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Ivas‘ und die Hexe

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Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten einen Sohn, der hieß Ivas‘. Und Ivas‘ bat seinen Vater: »Väterchen, Väterchen, bau mir einen Kahn; ich will Fische fangen und euch ernähren.« Da machte ihm der Vater einen Kahn, und Ivas‘ fuhr hinaus auf den Fluß, fing Fische und ernährte Vater und Mutter. Doch wenn die Mittagszeit kam, brachte ihm die Mutter das Essen, ging ans Ufer und rief:

»Ivas‘, mein Söhnlein,
Im goldenen Kähnlein,
Mit silbernem Ruder,
Fahr her geschwind,
Mein liebes Kind!«

Ivas‘ hörte es und sprach zu seinem Kahn:

»Näher, näher fahr ans Ufer!
Mein Mütterlein hat mich gerufen!«

Da schwamm der Kahn heran; Ivas‘ gab der Mutter die Fische, aß sich satt und fuhr wieder davon.
Die Hexe war aber neidisch auf Mann und Frau, weil sie einen so braven Sohn hatten, und fügte ihnen auf alle Arten Böses zu. Einmal waren die Ähren auf dem Felde zu Büscheln ineinander verflochten, ein andermal hatte irgendwer Fäden über die Türöffnung hin gespannt oder einen Pferdeschädel auf die Schwelle gelegt; dann wieder war Mehl gestreut oder die Ecke der Hütte mit Blut beschmiert. Doch Mann und Frau beteten zu Gott und gedachten auch der Abgeschiedenen, so ging endlich der Spuk vorüber, ohne Schaden anzurichten. Da rief aber die Hexe aus: »Na, wartet nur!« lief an das Ufer und lockte den jungen Ivas‘:

»Ivas‘, mein Söhnlein,
Im goldenen Kähnlein,
Mit silbernem Ruder,
Fahr her geschwind,
Mein liebes Kind!«

Ivas‘ hörte jedoch, daß die Stimme grob war und befahl dem Kahn:

»Weiter, weiter fort vom Ufer!
Mutter war’s nicht, die gerufen!«

Da ging die Hexe zum Schmied und bat: »Schmied, lieber Schmied, mach mir eine so feine Stimme, wie die Mutter vom Ivas‘ sie hat!« Er schmiedete ihr solch eine Stimme, und sie ging abermals an das Ufer und rief:

»Ivas‘, mein Söhnlein,
Im goldenen Kähnlein,
Mit silbernem Ruder,
Fahr her geschwind,
Mein liebes Kind!«

Da kam er heran; sie aber packte ihn, steckte ihn in einen eisernen Sack und trug ihn zu sich heim. Und als sie vor der Tür anlangte, rief sie: »Hündin-Helenchen, mach auf!« Da öffnete die Tochter Hündin-Helenchen die Türe. Die Hexe zog nun Ivas‘ ein reines Hemd und Hosen an und gab ihm Nüsse und einen Mörser. Er knackte die Nüsse und aß sie auf. Die Hexe aber flüsterte heimlich der Tochter zu: »Heiz den Ofen, setz den Burschen hinein und sperr zu; dann räum hier alles sauber auf, ich aber will fortgehn und Gäste rufen.«
Sie machte sich auf. Hündin-Helenchen heizte den Ofen und legte die Schaufel bereit. »Setz dich auf die Schaufel, Ivas’yk!« befahl sie. Da legte er ein Bein drauf.
Doch sie sagte: »Nicht so.« Er legte eine Hand drauf. »Nicht doch so!« sprach sie. »Aber setz du dich doch auf die Schaufel«, sagte Ivas‘, »und zeig mir, wie ich sitzen soll.« Allein, kaum hatte sie sich draufgesetzt, da packte Ivas‘ die Schaufel und schob sie samt dem Mädchen in den Ofen; wie fing sie dort über dem Feuer an zu brutzeln! Ivas‘ schloß die Ofenklappe fest zu und sperrte die Hexentochter ein. Dann räumte er in der Hütte auf, ging hinaus, schloß ab und kletterte auf einen sehr, sehr hohen Ahornbaum.
Als die Hexe mit ihren Gästen kam, rief sie: »Hündin-Helenchen, mach auf!« Still blieb es. »Hündin- Helenchen, mach auf! Fort ist sie, und streunt wohl irgendwo herum!« meinte die Hexe. Dann öffneten sie selbst die Tür, und die Gäste setzten sich an den Tisch. Die Hexe nahm den Braten aus dem Ofen heraus, und alle fingen an zu essen. Sie aßen sich tüchtig satt, gingen dann alle hinaus, wälzten sich auf dem Boden und sprachen: »Ich wälze mich, ich torkle hin, hab am Fleisch vom Ivas‘ mich satt gegessen!« Ivas‘ aber rief vom Ahorn hinab: »Wälzt euch, torkelt zu Boden, habt an Helenchens Fleisch euch satt gegessen!« Da schrien sie: »Wo ist er?« Guckten nach allen Seiten und erblickten ihn endlich, stürzten zum Ahorn und fingen an, den Baum zu durchnagen. Aber so ging’s nicht, sie brachen sich nur die Zähne aus. Da gingen sie zum Schmied und baten ihn: »Schmied, lieber Schmied, mach uns solche Zähne, daß wir den Ahornbaum durchnagen können!« Er schmiedete ihnen solche Zähne, und sie gingen hin und fingen an zu nagen. Da flogen aber wilde Gänse vorbei, und Ivas‘ flehte sie an:

»Gänse, Gänse, liebe Vögel!
Nehmt mich schnell auf eure Flügel,
Tragt mich hin zum Väterchen;
Geb euch zu trinken, zu essen,
Will von allem Guten nichts vergessen!«

Aber die Gänse antworteten: »Mögen die mittleren von uns dich mitnehmen.« Da kamen die mittleren Gänse angeflogen, und Ivas‘ bat sie:

»Gänse, Gänse, liebe Vögel!
Nehmt mich schnell auf eure Flügel,
Tragt mich hin zum Väterchen;
Dort gibt es zu trinken, zu essen,
Von allem Guten wird nichts vergessen!«

Die Gänse aber antworteten: »Mag dich die allerschlechteste letzte Gans mitnehmen.« Und da kam auch sie herangeflogen: die Arme war zurückgeblieben. Die Hexen aber nagten und nagten unterdessen. Und fast, fast war es schon so weit, daß der Baum fallen mußte. Da bat Ivas‘ die letzte Gans:

»Gänschen, Gänschen, lieber Vogel!
Nimm mich schnell auf deine Flügel,
Trag mich hin zum Väterchen;
Geb dir zu trinken, zu essen,
Will von allem Guten nichts vergessen!«

Da nahm sie ihn auf ihre Flügel. Sie wurde jedoch müde, die Arme, und flog ganz, ganz niedrig! Die Hexen aber waren hinterher und dachten Ivas‘ zu fangen. Sie jagten und jagten ihm nach, aber konnten ihn doch nicht einholen. Und endlich brachte die Gans Ivas‘ nach Hause und setzte ihn auf dem Schornstein ab; sie selber ging auf dem Hof herum und suchte sich ihr Futter. Unterdessen aber zog die Mutter von Ivas‘ gerade Pasteten aus dem Ofen und sagte: »Diese hier ist für dich, Mann, und diese für mich.«
Da rief Ivas‘ durch den Schornstein hinunter: »Und welche ist für mich?« Die Mutter fragte: »Wer ist denn dort?«, und nochmals sagte sie: »Hier, diese Pastete ist für dich, Alter, und diese für mich.« Da rief Ivas‘ abermals: »Und welche ist für mich, Mutter?« Mann und Frau liefen zur Hütte hinaus, sahen sich nach allen Seiten um und erblickten Ivas‘ auf dem Schornstein. Sie hoben ihn herunter und trugen ihn in die Hütte. Unterdessen watschelte die Gans auf dem Hof herum, die Mutter sah sie und rief: »Da ist ja eine Gans auf dem Hof! Ich will sie fangen und schlachten.« Ivas‘ jedoch sagte: »Nein, Mutter, schlachtet sie nicht, sondern füttert sie. Wäre sie nicht gewesen, würd ich nicht hier bei euch sein.« Da fütterte die Mutter die Gans und gab ihr zu trinken und streute ihr Hirse hin. Und dann flog die Gans wieder weiter.
Hier habt ihr mein Märchen und einen Bund Kringelchen!

[Ukraine: August von Löwis of Menar: Russische Volksmärchen]

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