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Märchenbasar

Ich

1.5
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In einer kleinen Hütte, weit entfernt von Stadt und Dorf, lebte einst eine arme Witwe ganz allein mit ihrem sechsjährigen Knaben.
Vor der Hütte erhob sich ein Berg, und ringsum erstreckten sich Sümpfe; ungeheure Felsblöcke umschlossen sumpfige Höhlen; kein Haus, kein lebendes Wesen weit und breit. Ihre nächsten Nachbarn waren die Elfen unten im Thal und die Irrwische drüben im Moor.
Die arme Witwe wusste gar viel zu erzählen von den Elfen, die in den Eichbäumen einander zuriefen, und von den tanzenden Lichtern, die in dunkeln Nächten bis ans Fenstersims heranhüpften. Doch blieb sie trotzdem von Jahr zu Jahr in der einsamen Hütte, vielleicht weil sie niemand dafür Zins zu zahlen hatte.
Sie liebte es nicht, am Abend, wenn das Feuer heruntergebrannt war und man nicht wusste, was alles geschehen konnte, lange aufzusitzen; gewöhnlich unterhielt sie das Feuer bis nach dem Abendessen und gieng dann gleich zu Bette. Wenn dann etwas Schreckliches vorgieng, so konnte sie wenigstens ihren Kopf unter die Decke stecken.
Aber ihr kleiner Sohn mochte nicht so zeitig schlafen gehen; wenn seine Mutter ihn rief, so spielte er ruhig neben dem Feuer weiter, als ob er sie nicht gehört hätte.
Von seiner Geburt an war es schwer gewesen, mit ihm auszukommen, und seine Mutter hatte nicht das Herz, ihn hart anzufassen. Je mehr sie bestrebt war, seinen Gehorsam zu erzwingen, desto weniger achtete er auf ihre Worte; gewöhnlich setzte er seinen Willen durch.
Aber an einem Winterabende konnte sich die Witwe nicht entschließen, zu Bett zu gehen, während er noch beim Feuer spielte. Der Wind heulte und rüttelte an Thür und Fenster, und sie wusste sehr wohl, dass in solchen Nächten Elfen und Kobolde ihr Wesen trieben und Böses im Schilde führten. So versuchte sie denn, den Knaben zu überreden, dass er zu Bett gehe.
»In solcher Nacht ist man am besten in seinem Bette aufgehoben,« sagte sie.
Aber er wollte nicht.
Da drohte sie ihm mit Schlägen. Auch das fruchtete nicht.
Je mehr sie bat und schalt, desto mehr schüttelte er verneinend den Kopf, und als sie endlich die Geduld verlor und ihm sagte, dass ganz sicher die Elfen kommen und ihn holen würden, da lachte er und sagte, er wünsche sich nichts Besseres, er möchte so gern einmal mit einem Elfenkinde spielen.
Nun brach seine Mutter in Thränen aus und gieng verzweifelt zu Bette, denn sie fürchtete, nach solcher Rede würde sicher etwas Schreckliches geschehen. Der Knabe aber blieb ruhig auf seinem Sessel neben dem Feuer sitzen; das Weinen der Mutter gieng ihm durchaus nicht nahe.
Nicht lange hatte er so allein dagesessen, als er im Kamin etwas flattern hörte, und im selben Augenblicke befand sich das winzigste Mädchen, das man sich nur denken konnte, an seiner Seite. Es war kaum eine Spanne hoch, hatte grasgrüne Augen, schimmerndes Silberhaar und Wangen wie Pfingströslein.
Überrascht blickte der kleine Junge sie an.
»Ach!« rief er aus, »wie heißest du?«
»Ich,« antwortete sie mit einer etwas schrillen, aber doch sehr lieblichen Stimme und blickte ihn an. »Und du?«
Vorsichtig erwiderte der Knabe: »Auch mein Name ist Ich.«
Und sie begannen miteinander zu spielen.
Sie zeigte ihm einige schöne Kunststücke. Aus der Asche machte sie Thiere, die bewegten sich und sahen aus, als wären sie lebendig; dann wieder Bäume mit grünen Blättern und winzige Häuschen, in denen befanden sich Männlein und Weiblein, die waren nur einen Zoll hoch, und wenn sie die anhauchte, so konnten sie gehen und sprechen wie wirkliche Menschen.
Aber das Feuer war heruntergebrannt, und es war dunkel geworden; da schürte der Knabe es mit einem Stocke. Plötzlich fiel eine glühende Kohle heraus, und zwar auf das winzige Füßlein des Elfenkindes.
Da begann sie so furchtbar zu quietschen, dass ihr Spielgefährte den Stock fallen ließ und sich mit den Händen die Ohren zuhielt; immer schriller wurde das gellende Geschrei, bis es endlich nicht anders klang, als wie wenn der ganze Wind von der ganzen Welt durch ein winziges Schlüsselloch pfiffe.
Wieder flatterte etwas im Kamin, aber diesmal wartete der Knabe nicht, um zu sehen, was es sei, sondern verkroch sich eiligst ins Bett und horchte zitternd und zagend.
Da ertönte eine scharfe Stimme: »Wer ist dort, und was ist los?«
»Ich,« schluchzte das Elfenkind, »mein Fuß ist verbrannt! Oh weh, oh weh!«
»Wer hat das gethan?« fragte dieselbe Stimme zornig. Sie schien näher gekommen zu sein, und der Knabe, der vorsichtig unter der Bettdecke hervorlugte, konnte deutlich ein blasses Gesicht in der Rauchfangöffnung sehen.
»Ich!« weinte das Elfenkind.
»Wenn du es selbst gethan hast,« schrie die schrille Stimme der Mutter, »warum machst du dann so ein Geschrei?«
Mit diesen Worten streckte sie ihren langen, dünnen Arm aus, fasste das Töchterlein am Ohr, zauste es tüchtig und zog es daran den Rauchfang hinauf.
Lange lag der Knabe noch wach da, immer in banger Erwartung, dass die Elfenmutter nochmals zurückkommen würde.
Zur großen Überraschung seiner Mutter war er am folgenden Abend gleich nach dem Essen bereit, zu Bett zu gehen.
»Endlich eine Wendung zum Bessern!« sagte die Witwe zu sich.
Der Knabe aber dachte gerade bei sich, dass er, wenn er wieder einmal mit einem Elfenkind spielen sollte, vielleicht nicht so leicht davonkommen würde wie das erstemal.

[Anna Kellner: Englische Märchen]

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