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Märchen von dem berühmten und starken Ritter Jeruslan Lasarewitsch

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Da ging Mursa zum Fürsten Daniil dem Weißen, und sagte ihm die Worte des Kartaus. Der Fürst Daniil der Weiße befahl, sogleich in die Trompete zu stoßen und die Pauken zu schlagen, und da versammelten sich bei ihm Mursen und Tataren an zwei hundert funfzig tausend Mann. Und er befahl, aus ihnen dreißig tapfere Mursen auszuwählen, und diesen gab er Auftrag, den Jeruslan einzuholen, ihn zu fangen und vor ihn zu bringen. Die Mursen und Tataren verfolgten ihn, und als sie in dem freien Felde ritten, sahen sie in der Ferne Jeruslan unter einer Eiche schlafen, und sein Roß über ihm stehen. Das Roß sah, daß ihm die Mursen und Tataren nachjagten, und fing an heftig zu wiehern. Jeruslan erwachte davon, und als er in der Ferne die Ritter erblickte, setzte er sich auf sein gutes Roß, ritt in das freie Feld und sprach folgende Worte: »Brüder Mursen und Tataren, so wie ihr den Wind im freien Felde nicht einholen könnt, so könnt ihr auch mich guten Jüngling nicht fangen.«

Und er verschwand ihnen bald aus den Augen und ritt hinter die stillen Wässer und warmen Meere zur podolischen Horde nach der Stadt Schtschetin, zu dem Freizar Feuerschild, Flammenlanze.

Und die Mursen und Tataren berathschlagten unter sich, wie sie dem Fürsten sagen sollten, daß sie ihn nicht gefangen hätten, und sie beschlossen, zu sagen, sie hätten ihn gar nicht gesehen.

Jeruslan Lasarewitsch aber kam nach einem halben Jahre zur Stadt Schtschtin, und fünf Rennbahnen von ihr traf er ein erschlagenes Heer, und in diesem erschlagenen Heere lag ein Ritterkopf wie ein großer Hügel. Jeruslan Lasarewitsch ritt um diese erschlagene Macht herum und rief mit lauter Stimme: »Befindet sich nicht in diesem erschlagenen Heere ein lebendiger Mensch?«

Da fragte ihn der Ritterkopf: »Jeruslan Lasarewitsch, wen verlangst du, und wer ist dir nöthig?«

Und Jeruslan wunderte sich darüber. Da sprach der Ritterkopf abermal: »Wundere dich nicht und sage mir, wohin du reitest, und wohin dein Weg führt, und was du nöthig hast?«

Da fragte ihn Jeruslan Lasarewitsch: »Aber wer bist du? wie nennt man dich bei Namen? Welches Reiches Einwohner bist du, und welches Vaters und welcher Mutter Sohn?«

Da antwortete ihm der Ritterkopf: »Ich bin ein Ritter aus dem sadonischen Reiche, der Sohn des Zaren Prochos, und nenne mich Raslanei.«

Darauf fragte ihn Jeruslan Lasarewitsch weiter: »Wessen Macht liegt hier erschlagen?«

Und ihm antwortete der Ritter Raslanei: »Diese Macht gehört dem Freizar Feuerschild, Flammenlanze, und es ist noch kein ganzes Jahr, daß ich gekommen bin und sie erschlagen habe. Ursache des Streites mit dem Zaren war, daß er die Städte meines Vaters, des Zaren Prochos, weggenommen hatte. Aber sage mir, Jeruslan Lasarewitsch, wie weit du reitest?«

Da sprach Jeruslan Lasarewitsch: »Ich reite in die Stadt Schtschetin zu dem Freizar Feuerschild, Flammenlanze, und will ihn todt vor mir sehen.«

Da antwortete ihm der Ritterkopf: »Eher wirst du todt sein, als ihn todt sehen. Ich war wol ein starker und mächtiger Ritter, und mich fürchteten alle Zaren und Ritter des Ostens und Südens. Ich war bei meiner Geburt eine halbe Klafter lang, und maß in der Dicke so viel einer umspannen kann. Als ich zehn Jahr alt war, lief kein wildes Thier, ging kein Fußgänger, ritt kein Ritter, flog kein Vogel bei meinem Reiche vorüber. Und Keiner konnte vor mir stehn. Jezt nach Verlauf von zehn Jahren siehst du, wie ich gewachsen bin. Mein Leib hat zehn Klaftern in der Länge, zwei Klaftern zwischen den Schultern, und zwischen den Augenbrauen kann ein trockener Pfeil liegen. Mein Kopf ist wie ein Bierkessel. Meine Arme sind drei Klaftern lang; aber auch ich konnte vor dem Zaren nicht Stand halten. Der Zar ist stark und hat ein großes Heer. Schwert und Säbel verletzen ihn nicht, im Feuer verbrennt, im Wasser versinkt er nicht. Ich aber habe ein Schwert, das ihn verletzen kann, allein mich traf das Unglück, daß ich es nicht führen konnte, und er hat mich niedergemacht. Doch will ich dir Gutes thun, und dich auf den rechten Weg bringen. Wenn du an die Stadt Schtschetin kommst, und der Zar Feuerschild dich erblickt, und dich, ohne dich nahe an sich zu lassen, ausfragt, so sage ihm, daß du ihm dienen wolltest. Er wird zu dir sagen, du sollest ihm folgen, und dann folge ihm, und diene ihm treu und redlich, und erwarte die Zeit, da er ins freie Feld auf die Jagd reitet; auch dahin mußt du ihm folgen. Da erinnere ihn an mich, und er wird traurig sein; aber du mußt ihm sagen: daß du das Schwert erhalten könnest, das unter meinem Kopfe liegt. Er wird dir nicht trauen, aber schwöre ihm bei Gott, und sobald du zu mir kommen wirst, so werde ich mich von dem Schwerte wegrücken und dir es geben.« –

Da verneigte sich Jeruslan Lasarewitsch vor dem Ritterkopfe, setzte sich auf sein gutes Roß, und ritt zu der Stadt Schtschetin. Als er noch drei Werst von der Stadt entfernt war, erblickte ihn der Zar, ritt in das freie Feld und brannte den Jeruslan Lasarewitsch. Jeruslan Lasarewitsch stieg von seinem guten Rosse und fächelte mit der Mütze. Da hörte der Zar auf, ihn zu brennen.

Jeruslan warf sich mit der Stirn auf die Erde: »Viele Jahre Wohlergehen, Herr Freizar Feuerschild, Flammenlanze! Nimm mich in deinen Dienst.« –

Da fragte ihn der Zar: »Wer bist du? woher kommst du? welches Vaters und welcher Mutter Sohn bist du, und wie nennest du dich?«

Ihm antwortete Jeruslan Lasarewitsch: »Ich bin herumgeschweift im freien Felde, und jezt suche ich einen guten Herrscher, welchem ich meine Dienste anbieten kann. Geboren bin ich im Reiche des Zaren Kartaus, der Sohn des Fürsten Lasar Lasarewitsch und der Fürstin Epistimia, und ich nenne mich Jeruslan.«

Da sprach zu ihm der Zar: Jeruslan Lasarewitsch, reite in meine Stadt, ich brauche Leute in meinem Reiche.«

Jeruslan folgte nun dem Zaren in die Stadt, und der Zar setzte ihn noch tiefer, als seine zwölf Ritter. Er diente ihm lange Zeit, und eines Tages ritt der Zar in’s freie Feld auf die Jagd, und nahm seine Fürsten und Bojaren, seine zwölf Ritter und jüngere Helden mit sich. Auch Jeruslan Lasarewitsch befand sich unter diesen. Als sie nahe bei dem Ritterkopfe waren, blieb Jeruslan Lasarewitsch stehen, und bewunderte den Ritterkopf. Da sprach der Zar zu ihm: »Warum bist du stehen geblieben, Jeruslan Lasarewitsch?« Und dieser antwortete: »Herr, erlaube deinem Diener, ein Wort zu sagen.« – »So sprich,« sagte der Zar.

Da sagte Jeruslan: »Herr Freizar, ich sehe hier ein großes Heer erschlagen und diesen Ritterkopf, unter welchem ein so schönes Schwert liegt.« –

Der Zar seufzete und sprach folgende Worte: »Dieser Ritter hat mein Heer erschlagen, und ich habe ihn getödtet. Sein Schwert liegt unter seinem Kopfe, und ich kann es nicht erhalten. Mich kann kein Schwert verletzen, ich brenne im Feuer, und versinke im Wasser nicht; aber dieses Schwert kann mich beschädigen, und wer es erhält, von dem werde ich ermordet werden. Darum würde ich den reichlich belohnen, der mir es brächte.«

Da sprach Jeruslan Lasarewitsch: »Herr, erlaube mir, deinem Diener: ich werde das Schwert erhalten und dir bringen.«

Und der Freizar antwortete: »Wenn du mir diesen Dienst leistest, und mir das Schwert bringst, so werde ich dich über alle meine Ritter setzen. Wenn du aber nur mit Worten prahlst, so wirst du dich weder im Wasser, noch unter der Erde, noch unter Felsen sichern.«

Mit diesen Worten ritt der Zar in die Stadt, und Jeruslan Lasarewitsch blieb auf dem Felde, ritt zu dem Ritterkopf und sprach folgende Worte: »Herr Ritterkopf, ich hoffe von deiner Liebe und Freundschaft, daß du dein Versprechen erfüllst, und mir das Schwert unter dir gibst, denn ich habe dem Zaren mein Wort gegeben, ihm das Schwert zu bringen, und ich soll bösen Tod von ihm haben, wenn ich es ihm nicht bringe.« Der Ritterkopf sprach kein Wort. Jeruslan stieg von seinem guten Rosse, fiel auf die Erde vor ihm nieder und sprach: »Herr Ritter Raslanei, laß mich nicht so unnütz sterben, gib das Schwert unter dir frei.« Da schob sich der Ritter Raslanei von dem Schwerte, und Jeruslan nahm es, verneigte sich vor dem Ritterkopf, setzte sich auf sein gutes Roß und ritt der Stadt Schtschetin zu. Und auf dem Wege sprach er zu sich folgende Worte: »Bis jezt habe ich Zaren und Ritter besiegt, und jezt verneige ich mich vor einem Ritterkopf, und bitte ihn, mir ein Schwert frei zu geben.

Aber Raslanei hörte das, und rief ihn mit lauter Stimme: »Jeruslan, kehre um! – Er kehrte um, und ging zu dem Kopfe. Der Kopf machte ihm Vorwürfe, und sagte: »Dein Schwert konnte nicht auf meinen Helm wirken.« –

Hier fiel Jeruslan wieder zur Erde und sprach: »Herr Ritter Raslanei, verzeihe mir, daß ich dich mit solchen Worten beleidigt habe.« – Da sprach der Ritterkopf: »Jeruslan Lasarewitsch, deine Jugend und dein unreifer Verstand sind Ursache, daß du solche Worte gesprochen. Du hast zwar mein Schwert genommen; allein auch mit ihm kannst du deinen Kopf noch verlieren. Ich will dir aber wohl und dich lehren, was Verstand ist. Wenn du in die Stadt kommst, und dich der Zar sieht, so wird er vor Freude Thron und Zepter verlassen, dich in der Mitte des Hofes empfangen, und dich mit Gold, Silber und Edelsteinen beschenken. Da schlag‘ ihn ein Mal mit dem Schwerte auf den Kopf, aber wage es nicht, ein zweites Mal zu schlagen, sonst wird er aufleben und dich tödten.«

Da verneigte sich Jeruslan Lasarewitsch vor dem Ritterkopf und ritt in die Stadt. Kaum kam er in das Schloß, und kaum sah der Zar, daß Jeruslan das Schwert bringe, so sprang er vom Thron, warf den Zepter weg, empfing Jeruslan Lasarewitsch mitten im Hofe und sprach zu ihm: »Herr Jeruslan Lasarewitsch, für diesen Dienst gebe ich dir eine Stelle mir gegenüber, die zweite neben mir, und die dritte, wo du selbst willst. Meine Schätze stehen dir offen, nimm dir Städte und schöne Kirchdörfer, und wenn du meine Tochter, die Prinzeß Nasaria, zur Frau haben willst, so werde ich dir die Hälfte meines Reiches abtreten.«

Da streckte er seine Hand aus und wollte das Schwert nehmen; aber Jeruslan Lasarewitsch schlug ihn mit dem Schwerte auf den Kopf, und zerhaute ihn bis zur Zunge, daß der Zar todt zu Boden fiel. Und die Fürsten und Bojaren schrieen: »Jeruslan Lasarewitsch, schlage ihn ein zweites Mal!« – »Eine Ritterfaust schlägt ein mal, und damit ist es schon genug.«

Da stürzten auf ihn eine Menge Fürsten und Bojaren, und die zwölf Ritter, und wollten ihm schnellen Tod geben. Jeruslan Lasarewitsch nahm seine Lanze unter den Arm, mit der linken ergriff er den Zaren, damit die Fürsten und Bojaren seine Leiche nicht raubten, und mit der andern faßte er das Schwert, und fing an, die Fürsten, Bojaren und die zwölf Ritter niederzuhauen. Da schrieen die übrigen Fürsten und Einwohner der Stadt: »Jeruslan Lasarewitsch, höre auf, niederzuhauen und zu tödten. Es sei der Wille Gottes und der deine: lebe bei uns und herrsche über unser Land!« – Da antwortete Jeruslan Lasarewitsch: »Wählt euch einen andern Zaren in eurer Mitte; ich bin kein Zar für euch.«

Aber er ließ ab, die Menschen niederzuhauen, und fing an, die Galle aus dem Zaren zu nehmen, und er legte sie in eine Büchse. Dann setzte er sich auf sein gutes Roß, ritt aus der Stadt und kam zu dem Heldenkopfe. Er nahm seinen Rumpf, setzte ihn an den Kopf, und bestrich ihn mit der Galle. Da stand der Ritter auf, wie vom Traume erwacht. Jeruslan Lasarewitsch küßte ihn, und sie nannten sich Brüder. Raslanei wurde der älteste, und Jeruslan der jüngste. Dann nahmen sie Abschied von einander, und jeder ritt seines Weges. Raslanei ritt in sein sadonisches Reich, um von seiner Mutter den Segen zu empfangen, weil er die Tochter des Zaren von Schtschetin heirathen, und über diese Stadt herrschen wollte; Jeruslan Lasarewitsch ritt in das Reich Daniil’s des Weißen, und nach halbjähriger Reise kam er dahin. Als er in die Stadt ritt, begab er sich gerade zum Gefängnisse und sah, daß eine starke Wache davor stand. Er haute alle nieder, brach die Thüre auf, trat in das Gefängnis und sprach: »Seid gegrüßt, Zar Kartaus, mein Vater, Fürst Lasar Lasarewitsch, und ihr zwölf Ritter! Wie behütet Gott euch Herren?« – Da antwortete Zar Kartaus: »Mensch, woher bist du? und wie nennst du dich?« – Darauf sprach Jeruslan Lasarewitsch: »Herr Zar Kartaus, ich bin in deinem Reiche geboren, der Sohn des Fürsten Lasar Lasarewitsch, und nenne mich Jeruslan. Ich habe vollbracht, weßhalb du mich ausgeschickt hast, und den mächtigen Zaren getödtet und die Galle aus ihm genommen.« – Und der Zar Kartaus sprach: »Wenn du dich Jeruslan Lasarewitsch nennst, und den mächtigen Zaren getödtet und die Galle aus ihm genommen hast, so bestreiche uns mit dieser Galle die Augen; dann werden wir das Licht Gottes sehen können und dir glauben.« –

Jeruslan nahm die Galle aus seiner Büchse, und bestrich damit ihre Augen, und sie konnten wieder sehen, und sie wurden sehr fröhlich und sprachen mit Thränen: »O Jeruslan Lasarewitsch, du bist es wahrhaftig!« und sie fingen an, ihn zu liebkosen. Da fragte ihn Zar Kartaus: »Wo bist du so lange gewesen?« – »Warte ein Weilchen,« antwortete ihm derselbe. Da ging er aus dem Gefängnisse, setzte sich auf sein gutes Roß und ritt aus der Stadt.

Den andern Morgen früh schrie er mit lauter Stimme. Als Fürst Daniil der Weiße die Ritterstimme hörte, befahl er, in die Trompete zu stoßen und die Pauken zu schlagen. Da versammelten sich um ihn die Mursen und Tataren und verschiedene kriegerische Männer, und Fürst Daniil der Weiße ritt mit allen aus der Stadt.

Jeruslan Lasarewitsch nahm den Schild in die Hand, die Lanze unter den Arm und sprach folgende Worte: »Wie der Falk auf weiße Schwäne und graue Enten stürzt, so stürzt der gute Jüngling Jeruslan Lasarewitsch auf das Heer Daniils des Weißen!« – Und nicht so viel erschlug sein Schwert, als sein Roß niedertrat, und er erschlug zehn tausend Mursen, und von den gemeinen Tataren hundert tausend Mann, und den Fürsten Daniil den Weißen machte er zum Gefangenen und brachte ihn in die Stadt. Alle kleine Kinde bis zum zehnten Jahre taufte er in seiner Religion, und über die ihrige sprach er einen Fluch aus. Der Gemahlin des Fürsten Daniil des Weißen befahl er, bösen Tod zu geben, weil sie seine Mutter, die Fürstin Epistimia, hatte tödten lassen; aber den Fürsten Daniil den Weißen tödtete er nicht, weil er den Zaren Kartaus und den Fürsten Lasar Lasarewitsch nicht getödtet hatte. Er stach ihm nur die Augen aus und setzte ihn ins Gefängnis unter strenger Wache. Da kamen zu ihm die Einwohner der Stadt, warfen sich mit der Stirn auf die Erde und baten, er sollte bei ihnen im Reiche bleiben und herrschen. Er aber setzte den Zaren Kartaus auf den Thron, und Fürst Lasar Lasarewitsch und die zwölf Ritter traten in ihre ehemaligen Aemter ein. Zar Kartaus und sein Vater freuten sich außerordentlich, und jener bestieg den Thron, und sie fingen nachher an zu essen, zu trinken und Kurzweil zu treiben.

Nachdem sie die Tafel aufgehoben, stand Jeruslan Lasarewitsch auf, betete zu dem Heiligenbilde und nahm Abschied von seinem Vater und dem Zaren Kartaus. Alle begleiteten ihn mit Thränen und baten, sie nicht zu verlassen. Er aber setzte sich auf sein gutes Roß, verneigte sich vor ihnen und ritt ab nach der Stadt Debri im Reiche des Zaren Worcholomei, um die Schönheit der schönen Prinzeß Anastasia Worcholomeiewna kennen zu lernen. Nach halbjähriger Reise kam er an die Stadt Debri. Bei diesem Reiche war ein großer und breiter See, und in diesem See hielt sich ein Ungeheuer auf, ein großer Drache mit drei Köpfen, und jedes Jahr kam er an das Ufer und fraß eine große Menge Menschen auf. Der Zar Worcholomei hatte schon mehrmals ausrufen lassen, wer dieses Ungeheuer in der See tödten würde, dem wolle er viel Gold und Silber und Städte geben. Jeruslan Lasarewitsch kam in die Stadt und hielt sich bei der Wittwe eines Posadnik’s auf. Als er diesen Ausruf hörte, setzte er sich auf sein gutes Roß und ritt an den See. Sobald das Ungeheuer den Jeruslan erblickte, sprang es an das Ufer. Das Roß des Jeruslan erschrak und fiel auf die Knie. Jeruslan Lasarewitsch, der dieses nicht erwartete, fiel von seinem guten Rosse herab auf die Erde. Das Ungeheuer ergriff ihn und schleppte ihn in den See. Jeruslan hatte nichts weiter bei sich, als sein Schlachtschwert. Er setzte sich auf den Rücken des Ungeheuers, und haute ihm mit einem Male zwei Köpfe ab, und wollte ihm auch den dritten abhauen, da wendete sich das Ungeheuer um und bat ihn: »Herr Jeruslan Lasarewitsch, gib mir nicht den Tod, sondern schenke mir das Leben. Von dieser Stunde an werde ich nie wieder aus dem See an das Ufer kommen und Menschen fressen, sondern ich werde mich in der Tiefe des See’s aufhalten und mich von Fischen nähren; dir aber will ich ein großes Geschenk machen mit einem Edelsteine, den ich besitze im See.« – Da sprach Jeruslan Lasarewitsch: Gib mir den Stein, so werde ich dich freilassen.« – Da ging das Ungeheuer in den See, und Jeruslan Lasarewitsch saß auf ihm. Er empfing den Edelstein von ihm und befahl ihm, ihn wieder an’s Ufer zu bringen. Als das Ungeheuer den Jeruslan Lasarewitsch an’s Ufer brachte, haute er ihm auch den dritten Kopf ab, setzte sich dann auf sein gutes Roß und ritt zu der Stadt Debri, wo ihm der Zar Worcholomei unter den Stadtpforten entgegen kam.

Da sagte Jeruslan zu ihm: »Ich habe deinen Feind, den Verderber deiner Stadt, todt geschlagen.« – Und ihm antwortete Zar Worcholomei: »Ich weiß, Gott hat nicht den Todt von uns Sündern gewollt, er hat uns einen so tapfern Ritter geschickt und ihn durch dich vernichtet. Aber sage mir deinen Namen: welches Vaters und welcher Mutter Sohn bist du, und woher kommst du?«

Jeruslan Lasarewitsch antwortete: »Ich komme aus dem Reiche des Zaren Kartaus, und bin der Sohn des Fürsten Lasar Lasarewitscht, und ich nenne mich Jeruslan Lasarewitsch. Ich habe beschlossen, im freien Felde zu spazieren.«

Als der Zar diese Worte von ihm hörte, wurde er sehr erfreut, und es kamen alle Einwohner der Stadt ihm entgegen und verneigten sich tief vor ihm, und alle kleinen Kinder sprangen, und es war in der Stadt Debri große Freude. Und Zar Worcholomei gab in seiner großen Freude ein herrliches Fest. Er rief zusammen alle Fürsten und Bojaren, und Menschen von verschiedenem Range mit ihren Frauen und Kindern. Er nahm Jeruslan Lasarewitsch bei der Hand und führte ihn zu sich in’s Gemach, ließ ihn neben sich am Tische sitzen, und sprach zu ihm: »Herr Jeruslan Lasarewitsch, dein Wille gebiete über mich und mein ganzes Reich; meine Schätze stehen dir offen, nimm dir Gold, Silber und Edelsteine, so viel du willst, nimm als Apanage Städte und schöne Kirchdörfer, und wenn du heirathen willst, so gebe ich dir meine Tochter, die schöne Prinzeß Anastasia, und als Mitgift mein halbes Reich.« – Als Jeruslan lustig wurde, sagte er: »Herr Zar Worcholomei, zeige mir deine Tochter!«

Zar Worcholomei befahl sogleich seiner Tochter, sich mit kostbaren Kleidern zu zieren, und sie wurde so schön, daß menschliche Einbildungskraft sich nichts Schöneres vorstellen kann. Worcholomei nahm sie bei der Hand und führte sie zu Jeruslan. Sie reichte ihm einen goldenen Becher mit Wein, und Jeruslan sprach zu ihr: »Sei gegrüßt, meine liebe Prinzeß Anastasia, schönste der ganzen Welt, viele Jahre Dir Wohlergehen!« – Und er küßte sie auf die süßen Lippen.

Prinzeß Anastasia sprach zu ihm: »Sei gesund, mein lieber und tapferer Herr Ritter.« – Dann ging er aus ihrem Gemach, begab sich zum Zaren Worcholomei und sprach zu ihm: »Herr Zar, deine Tochter, die schöne Prinzeß, hat mir gefallen, und ich will sie zur Frau nehmen.« – Zar Worcholomei befahl sogleich, Alles zur Hochzeit bereit zu machen. Dann fingen sie wieder an, mit Jeruslan zu essen, zu trinken und Kurzweil zu treiben. Und als Jeruslan sich hernach in’s Bette gelegt hatte, konnte er die ganze Nacht nicht schlafen, weil sein jugendliches Herz von der Schönheit der Prinzeß entzündet war.

Den andern Tag früh ließ der Zar wieder ein Fest bereiten, und nahm Jeruslan bei der Hand und sagte: Herr Jeruslan Lasarewitsch, tapferer Ritter, ich vertraue dir meine liebe und schöne Tochter Anastasia: liebe sie und lebe mit ihr in Eintracht. Und damit ich Augenzeuge eures fröhlichen Lebens sei, gebe ich dir als Mitgift mein ganzes Reich. Schütze es nur gegen Feinde.« – Dann sprach er zu seiner Tochter: »Meine liebe Tochter, lebe mit deinem Manne in Frieden und Liebe, und ehre ihn, denn der Mann ist immer das Haupt der Frau.«

Dann befahl er ihnen, in die Kirche zu fahren und sich trauen zu lassen. Nach der Trauung gingen sie in die zarischen Gemächer. Jeruslan Lasarewitsch führte seine Gemahlin an der Hand und geleitete sie zu dem Zaren Worcholomei, seinem von Gott gegebenen Schwiegervater. Alle Fürsten, Bojaren und ihre Frauen trugen ihm viele kostbare Geschenke entgegen. Zar Worcholomei empfing sie und sprach: »Viele Jahre Wohlergehen meinem Herrn, dem Fürsten Jeruslan Lasarewitsch, meinem lieben Schwiegersohne, und seiner Gemahlin, meiner Tochter, der schönen Fürstin Anastasia Worcholomejewna!« – Dann riefen alle Fürsten und Bojaren einstimmig aus: »Sei gesund, Herr Jeruslan Lasarewitsch, mit deiner jungen Gemahlin, der schönen Fürstin!« Und sie verneigten sich vor ihnen bis auf die Erde. Jeruslan Lasarewitsch, die schöne Anastasia und alle Fürsten und Bojaren fingen an, zu essen, zu trinken und sich zu belustigen. Alsdann stand Jeruslan Lasarewitsch mit der jungen Fürstin Anastasia vom Tische auf und ging in die Schlafkammer, und alle Anwesenden begleiteten sie mit großen Ehren, verneigten sich vor ihnen bis zur Erde, und kehrten zurück zum Zaren Worcholomei, sich zu belustigen. Jeruslan aber legte sich mit der schönen Zarentochter Anastasia zu Bette, und fing an, sie zu liebkosen und den weißen Busen zu fassen, und sprach: »Meine liebe Zarewna, Schönste auf der Welt, deiner Schönheit wegen bin ich durch viele Reiche gezogen, und von vielen Jungfrauen habe ich deine Schönheit preisen hören; und jezt, meine Freundin, sage mir die Wahrheit: gibt es eine Schönere, als du, und einen Tapferern, als ich?« – Da antwortete ihm die Zarewna: »Mein lieber Freund, es gibt auf der Welt keinen Schönern und tapferern, als du, und ich – was ist denn Schönes und Gutes an mir? Es gibt im Jungfernreiche in der Sonnenstadt eine Zarewna Polikaria, welche das Land selbst beherrscht; so eine Schöne gibt es in der Welt nicht weiter.«

Da dachte Jeruslan Lasarewitsch bei sich an die schöne Polikaria, und eines Tages stand er früh morgens auf und sprach zu seiner Gemahlin: »Meine liebe Zarewna, ich reite in ein Gebiet, in eine Stadt, nimm von mir diesen kostbaren Stein, den ich von dem Ungeheuer genommen habe, und wenn du eine Tochter gebärst, so gib ihn ihr als Mitgift.« – Er gab seiner Gemahlin den Stein und sprach: »Lebe wohl, meine liebe Zarewna. Wenn ich am Leben bleibe, so werde ich zu dir zurückkehren; wenn mich aber der Tod trifft, so laß für mich Messen lesen.« – Da weinte die Zarewna bitterlich und fiel vor übergroßem Schmerz wie todt zu Boden. Als sie wieder zu sich kam und sich vom Schluchzen erholt hatte, sagte sie zu ihm: »O mein lieber Freund, du willst mich verlassen und in das Jungfernreich in die Sonnenstadt zu der Zarewna Polikaria reiten?« – Jeruslan antwortete ihr: »Meine schöne Anastasia, du bist jezt schwanger, wie könnte ich dich so verlassen?« – Dann ging er zu dem Zaren Worcholomei und sagte, er wolle zu seinem Vater, dem Fürsten Lasar Lasarewitsch, zu Besuche reisen.

Nachdem er Abschied genommen, reiste er nach dem Jungfernreiche ab. Er reiste gerade neun Monate, und kam in die Sonnenstadt, ritt auf den Zarenhof und stieg von seinem guten Rosse ab. Als die Zarewna Polikaria auf ihrem Hofe einen schönen tapfern Ritter sah, erschrak sie, daß er ohne ihre Erlaubnis auf den Hof gekommen, und als er eintrat, sagte sie: »Tapferer Herr Ritter, woher kommst du? welches Vaters Sohn bist du? und was hast du in unserem Reiche zu suchen?« –

Er antwortete ihr: »Ich komme aus dem Reiche des Kartaus, und bin der Sohn des Fürsten Lasar und der Fürstin Epistimia, und nenne mich Jeruslan. Zu dir bin ich gekommen, um mich dir zu empfehlen, und deine unaussprechliche Schönheit zu sehen.«

Die Zarewna Polikaria freute sich, nahm ihn bei den weißen Händen, führte ihn in ihre Gemächer und sprach zu ihm: »Herr Jeruslan Lasarewitsch, herrsche nicht nur über mein Reich, sondern dein Wille gebiete auch über mich.«

Jeruslan Lasarewitsch betrachtete ihre unbeschreibliche Schönheit und ward unruhig im Geiste, und die Jugend in ihm entbrannte. Er nahm die Zarewna Polikaria bei der Hand und fing an, ihre Zuckerlippen zu küssen; und er lebte mit ihr und herrschte über ihr Reich.

Die Tochter des Zaren Worcholomei, Anastasia, gebar einen liebenswürdigen Sohn. Ihr Vater war sehr erfreut und gab ihm den Namen Jeruslan. Er hatte rothe Wangen, Augen wie volle Tassen und einen starken Körper. Er glich seinem Vater, und Zar Worcholomei befahl, wegen dieser Freude ein großes Fest zu veranstalten.

Jeruslan, der Sohn des Jeruslan Lasarewitsch, hatte das sechste Jahr erreicht und fing an, auf den zarischen Hof zu seinem Großvater, dem Zaren Worcholomei, zu gehen, und die Kinder verspotteten ihn: »Jeruslan, du hast keinen Vater!« – Dies behagte ihm nicht, und er fing an, sie zu schlagen. Wen er beim Kopfe nahm, dem fiel der Kopf ab, wen er bei der Hand faßte, dem fiel die Hand ab, wen er beim Fuß ergriff, dem fiel der Fuß ab, und die Fürsten und Bojaren durften nicht bei dem Zaren darüber sich beklagen. Jeruslan Jeruslanowitsch ging in die Gemächer seiner Mutter und sprach zu ihr: »Meine Frau Mutter, sage mir die Wahrheit: habe ich einen Vater oder nicht?“ – Die Zarewna Anastasia seufzte tief und sagte mit Thränen: »Du hast einen Vater, den mächtigen und tapfern Ritter Jeruslan Lasarewitsch; er ist in das Jungfernreich zu der Sonnenstadt gereist.«

Jeruslan Jeruslanowitsch fing an, sich zu rüsten, um zu seinem Vater zu reisen, und seine Mutter Anastasia Worcholomejewna gab ihm einen goldenen Ring mit jenem Edelsteine. Jeruslan Jeruslanowitsch sattelte sich sein gutes Roß, nahm Abschied von Mutter und Großvater und ritt fort, um seinen Vater aufzusuchen.

Eines Tages früh im Morgenroth gelangte er in’s Jungfernreich an die Sonnenstadt. Um diese Zeit lag Jeruslan Lasarewitsch noch auf seinem Lager, und als er die Ritterstimme hörte, sprach er: »Ich höre, daß ein junger Ritter zu unserem Reiche gekommen ist. Ich will gehen und ihn tödten. Da befahl er, sein gutes Roß zu satteln, setzte sich dann auf, nahm seinen Schild in die Hand, unter den Arm die Lanze, und ritt in’s freie Feld. Wie zwei helle Falken auf einander stürzen, so stürzten die beiden gewaltigen Ritter, Vater und Sohn, auf einander zu, und als sie den Anlauf genommen, stieß Jeruslan Jeruslanowitsch seinen Vater mit dem stumpfen Ende seiner Lanze so gegen das Herz, daß er ihn beinahe aus dem Sattel gehoben hätte. Da sprach Jeruslan Lasarewitsch: »Junges Kind, du spaßest nicht fein.« Dann nahm sie wieder den Anlauf, und Jeruslan Lasarewitsch stieß seinen Sohn mit dem stumpfen Ende gegen das Herz, und warf ihn aus dem Sattel; das Roß Uroschtsch Weschei trat ihm auf die Kehle und drückte ihn an den Boden. Jeruslan Lasarewitsch wendete das scharfe Ende seines Speeres, und wollte ihm bösen Tod geben. Jeruslan Jeruslanowitsch aber faßte die Lanze mit der rechten Hand, und der goldene Ring mit dem Edelsteine blitzte an seinem Finger. Da fragte ihn Jeruslan Lasarewitsch: »Woher kommst du, Jüngling? welches Vaters und welcher Mutter Sohn bist du? und wie nennest du dich?«

Ihm antwortete jener: »Ich komme aus der Stadt Debri im Reiche des Zaren Worcholomei. Mein Vater heißt Jeruslan Lasarewitsch, und die Mutter ist die Zarewna Anastasia Worcholomejewna. Aber ich kenne meinen Vater nicht, und deßwegen bin ich in das Jungfernreich zu der Sonnenstadt gereist, um meinen Vater zu sehen. Mein Name ist Jeruslan.« –

Da stieg Jeruslan von seinem guten Rosse, hob seinen Sohn bei der Hand auf, küßte ihn auf die Zuckerlippen, drückte ihn an sein Herz und nannte ihn seinen lieben Sohn. Dann setzten sie sich auf ihre guten Rosse, und ritten zu der Stadt Debri. Als sie in das Reich des Worcholomei gelangten, fanden sie in der Stadt Jammer und Klagen, denn der Zar Worcholomei war gestorben. Die Einwohner erkannten sie aber und verneigten sich vor ihnen und sprachen zu Jeruslan Lasarewitsch: »Sei gegrüßt, unser Herr Jeruslan Lasarewitsch mit deinem Sohne Jeruslan Jaruslanowitsch! Unser Zar hat dir die Herrschaft über unser Reich hinterlassen.« – Dann trat die Zarin Anastasia Worcholomejewna aus ihrem Palaste, fiel zur Erde und sagte mit Thränen: »O meine rothe Sonne, von wo bist du aufgegangen und hast uns erwärmt? von wo ist die Morgenröthe aufgeglänzt?« – Sie nahm ihn bei den weißen Händen, führte ihn in die zarischen Gemächer, küßte ihm die Zuckerlippen und drückte ihn an ihr treues Herz. Alle Einwohner, Fürsten und Bojaren verneigten sich vor ihm und brachten reiche Geschenke.

In großen Ehren bestieg Jeruslan Lasarewitsch den Thron, ergriff das Zepter, legte den Purpur an und setzte die goldene Krone auf. Dann rief er seinen Sohn Jeruslan Jaruslanowitsch zu sich und sprach zu ihm: »Mein liebes Kind, reite du in das freie Feld, nimm dir ein Ritterroß und Ritterrüstung, schnalle das Schlachtschwert um, und nimm die Lanze. Sitze fest auf deinem Rosse und sei im Felde ein mächtiger und berühmter Ritter, wie ich war. Du bist auf mich eingeritten, und hast mich so gegen das Herz gestoßen, daß ich mich kaum im Sattel halten konnte. Wenn du einem Andern einen solchen Stoße gegeben hättest, so wäre er nicht am Leben geblieben. Reite in das Reich Daniil’s des Weißen, zu dem Zaren Kartaus, und zu deinem Großvater, dem Fürsten Lasar Lasarewitsch, dann zu meinem Schwertbruder, dem Fürsten Iwan, dem russischen Ritter, welcher jezt in dem Reiche des Zaren Feodul, des Drachenkönigs, herrscht, und zu meinem Schwertbruder, dem mächtigen und berühmten Ritter Raslanei, welcher jezt in dem Reiche des Freizaren Feuerschild, Flammenlanze herrscht. Erkundige dich bei diesen allen nach ihrer Gesundheit, und komme zu mir zurück. Auf deiner Reise aber sei sanft und redlich, aber tapfer.« – Darauf erhielt Jeruslan Jeruslanowitsch von Vater und Mutter den Segen, und begab sich auf die Reise.

In fünf Jahren bereiste er jene alle, und kehrte zu seinem Vater zurück. Da begegnete ihm auf dem Wege ein kleiner Mann und versperrte ihm den Weg; er aber fragte ihn: Alter Mann, was stellst du dich mir in den Weg und willst mich nicht vorbeilassen?« und er wollte ihn niedertreten; aber der kleine Mann erkannte, was er im Sinne hatte, und sprach zu ihm: »Armer, armer Ritter, du willst mich alten kleinen Mann tödten? du kannst von dem Alten nichts herunterziehen.« Dem Jeruslan behagte dieses Wort nicht. Er zog sein Schlachtschwert und wollte den Greis tödten. Aber als er auf ihn losstürzte, blies der Greis ihn an, und gegen dieses bloße Hauchen konnte er sich nicht auf dem Rosse erhalten und fiel zu Boden, wie eine Hafergarbe. Da nahm ihn der Greis auf die Arme und sagte: »Armer Ritter, willst du Tod oder Leben haben?« Jeruslan entsetzte sich darüber dermaßen, daß er dem Greise kein Wort erwidern konnte. Da legte ihn der Greis auf die Erde und sprach: »Mir kann kein Ritter, kein Held, überhaupt kein Mensch widerstehen. Aber bist du nicht der Sohn des Zaren im Reiche Worcholomei’s?« – Er antwortete, daß er derselbe sei. Da sprach der Alte: »Reite nach Hause, aber sprich nicht von mir in dem Reiche.« – Als er diese Worte gesprochen, wurde er unsichtbar.

Jeruslan Jeruslanowitsch kam zu seinem Vater und seiner Mutter, und sie kamen ihm entgegen, und die Fürsten und Bojaren warfen sich vor ihm mit der Stirn auf die Erde. Jeruslan Lasarewitsch nahm ihn bei den weißen Händen, küßte ihn auf die Zuckerlippen, führte ihn in die zarischen Gemächer, setzte ihn an die eichenen Tische und an die feinen gewürfelten Tischtücher, und gab ein großes Fest. Da fing Jeruslan Lasarewitsch an, seinen Sohn zu befragen: »Du bist zu deinem Großvater, dem Fürsten Lasar Lasarewitsch gereist; sage mir, wie es ihm geht, und ob er gesund ist?« –

Er übergab seinem Vater folgenden Brief vom Zaren Kartaus: »Zar Kartaus, dem großen Zaren und gewaltigen Ritter Jeruslan Lasarewitsch herzlichen Gruß! Sei gesund mit deiner Gemahlin Anastasia Worcholomejewna und deinem Sohne Jeruslan Jeruslanowitsch, und mit deinen Fürsten und Bojaren und allen Unterthanen! Ich herrsche in meinem Reiche mit Gottes Hülfe bis jezt!« –

Auf derselben Schrift war von dem Fürsten Lasar Lasarewitsch an seinen Sohn geschrieben: »Meinem lieben Sohne Jeruslan Lasarewitsch, und meiner lieben Schwiegertochter, Anastasia Worcholomejewna, meinem Enkel Jeruslan Jeruslanowitsch, und deinem ganzen Reiche Friede und Segen! Herrsche im Namen Gottes und sei glücklich von nun an auf viele Jahre hinaus.«

Jeruslan Lasarewitsch war sehr froh und sprach zu seinem Sohne: »Bist du bei meinem Schwertbruder, dem Fürsten Iwan, dem russischen Ritter, gewesen?« –

Und Jeruslan Jeruslanowitsch gab auch von ihm seinem Vater einen Brief, in welchem von dem jüngeren Bruder, dem Fürsten Iwan, dem russischen Ritter, geschrieben stand: »Dem großen Zaren der Zaren, und dem Ritter der Ritter, meinem ältern Bruder Jeruslan Laserewitsch, herzlichen Gruß! Heil dir auf viele Jahre mit deiner Gemahlin Anastasia Worcholomejewna, und deinem Sohne, dem mächtigen Ritter Jeruslan, und deinem ganzen Reiche! Herr, als dein Sohn auf mein Reich zuritt, kam ich auf dem freien Felde aus einer Schlacht; ich kannte deinen Sohn Jeruslan nicht, und dachte, er käme ein Ritter, um mein Reich zu unterjochen. Ich stürzte auf ihn los und wollte ihm mit dem Stahlschwert den Kopf abhauen; er aber nahm die lange Lanze und stieß mich mit dem stumpfen Ende so gegen das Herz, daß ich mich kaum im Sattel erhalten konnte; und da sprach er für sich: »Ich bin ja der Sohn des Jeruslan Lasarewitsch.« Ich hörte diese Worte und verzieh ihm; aber die Wunde, die er mir gestoßen, habe ich bis jezt noch nicht heilen können.«

Jeruslan Jeruslanowitsch überreichte seinem Vater noch ein Schreiben von dem Ritter Raslanei, in welchem geschrieben stand: »ich, der große Zar Raslanei Prochorowitsch, meinem jüngern Bruder, dem großen Zaren und gewaltigen Ritter Jeruslan Lasarewitsch, herzlichen Gruß! und mit dem Gruße auch dir, dem Zaren, mit deiner schönen Gemahlin Anastasia Worcholomejewna und deinem Sohne, dem gewaltigen Ritter Jeruslan Jeruslanowitsch, Wohlergehen! Dein Sohn hat mich am Kopfe verletzt, er hat ihn mit dem stumpfen Ende der Lanze durchstoßen, und ich konnte meine Wunde bis jetzt noch nicht heilen; aber ich erfuhr, daß er dein Sohn sei, und habe ihm verziehen, und ihn unbeschädigt zu dir entlassen. Hätte ich dies nicht erfahren, so hätte ich ihm den Tod gegeben.«

Dann erzählte auch Jeruslan selbst seinem Vater Alles der Reihe nach, und auch von dem Greise, und sprach: »Herr Vater, als ich zurückkehrte in dein Reich, begegnete mir im freien Felde auf em Wege ein kleiner Mann; er war schon alt und mit grauen Haaren geziert. Der stellte sich auf den Weg und ließ mich nicht fort. Ich wollte ihn tödten, weil er mir den Weg versperrte; er aber blies mich an, und so stark, daß ich mich auf meinem guten Rosse nicht erhalten konnte und zu Boden fiel. Da wollte er mich umbringen, aber er fragte mich erste, woher ich sei. Ich antwortete: ich sei aus dem Reiche des Zaren Worcholomei, aus der Stadt Debri, der Sohn des Zaren Jeruslan Lasarewitsch. Da sagte mir der kleine Mann, ich sollte mit ihm nicht in meinem Reiche prahlen. »Ja,« antwortete seinem Sohne Jeruslan Lasarewitsch, »du mußt bei dem Feste nicht prahlen, daß er dich tödten wollte.«

Nun begann das Fest, und sie belustigten sich und waren alle in großer Freude, daß Gott den Jeruslan Jeruslanowitsch gesund zurück gebracht hatte. Da fing Jeruslan Lasarewitsch an, seinen Sohn und dessen Tapferkeit zu rühmen, wie er Zaren und gewaltige Ritter niedergestoßen, und wie er ihn in der Kindheit, da er erst fünf Jahr alt war, tödten wollte, weil er ihn noch nicht kannte. Da wunderten sich alle Fürsten und Bojaren über seine Tapferkeiten und dankten Gott, daß Jeruslan Lasarewitsch einen so tapfern und berühmten Sohn habe, wie er selbst war, und sie sagten, daß es solcher Ritter, wie dieser Vater und sein Sohn, keine weiter auf der Welt an Tapferkeit gäbe, und daß sich Niemand fände auf der Welt, der gegen sie Stand halten könnte. Obgleich Ritter Raslanei auch groß war, so hätte ihn Jeruslan Jeruslanowitsch doch beinahe auch erschlagen.

Jeruslan Lasarewitsch unterwarf seiner Herrschaft viele Städte, und manche, die von seiner Tapferkeit hörten, gaben ihre Städte gutwillig unter seine Macht. Und er saß auf dem Thron in guter Gesundheit zwanzig Jahre, und sein Alter war neun und vierzig Jahr und drei Monate, als er starb. Seine Gemahlin Anastasia Worcholomejwena weinte und war untröstlich über ihren Gatten, und diesem Kummer erlag auch sie bald darnach. Und ihr Sohn Jeruslan Jeruslanowitsch weinte sehr über seinen Vater, den mächtigen Ritter Jeruslan Lasarewitsch, und lange Zeit weinte er auch über seine Mutter. Bald nach dem Tode seiner Aeltern bestieg er den Thron seines Vaters und herrschte mit Ruhm.

Anton Gotthelf Dietrich (Russische Volksmärchen)

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