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Märchenbasar

M`sieur Bonbon

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M’sieur Bonbon war nicht etwa ein Krämer, Konditor oder Zuckerbäcker, noch Verkäufer von Süßigkeiten irgendwelcher Form, wie vielleicht sein Name vermuten läßt, sondern ein Spielwarenhändler nach alter guter Art. In Châlon kannte ihn jedermann. Die drei nebeneinander liegenden und niedrigen Schaufenster seines Geschäftes zogen die Blicke der Vorübergehenden schon von weitem an. Sie waren von oben bis unten mit den schönsten Sachen angefüllt und wenn man vor ihnen stand, wußte man nicht, wo man zuerst hinschauen sollte. Wollte man die Schrift lesen, die über den drei Fenstern prangte, so mußte man schon etwas zurücktreten. Dann aber sah man an der Fassade des baufälligen Hauses große Buchstaben, die wie aus Brotteig geknetet aussahen, und wenn man sich dann noch die Mühe machte, sie zu entziffern, so kam heraus, daß es: „Zum Paradies der Kinder“ heißen sollte. Trat man durch die Ladentür ein, so erklang ein ganzes Glockenspiel. Während die Glockenklänge noch in der muffigen Luft des niedrigen Ladens ausklangen, noch um die vielen Sachen webten, begann sogleich eine Spieluhr zu spielen, deren Räderwerk durch Mechanik ausgelöst zu sein schien: „Ping! ping! ping!“

Baei la, Baei la wach auf!
Der Mond beginnt seinen Lauf;
Die Sonne ging lange unter.
Komm runter! komm runter!
Ba ei ei ei ei ei ei ei ei ei la!

Es war allerdings stets dasselbe Lied, doch hörte man es immer wieder gern. Bei dem letzten lang gezogenen Wort „Baeila“ öffnete eine lebensgroße Puppe den Mund und sang es mit: „Ba ei ei ei ei el ei la!“ Das war M’sieur Bonbon selbst; er liebte es. seine Besucher zu überraschen. – Wenn man sich nun nach diesem Empfang belustigt umsah, kam man auf die Idee, man befände sich in einem dichten, märchenhaften Urwald, der in grotesker und mannigfaltiger Farbenpracht leuchtete. Die vielen Sachen und Sächelchen dieser Spielzeughandlung zu beschreiben, wäre fast ein Ding der Unmöglichkeit. Machte man einige Schritte vorwärts auf den alten Fußbodendielen, bewegten sich durch diese Erschütterung sämtliche von Decken und Wänden hängenden, in Haufen und Pyramiden aufgeschichteten Gegenstände; die Chinesen wackelten mit den Köpfen, die Affen an langen Gummibändern wippten, die Sprungfederteufelchen nickten und alles schaukelte ganz leise auf und ab und hin und her. Auch allerlei Geräusche lösten sich bei diesem Wippen und Nicken: dort zirpte es oder quakte etwas; hier piepte oder zwitscherte es; hinten in der Ecke tönten die Schellen an einem langnasigen Puccinello und unter der Decke vibrierten und klangen die Saiten an einer Geige. Und zwischen allem hindurch – mag der Teufel wissen, wie es zuging! – schrie eine Puppe: „Mama!“ – Aber lassen wir das, kehren wir uns dem M’sieur Bonbon und seinen Eigenschaften zu! Sein Äußeres war amüsant, und wir wollen es nicht ganz übergehen. Über alle Ecken und Winkel seines Gesichtes verteilte sich ein Schmunzeln, das niemals wich und das ihn zusammen mit dem ewigen Händereiben als einen gemütlichen und sinnvollen Menschen erscheinen ließ; was er denn auch wirklich war. Seine Hemden und Kragen waren mit bunten Blümchen durchwirkt; über der Weste trug er drei bis vier komplizierte und sehr anschauliche Ketten; die Hosen waren auffallend kurz und ließen knallrote Socken sehen. Auf seinem Kopfe aber trug er eine weißseidene Kappe, die die Form eines zusammengefalteten Papierschiffes hatte. – Wenn vor seinen Fenstern sich eine Schar Kinder angesammelt hatte, die ihre Nasen platt an die Scheiben drückte, um besser sehen zu können, so tat er es ihnen nach und lud sie nach einer Weile ein, allesamt zu ihm herein zu spazieren. Dann wiederholte sich, was wir schon wissen: Glockentöne, Spieluhr und „Ba ei ei ei ei la!“ so daß die Kinder in die Hände klatschten und vor Freude aufschrieen. – „Herein – herein – hereinspaziert!“ sang M’sieur Bonbon und holte eins nach dem andern weiter in den Laden hinein. – „Hier, mein kleiner Pfiffikus, sind Trudelbänder, Peitschen, Kreisel. Hier Zaumzeug für die wilden Pferde und Menagerie. Hier! alle her! Hier kommen Soldaten aufmarschiert mit Trommel und Trompeten, und das hier ist der Kommandant! Hierher! Charlotte, Amély und Jeannette – hier gibt es Kochherde, Badewannen, bunte Bälle, Puppen wie die Orgelpfeifen. In Kästen, Schaukeln, kleinen Bettchen. Faß an, mein Schatz! – faß an, mein Spatz! – auch du faß an, mein kleiner Matz!“ – So gab er einer nach der anderen eine Puppe in die Hand und ließ die Kleinen mit der freien Hand alles streicheln und befühlen, worauf sie sich in ihrer ungestümen Freude stürzten. Ha, M’sieur Bonbon freute sich, wenn die blanken Kinderaugen aufleuchteten und lachten und wenn das kleine rote Ding in ihrer Brust beim Anblick all der schönen Sachen hüpfte. Schnell sprang der Spielwarenhändler hinter die Kasparbude und ließ – unter Jauchzen und Jubilieren der Kinder – das lustige Kasperle den bösen Teufel mit einem großen Holzhammer totschlagen. Und wenn M’sieur Bonbon noch ganz besonders guter Laune war, warf er dem größten Schaukelpferd Zaumzeug und Leine um, bückte sich dahinter auf Knien und Händen zur Erde nieder und ließ die ganze Gemeinde Huckepack sitzen. – „Karosse, ho! mein Pferdchen, ha! – Adieu Papa! Adieu Mama! – Jetzt fahren wir nach Amerika!“

Wenn die Kinderchen dann wieder zuhause waren, quälten sie ihre Eltern wohl heftig; die einen wollten dies, die andern das und in ihren Träumen riefen sie nach den schönen Spielsachen des M’sieur Bonbon. Dem Spielwarenhändler, der wirklich ein Kinderfreund war, hatte es eigentlich nicht in der Absicht gelegen, durch solche Methode die Eltern der gesamten Kinder des Städtchens Châlon in seinen Laden zu locken. Auf diese Weise war er aber doch zu einem gewissen Wohlstand gekommen. Überhaupt hatte er in seinem sorgenlosen Gemüt nie so recht die Qual um die Existenz kennengelernt. Den Spielwarenladen hatte er von seinem Vater geerbt und in ganz Châlon und Umgebung hatte sich nie eine Konkurrenz aufgetan. In zehn Jahren, so hatte sich oft M’sieur Bonbon ausgerechnet, könne er diesen dumpfen und ungesunden Laden verlassen und in aller Herrlichkeit als Privatier ein beschauliches Leben führen. Daß es mal anders kommen könne, war ihm niemals in seinen Sinn gekommen. Das Wohl und die Sicherheit der privatisierenden Bürger Frankreichs überließ er mit unerschütterlichem Vertrauen auf die Regierung, dem Grand Père seines Vaterlandes, der dafür sorgte, daß es so war und so blieb. Dieser Grand Père würde Krieg führen, wenn es einer auf der Welt wagen wollte, ihn, M’sieur Bonbon, und seinesgleichen das Recht auf einen sorgenlosen Lebensabend streitig zu machen.

Mit solchen Gedanken, die eigentlich zum erstenmal in seinem Kopfe spukten, ging er am 25. Oktober seinen allabendlichen Weg zum Marktplatz, wo er in einer kleinen Weinstube seinen Stammtisch hatte. Als ob es in der Luft läge, wurde ihm heute abend bei seinem Gläschen Wein am Tisch von Monsieur Aboux, dem Maire von Châlon, verkündet, daß eine Gesellschaft aus Orleans den großen und freien Platz, dem Rathaus gegenüber, gekauft hätte, um allhier nach völlig neuzeitlichen Begriffen ein Warenhaus zu errichten, wie es wohl selbst in der Hauptstadt Paris nicht zu finden sein würde. – „Also, M’sieur Bonbon,“ sagte noch der Maire, „jetzt gibt es zum ersten Male für Sie eine Konkurrenz. Jedes Warenhaus hat, wie Sie wissen, im besonderen eine große Spielwarenabteilung. In einem Jahr soll der moderne Kasten fertig sein!“ M’sieur Bonbon hatte auf diesen Bericht hin, ohne ein Wort zu erwidern, seinen Rotspon ausgetrunken und war etwas schwach in den Knien nach Hause gegangen. Ein Jahr war verflossen. Das Warenhaus „Le Soleil“ war bunt bewimpelt. Der mächtige Bau ging seiner Vollendung, sagen wir lieber gleich seiner „Eröffnung“ entgegen. Alle kleinen Geschäftsleute zitterten; sie sahen ihren unausbleiblichen Ruin voraus.

Da passierte etwas Sonderbares, das die friedlichen Bürger von Châlon in heftige Aufregung versetzte. In der Häuserreihe einer, am oberen Ausgang der Stadt gelegenen Straße, war in der Nacht vom 9 – 10. Oktober in allen Etagen ein Gespenst erschienen und hatte den schlafenden Kindern alle möglichen Arten von Spielsachen in die Kissen und unters Deckbett geschoben. Obgleich man an ein Gespenst nicht recht glauben wollte, so war doch das Vorhandensein der verteilten Spielsachen eine unumstößliche Tatsache. Wieder war nach einigen Tagen große Aufregung. Das Gespenst verschenkte wieder. Die Zeitungen brachten spaltenlange Artikel: „Wie kamen die funkelnagelneuen Spielsachen des Nachts in die Hände der Kinder?“ Auf der Straße rotteten sich die Menschen zusammen; es war eine verteufelt komische Angelegenheit. Nun passierte es in der „Rue du Dragon“, im Hause der kleinen Jeanette, daß diese am Morgen, als sie aus ihrem Bette stieg, die große Charakterpuppe mit dem echten Blondhaar und den wunderschönen kornblumenblauen Augensternen in ihrem Arm hielt; dieselbe Puppe, die Jeanette sich seit langem sehnsuchtsvoll gewünscht hatte. Befragt, wie sie zu dieser Puppe käme, kam die Kleine mit folgender Geschichte: Um zwölf Uhr nachts sei sie aufgewacht. Der Mond schien, da habe sie in dem zittrigen Nachklingen der Glockenschläge, die von der großen Turmuhr an ihr Fenster hallten, die leise Melodie einer Spieluhr vernommen. Zu dieser spielenden Melodie habe sie eine wohlbekannte Stimme ebenso leise singen gehört: „… Sonne ging lange unter. Komm runter! Komm runter! – Ba ei ei ei ei la.“ – Darauf sei ein Gespenst erschienen, das sie recht freundlich angeschmunzelt, und das sie trotz seiner Durchsichtigkeit mit Bestimmtheit als M’sieur Bonbon erkannt habe, der ihr mit lieblichen und netten Worten die Puppe überreicht habe und dann mit vielen andern Spielsachen unterm Arm eiligst davongeflogen sei. –

Jetzt war es heraus! In allen Häusern der Stadt waren die Kinder in solcher Weise nachts von einem Gespenst beschenkt worden. Nun erinnerte man sich, M’sieur Bonbon lange nicht gesehen zu haben; er mußte also tot sein. Überall war das freundliche Gespenst in der Nacht erschienen und hatte durch Fenster und Türen, hinter Gardinen und aus Ecken heraus den Kinderchen mit feinen Spieluhrklängen, Glockengeläute und Baeila-Singen die Spielsachen aufs Bett gereicht, und oft standen morgens Schaukelpferde, Puppenwagen und gefüllte Küchenstuben neben dem Bett oder auf den Schränken. Ja, wenn die Eltern in ihren Kästen und Schubladen kramten, fanden sie immer noch neue Spielsachen für ihre Kleinen. Nun war es heraus: Das freundliche Gespenst „M’sieur Bonbon“ verschenkte seine gesamte Ware an die Kinder der Stadt Châlon. Man stürzte zu seinem Spielwarenladen, zwei Amtspersonen voraus, die den Auftrag hatten, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Tür war unverschlossen; an der Scheibe klebte ein Zettel: „Man bediene sich, ich habe nur noch zu verschenken!“ Aber es war nicht mehr viel da; der baufällige Laden gähnte in gräulicher Leere. Mitten in der muffigen Luft wurde ein durchsichtiges Etwas bemerkbar, das bei scharfem Hinsehen unverkennbar in den Umrissen M’sieur Bonbon war. Man sah wieder sein Schmunzeln, sein Händereiben, und jedem wurde in Erinnerung dieses prächtigen Menschen etwas weinerlich zu Mute. Die Amtspersonen traten gewichtig in Funktion; sie versuchten, das Übriggebliebene an sich zu nehmen; aber jedes Stück wurde ihnen vor aller Augen mit einem leisen „Oho!“ von einer unsichtbaren Hand wieder entrissen. Die entrissenen Stücke aber reichte das Gespenst den herumstehenden Kindern, die tüchtig zugriffen und eiligst davonliefen. Als alles ausgeräumt war, ertönte aus den Ecken, fern wie aus einer anderen Welt, ein Glockengeläute. Eine feine Spieluhr stimmte wundervoll ein und füllte mit silbernem Klingen die Luft: „Ping! ping! ping! …“

Baei la, Baei la wach auf!
Der Mond beginnt seinen Lauf;
Die Sonne ging lange unter.
Komm runter! komm runter!
Ba ei ei ei ei ei ei ei ei ei la! –

Als es der Warenhausgesellschaft klar wurde, daß das Gespenst des Kleinhändlers M’sieur Bonbon ihr das Spielwarengeschäft auf mindestens ein Jahr gänzlich unterbunden hatte, ließ sie aus Pappmachee eine kleine Figur herstellen, die das genaue Abbild des Verstorbenen war. Die leere Spielwarenabteilung nahm nun en gros diese originelle Figur auf und machte mit ihr ein großes Geschäft. Jeder Einwohner der Stadt Châlon, ob reich ob arm, kaufte sich das so sympathische „Gespenst des M’sieur Bonbon“.

Quelle: (Französisches Märchen)

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