auch der zweite Wächter kopfschüttelnd, aber viel lauter: „Der König spinnt ja!” Die beiden Wachen setzen sich bequem vor der Kammertür hin und ziehen ein Kartenspiel aus der Tasche.
Die verzweifelte Rosalinde sitzt während dessen am Spinnrad und weiß nicht, wie sie die vom König gestellte Aufgabe erfüllen soll. Sie nimmt ein Strohbüschel und versucht, es zu spinnen, aber vergebens. Es gibt nicht einmal Garn, geschweige denn Gold! Sie seufzt tief auf. „Ich kann das nicht”, stöhnt sie, „und der König wird mich töten!”
Britta unterbricht die Geschichte wieder. „Udo”, sagt sie, „ jetzt müssen wir uns etwas einfallen lassen! Wie können wir Rosalinde helfen?” Beide überlegen, und schließlich meint Udo: „Hm, vielleicht könnten wir das Stroh mit Goldlametta vertauschen?” – „Ich weiß nicht”, antwortet Britta, „wo sollen wir so schnell so viel Lametta herbekommen? Aber- warte mal, wie wäre es mit Goldspray?” – „Au ja“, sagt Udo, „prima Idee! Ich habe noch eine Dose in meinem Zimmer. Ich hole sie gleich!” Er springt auf. Britta hat inzwischen wieder die Augen geschlossen, um nach Rosalinde zu sehen. Da bemerkt sie, dass ein kleines, merkwürdig aussehendes Männchen die Kammer betritt.
„Warte, Udo”, ruft sie. „Sieh doch mal!” Schnell schließt auch Udo die Augen und sieht, wie das Männchen auf Rosalinde zugeht und sagt: „Guten Abend, Rosalinde!” Rosalinde, die vor lauter Kummer und Tränen den kleinen Mann noch nicht bemerkt hatte, fährt zusammen. „Wer bist du? Und woher kennst du meinen Namen?”, fragt sie. „Ich weiß viele Dinge über dich”, sagt er, „zum Beispiel auch, dass du Stroh zu Gold spinnen sollst, es aber nicht kannst!” Rosalinde weiß nicht recht, was sie von dem Winzling halten soll und fragt noch einmal: „Wer bist du? Wie heißt du?”
Aber das Männchen sagt nur: „Ich bin ein Freund. Mein Name tut nichts zur Sache. Wichtig ist nur, dass ich weiß, wie man Stroh zu Gold spinnt. Ich kann dir helfen.“ Rosalinde fällt ein Stein vom Herzen. „Wirklich? Da bin ich aber froh! Du rettest mein Leben!“ – „Du musst mir aber etwas dafür geben! Etwas, das dir gehört!“, sagt der kleine Kerl. Einen Augenblick lang sieht Rosalinde wieder so verzweifelt aus wie zuvor und sagt: „Aber ich habe doch nichts!“ Doch dann fällt ihr etwas ein. „Warte, ich habe ja etwas! Mein Vater hat mir heute dieses goldene Halsband gegeben! Willst du es haben?“
Sie nimmt die Kette ab und gibt sie dem kleinen Mann, der sie nimmt und genau ansieht. „Dein Halsband ist wunderschön! Ja, dafür spinne ich dir das Stroh zu Gold!”
Er steckt das Halsband sorgfältig ein und erstarrt erschrocken, als Britta und Udo die Kammer betreten. „He, du”, ruft Udo und geht auf ihn zu, „warum machst du das?”
Der Gnom dreht sich zu den Kindern um. „Wer seid ihr?”, fragt er erschrocken.
„Wir sind Freunde von Rosalinde. Wir wollten ihr helfen, aber du bist uns zuvorgekommen”, erklärt Udo.
„Ja, könnt ihr denn auch Stroh zu Gold spinnen?”, fragt das Männchen erstaunt.
„Das nicht”, gibt Britta zu. „Aber wir wollten das Stroh mit Goldspray färben. Der dumme König hätte das gar nicht gemerkt!”
Aber der Kleine schüttelt den Kopf. „Täuscht euch nicht! Der Alte ist zwar dumm, aber mit Gold kennt er sich aus. Er hätte euren Schwindel sofort bemerkt und die arme Rosalinde getötet!”
„Oh nein, da hätten wir ja fast etwas Schlimmes angerichtet”, sagt Udo erschrocken.
„Na, ich bin ja noch rechtzeitig gekommen, um sie zu retten” beruhigt ihn das Männchen.
„Du kannst wirklich Stroh zu Gold spinnen?”, fragt Britta, die das alles noch nicht so recht glauben kann.
„Ja, das kann ich”, nickt der Winzling. „Es ist ein altes Familiengeheimnis, das ich von meiner Mutter gelernt habe. Seit vielen, vielen Generationen verstehen wir uns auf diese Kunst.”
„Dann verstehe ich eins nicht“, wirft Udo ein. „Du kannst dir doch jederzeit so viel Gold spinnen, wie du nur willst Gold, das viel mehr wert ist als Rosalindes Halsband. Warum hast du das Schmuckstück trotzdem als Belohnung haben wollen?“ Das Männchen schmunzelt und sagt: „Weil es Rosalindes Halsband ist. Das ist es, was es für mich wertvoll macht.”
„Du musst schrecklich reich sein”, sagt Udo ehrfürchtig.
Aber der kleine Kerl schüttelt den Kopf. „Nein, das bin ich nicht! Ich habe nämlich gemerkt, dass Gold nicht glücklich macht. Je mehr man hat, desto unzufriedener wird man. Man will immer mehr. Genau wie der König. Deshalb übe ich meine Kunst nur sehr selten aus. Ich hoffe nur, ich bin nicht aus der Übung!
Aber jetzt geht, ich muss mich an die Arbeit machen. Es dämmert schon bald!”
Der Gnom setzt sich ans Spinnrad und die Kinder gehen zur Großmutter zurück.
„Wie geht es weiter, Großmutter? Hoffentlich kann er Rosalinde retten!”
Die Großmutter nimmt das Buch wieder auf und liest weiter:
„Das Männchen setzte sich vor das Rädchen, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die Spule voll. Dann steckte es eine andere auf, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, da war auch die zweite Spule voll. Und so ging’s fort bis zum Morgen, da war alles Stroh versponnen, und alle Spulen waren voll Gold …“
Die Kinder schließen wieder die Augen. Das Männchen legt gerade die Goldspulen in einen großen Korb.
Die Wachen, die während des Spinnens zuerst ein paarmal an der Tür gehorcht haben, sind längst eingeschlafen und liegen laut schnarchend vor der Tür auf dem Boden.
Bald hat der kleine Mann die Arbeit beendet und verschwindet lautlos. Rosalinde ist auch eingeschlafen; sie wacht erst auf, als ihr Helfer schon weg ist. Als der König mit schnellen Schritten auf die Tür zukommt, schrecken die Wachen aus dem Schlaf auf und stellen sich eilig hin.
„Guten Morgen, Majestät! Haben Sie gut geschlafen?”, fragen sie gähnend.
„Ach was”, antwortet der König ungeduldig, „vor lauter Aufregung konnte ich kaum ein Auge zutun! Ich habe nur Stroh im Kopf! – Äh, Gold, meine ich natürlich. Lasst mich in die Kammer! Los, los, nun schließt doch endlich auf!”
Einer der Wächter schließt umständlich auf und öffnet die Tür weit. Der König bleibt einen Augenblick geblendet stehen, dann stürmt er an Rosalinde vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Er befühlt das Gold, beißt darauf, wirft es hoch und tanzt jubelnd herum.
Die Wachen sehen sich kopfschüttelnd an. „Der spinnt, der König,”, sagt einer von ihnen und der andere nickt zustimmend.
Plötzlich fällt der Blick des Herrschers auf Rosalinde. Er hält abrupt in seinem Freudentanz inne und nimmt Haltung an. Er weist auf das viele Gold und sagt: „Hm, nun ja, nicht schlecht. Nicht schlecht für den Anfang. Du kannst dich jetzt ein wenig ausruhen. Heute Abend werde ich dir neues Stroh bringen lassen, das du in der Nacht wieder zu Gold spinnen wirst, wenn dir dein Leben lieb ist!“ Rosalinde wird blass vor Schrecken und Tränen treten in ihre Augen. Der König merkt davon natürlich nichts und geht mit den Wachen weg, die ächzend und stöhnend die schweren Goldkörbe hinter ihm herschleppen.
Britta unterbricht die Großmutter wieder: „Hat denn der gierige König noch immer nicht genug Gold? Wie soll das nur weitergehen?”
Udo überlegt, ob das Männchen wohl noch einmal kommen wird.
„Hoffentlich, sonst ist Rosalinde verloren”, sagt Britta, „Großmutter, lies bitte weiter!”
Und Großmutter fährt fort:
„Der König ließ der Müllerstochter noch viel mehr Stroh als in der ersten Nacht bringen und befahl ihr, auch das in einer Nacht zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb wäre …”
Britta und Udo sehen den König mit den Wachen kommen, die ständig neues Stroh herbeischleppen müssen. Endlich ist er mit der Menge zufrieden. Er überzeugt sich davon, dass die Müllerstochter eingesperrt wird, dann geht er gähnend davon, während die Wachen es sich wieder vor der Tür bequem machen.
„Ob der kleine Helfer heute kommt?”, fragt Britta. „Wenn nicht, dann haben wir ein großes Problem”, antwortet Udo und sieht die arme Rosalinde mitleidig an. Sie sitzt am Spinnrad und hat den Kopf auf die Arme gelegt. Ihre Schultern zucken. Ob sie weint?
Aber sie brauchen sich nicht lange Sorgen zu machen, denn schon nach wenigen Momenten steht das Männchen wieder in der Kammer und sagt: „Guten Abend, Rosalinde! Ich sehe, du brauchst wieder meine Hilfe!” Mit einem Seufzer der Erleichterung springt das Mädchen auf.
„Ach, was bin ich froh, dass du wieder hier bist”, ruft es erleichtert.
„Was gibst du mir heute als Belohnung?”, will der Kleine wissen.
„Das hier”, antwortet Rosalinde und zieht den Ring vom Finger.
Das Männchen sieht die Kostbarkeit an, nickt und steckt sie sorgfältig ein. „Gut, dafür spinne ich dir das Stroh”, sagt es, setzt sich ans Spinnrad und beginnt.
„Hoffentlich reicht das dem König nun endlich! Es kann ja nicht Nacht für Nacht so weitergehen”, sagt Britta.
„Er hat jetzt schon viel mehr, als er je ausgeben kann. Und zufrieden scheint ihn das viele Gold auch nicht zu machen. Er wird anscheinend immer gieriger”, meint Udo.
Der kleine Mann hat inzwischen alles Stroh versponnen, verabschiedet sich von Rosalinde und verschwindet.
Bald hört man Schritte und die Wachen springen hastig auf. Der König kommt, lässt die Kammer aufschließen und betrachtet das Gold. Er beherrscht sich beim Anblick der funkelnden Pracht diesmal und nickt nur mit dem Kopf.
„Gut, gut”, sagt er, „ich sehe, du verstehst dein Handwerk. Du wirst auch in der kommenden Nacht Stroh spinnen. Wenn es dir wieder gelingt, werde ich dich zu meiner Frau machen!”
Entsetzt sieht Rosalinde den König an. „Aber … aber … Ich kann Euch nicht heiraten, Majestät”, stottert sie.
„Kein Aber”, fährt der König ihr über den Mund, „wenn es dir nicht gelingt, wirst du sterben, anderenfalls wirst du meine Frau. Basta! Ich bin der König, und was ich befehle, das geschieht auch!”
Er sieht, dass die Wachen prustend lachen und verbessert sich: „Äh- meistens jedenfalls!”
Der König lässt die verstörte Rosalinde allein zurück. Die Wachen nehmen das Gold mit und kommen gleich darauf mit neuem Stroh zurück. Es ist diesmal so viel, dass in der Kammer kaum noch Platz für Rosalinde und ihr Spinnrad bleibt.
Britta und Udo haben das Geschehen entsetzt mitverfolgt. Britta stöhnt: „Das ist ja schrecklich!” Udo nickt und sagt: „Wenn ihr Helfer nicht noch einmal kommt, muss sie sterben!” Britta malt sich die Situation aus und schaudert. Sie sagt: „Und selbst wenn es kommt- sie hat ihm doch all ihren Schmuck gegeben und hat nun nichts mehr, um es zu belohnen!”
Udo gibt ihr Recht: „Stimmt, aber vielleicht spinnt das Männchen ihr das Stroh ausnahmsweise diesmal umsonst?” Britta denkt darüber nach und meint dann: „Schon möglich, aber dann muss sie diesen dummen, gierigen König heiraten!”
Die Vorstellung gefällt beiden Kindern nicht. „Stell dir vor”, sagt Udo, „wenn er nach der Hochzeit wieder von ihr verlangt, Stroh zu spinnen! Das Männchen wird ihr dann ja sicher nicht mehr helfen!” – „Es ist eine Katastrophe”, stimmt Britta ihm zu, „wie können wir Rosalinde nur helfen?”
Den beiden Kindern fällt aber nichts ein und sie können nur hoffen, dass sich alles irgendwie zum Guten wendet.
„Großmutter, wie geht die Geschichte weiter? Kommt das Männchen ein drittes Mal?”, fragen sie.
Großmutter liest weiter und Britta und Udo verfolgen das Geschehen wieder mit geschlossenen Augen.
„Als das Mädchen allein war, kam das Männlein zum dritten Mal wieder und sprach: …”
„Da bin ich wieder, Rosalinde! Ich werde dir auch noch ein drittes Mal helfen. Was gibst du mir heute für meine Hilfe?”
Rosalinde ist den Tränen nahe. „Ich habe nichts mehr, was ich dir geben könnte”, sagt sie verzweifelt.
„Der König wird dich heiraten und du wirst Kinder bekommen. Gib mir dein erstes Kind!”, fordert das Männchen.
Udo und Britta öffnen die Augen und sehen sich erschrocken an. „Halt! Das geht doch nicht! Er kann Rosalinde doch nicht das Kind wegnehmen!”, ruft Britta.
„Großmutter, sag uns schnell, wie die Geschichte ausgeht! Nimmt das Männchen Rosalinde wirklich ihr erstes Kind weg? Und was wird aus dem Männchen?”
Die Großmutter liest diesmal nicht, sondern erzählt: „Die Müllerstochter heiratet den König, bekommt ein Kind und das Männchen kommt, um die Müllerstochter, die jetzt Königin ist, an ihr Versprechen zu erinnern. Als die Königin es bittet, ihr Kind behalten zu dürfen, gibt der kleine Kerl ihr noch eine Chance: Sie soll seinen Namen herausfinden. Das gelingt ihr tatsächlich, und vor Enttäuschung reißt sich das Männchen selber mitten entzwei.”
„Oh nein, das darf nicht passieren!”, sagt Udo entsetzt. „Auch wenn ich nicht verstehe, warum das Männchen so gemein ist, das erste Kind zu fordern.”
„Komm, Udo“, drängt Britta, „wir müssen mit den beiden reden!“ Udo und Britta laufen zu dem Gnom.
„Du bist grausam! Du willst Rosalinde ihr Kind wegnehmen! Wie kannst du so etwas verlangen?”
Das Männchen dreht sich zu ihnen um und antwortet: „Ich weiß, es klingt schrecklich. Aber ich will euch verraten, warum ich das Kind möchte. Wenn Rosalinde den König heiratet, wird sie vielleicht mit der Zeit genauso habgierig wie der König. Sie wird ihre Herkunft vergessen, sich nicht mehr an ihren Vater und die Mühle erinnern und sie wird nicht mehr wissen, wie es ist, glücklich zu sein. Auch ihre Kinder werden dann nicht glücklich sein. Die Königin wird verschiedene Kindermädchen für sie anstellen und selbst keine Zeit für sie haben. Ich aber bin sehr einsam. Ich möchte Gesellschaft haben. Ich kann das Kind großziehen und es wird glücklich bei mir sein. Ich werde das Kind spinnen lehren und ihm beibringen, mit dieser Kunst Menschen in Not zu helfen. So wird meine Spinnkunst nicht verloren gehen.”
Das Männchen macht eine kurze Pause und fährt dann leise fort: „Und das Kind wird mich immer an Rosalinde, so, wie sie heute ist, erinnern.”
„Du hast Rosalinde gern, nicht?”, fragt Udo.
„Ja, das stimmt”, bestätigt das Männchen.
Udo und Britta sehen sich an und gehen zu Rosalinde.
„Rosalinde, willst du den König heiraten?”, fragt Britta.
Rosalinde schüttelt den Kopf und sagt: „Nein, natürlich nicht! Er ist grässlich! Aber – sterben möchte ich natürlich auch nicht …”
„Wenn du den König nicht heiraten willst”, tastet sich Britta vorsichtig vor, „was ist es dann, was du gerne möchtest?”
„Ich möchte weggehen, weit weg vom König, weit weg vom Schloss!” Rosalinde zögert einen Augenblick und fährt dann fort: „Am liebsten … am liebsten würde ich mit dem Männchen gehen! Es war gut zu mir, und es ist bestimmt schrecklich einsam, sonst hätte es nicht um mein erstes Kind gebeten!”
„Magst du den kleinen Kerl, Rosalinde?”, fragt Udo.
„Ja, ich mag ihn sehr gerne”, sagt Rosalinde.
Britta und Udo sehen sich an und laufen dann zum Männchen.
Aufgeregt sagt Britta: „Es gibt da vielleicht noch eine andere Möglichkeit!
Rosalinde will den König gar nicht heiraten! Aber sie mag dich!”
Das Männchen sieht die beiden einen Augenblick verwundert an und dann breitet sich ein Strahlen über seinem Gesicht aus. „Mich? Wirklich? Ihr meint …?”
„Na klar, das wäre doch die Lösung”, ruft Udo, „ihr mögt euch, du möchtest nicht mehr allein sein- was meinst du dazu?”
„Und ich hatte geglaubt, sie wollte den König heiraten! Juhu“, jubelt der Kleine, doch dann hält er plötzlich inne. „Aber- will sie mich vielleicht nur deshalb, weil sie hofft, dass ich ihr mit meinem Spinnen zu Reichtum verhelfen kann?”
„Das werden wir schon für dich herausfinden”, sagt Udo. „Lass uns das nur machen!”
Britta und Udo laufen zurück zu Rosalinde, wobei sie miteinander tuscheln.
„Rosalinde”, verkünden sie, „wir haben gute Nachrichten für dich! Das Männchen mag dich auch und würde dich gerne zu sich mitnehmen!”
„Wirklich? Oh, was freue ich mich”, antwortet Rosalinde.
„Hm, ja, die Sache hat nur einen Haken”, dämpft Britta ihre Freude. „Wenn das Männchen dich mitnimmt, verliert es seine Fähigkeit, Stroh zu Gold zu spinnen. Ihm macht das nichts aus, solange es nur nicht mehr einsam ist. Du müsstest allerdings bereit sein, auf eine Zukunft mit Gold und Reichtum zu verzichten!”
Rosalinde lacht und sagt: „Ach, wenn es weiter nichts ist! Was bedeutet Reichtum! Gold macht nicht zufrieden, das habe ich am König gesehen! Ich kann gutes Garn spinnen, das wird reichen, um genug zum Leben zu verdienen! Gold brauche ich nicht!” Britta und Udo sind sichtlich erleichtert. Sie nehmen Rosalinde an die Hand und ziehen sie mit sich zum Männchen.
„Rosalinde möchte auch dann mit dir gehen, wenn du dadurch deine Fähigkeit zum Goldspinnen verlierst”, verkündet Udo.
Das Männchen sieht ihn verwirrt an.
„Meine Fähigkeit zum Goldspinnen? Wieso, was meint ihr damit?”, fragt es, aber dann lacht es plötzlich. „Ach so, ich verstehe!”
Es nimmt beide Hände von Rosalinde und wirbelt sie herum, wobei es singt: „Heute back‘ ich, morgen brau‘ ich, übermorgen führ‘ ich die Müllerstochter heim! Und ich will, dass jeder weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß‘!“ Britta und Udo sehen dem tanzenden Paar zu.
„Endlich wissen wir deinen Namen, Rumpelstilzchen”, sagt Britta.
„Den kennen nur meine besten Freunde”, erwidert Rumpelstilzchen. „Es braucht doch nicht jeder Hinz und Kunz meinen Namen zu wissen! Aber ihr seid meine Freunde, denn ihr habt mich vor dem schrecklichen Tod bewahrt, den ich im Buch eurer Großmutter sterben sollte. Ich danke euch sehr! Kommt zu unserer Hochzeit und bringt auch eure Großmutter mit- aber ohne ihr dickes Buch!”
„Wir kommen gerne, Rumpelstilzchen! Aber solltest du Rosalinde nicht noch etwas Wichtiges erzählen?”
„Ja, richtig!“, sagt das Männlein. „Rosalinde, die Kinder haben dich nur auf die Probe gestellt. Sie wollten wissen, ob du wirklich mich magst oder nur meine Gabe, Gold zu spinnen. Ich verliere diese Fähigkeit gar nicht. Allerdings werde ich kaum davon Gebrauch machen- nur, um anderen zu helfen. Und der erste, dem ich helfen will, ist dein Vater, der Geld für die Reparatur seiner Mühle braucht.“
Rosalinde fällt Rumpelstilzchen um den Hals.
Britta und Udo öffnen ihre Augen. „Na, das ist ja gerade noch mal gut gegangen“, sagt Großmutter. „Ich bin froh, dass ihr Rumpelstilzchen und Rosalinde geholfen habt! Ich finde das neue Ende des Märchens viel schöner!”
„Wir auch!”, rufen die Kinder wie aus einem Munde.
Quelle: Eva Zimmermann