Suche

Maras Reise

1
(2)
Vor langer Zeit lebten in einem kleinen Dorf zwei Mädchen. Obgleich sie nicht blutsverwandt waren, traf man kaum eine ohne die andere an und jedem Wanderer, der sich in die einsame Gegend verirrt hatte, mochten sie wie Schwestern erscheinen.
So unzertrennlich sie auch waren, so sehr unterschieden sie sich doch in Aussehen und Gemüt. Während Annchen mit ihren goldblonden Locken und strahlenden Augen einem Engel glich, konnte man Mara mit ihrem gekräuselten Haar und den blitzenden Augen beinahe für einen wilden Waldgeist halten. Gemeinsam spielten sie in den weiten Wäldern und Wiesen um das Dorf.
Es geschah aber, dass Mara die Freundin eines Tages beim Versteckspiel nicht mehr finden konnte. Sie wartete, bis die Dunkelheit hereinbrach, doch schließlich kehrte sie alleine und traurig heim.
Lange suchte man nach dem Mädchen, aber Annchen blieb spurlos verschwunden, bis selbst ihren Eltern keine Hoffnung mehr blieb. Allein Mara wollte nicht glauben, dass die Freundin für immer verloren war, und so lief sie eines nebligen Morgens davon, um sie zu finden.
Viele Tage wanderte sie einsam durch die Wälder, aß von den wilden Beeren und Früchten und schlief im Schatten der hohen Bäume. Als sie beinahe nicht mehr daran glaubte, je auf ein anderes lebendes Wesen zu treffen, fielen erste Sonnenstrahlen zwischen den dicken Stämmen hindurch und das Mädchen trat auf eine weite Lichtung. Dort, zwischen den blühenden Gräsern und blauen Glockenblumen, stand eine Hirschkuh mit seidigem Fell und großen, dunklen Augen. Sie floh nicht, als Mara sich behutsam näherte, und sprach dann zum Erstaunen des Mädchens mit einer menschlichen Stimme: “Noch nie hat sich eine Sterbliche so weit in meinen Wald verirrt. Was willst du, dass du schon so lange durch mein Reich irrst, ohne je ans Aufgeben zu denken?”
Da berichtete ihr Mara alles und die weise Hirschkuh wiegte ihren Kopf nachdenklich von einer Seite zur anderen.
“Das Mädchen, von dem du sprichst, habe ich nicht gesehen, aber da ich Entschlossenheit in deinem Blick bemerke, werde ich dir dennoch helfen.” Dann führte sie Mara durch den Wald. Das Mädchen wusste nicht zu sagen, ob Tage oder nur ein kurzer Augenblick vergangen waren, bis sie an seinen Rand gelangten.
“Nun kann ich dich nicht mehr weiter begleiten”, sagte das weise Tier, “aber meine Freunde werden dich unterstützen. Geh nur immer weiter, bis du zu einem hohen Berg gelangst. Auf dessen Spitze erwartete dich einer, der dir helfen kann.” Mit diesen Worten wies die Hirschkuh mit ihrem Geweih in eine Richtung und verschwand dann im Wald.
Mara tat, wie ihr geheißen, und wanderte viele Jahre durch die Lande, immer gen Osten.
Endlich erreichte sie einen Berg, dessen Gipfel so hoch war, dass er in den Wolken verschwand. Mühevoll erklomm sie die steilen Berghänge und musste sich vor tiefen, todbringenden Schluchten hüten. Schließlich erreichte Mara, die nun längst kein Kind mehr war, die höchste Spitze des Gebirges.
Dort hatte ein riesiger Adler, wie sie in ihrem Leben noch keinen ähnlichen gesehen hatte, seinen Horst errichtet. Als Mara ihm von der Hirschkuh berichtete und ihn um Hilfe bat, krächzte er: “Dann steig auf meinen Rücken. Ich will dich zum Mond tragen, wo die alte, weiße Schlange haust, die alles sieht, was unten auf der Welt vor sich geht.”
Als sie sicher in seinem weichen Federkleid saß, spreizte er seine mächtigen Schwingen und erhob sich einem brausenden Wirbelsturm gleich in die Lüfte.
Er schwebte höher und höher hinauf, bis Mara die Welt unter sich nicht mehr erkennen konnte und noch weiter, ehe er schließlich zum Mond gelangte.
“Nun suche die Schlange und frage sie um Rat. Ich will solange auf dich warten”, sagte er und Mara machte sich auf ihren einsamen Weg zwischen den seltsamen weißen Schluchten und Bergen des Mondes hindurch.
Nachdem sie eine Weile gegangen war, kam sie zu eine tiefen Höhle. In deren Öffnung lag ein großer, schimmernd weißer Felsbrocken. Wie sie sich näherte, schlug der vermeintliche Stein auf einmal die riesigen, gelben Augen auf und sie bemerkte mit Entsetzen, dass es der Kopf der Schlange war, der aus ihrer Höhle ragte.
“Ich habe lange keine Sterblichen mehr an diesem Ort gesehen”, sagte sie und ihr Zischen fuhr Mara durch Mark und Bein. “Was suchst du hier?”
Mara berichtete, was sie erlebt hatte und fügte hinzu: “Nur du siehst alles, was auf der Erde geschieht. Sag mir, welches Unheil Annchen widerfahren ist.”
“Ich weiß es wohl”, grollte die Schlange und gähnte. Ihre spitzen Zähne schimmerten wie reinstes Perlmutt. “Es langweilt mich, wie das meiste, das euch Menschen auf die viel zu weichen Herzen drückt. Wenn dich nicht meine Freundin, die Hirschkuh, schickte, hätte ich dich längst verspeist, aber so will ich dir den Gefallen tun und berichten, was ich sah. Nützen wird es dir freilich wenig: Vor vielen Jahren schon nahmen die Unterirdischen sie in ihr Reich, denn sie haben Gefallen an euch Menschen und manchmal sehnen sie sich nach Gesellschaft. Geh nach Hause und vergiss deine Gefährtin, denn zurückgeben werden sie das Mädchen nimmer. Du müsstest schon selbst hinabsteigen und es holen.”
“Aber wie kann ich hinabgelangen?”, rief Mara da und ihre Stimme bebte vor Aufregung. “Bitte, so sag es mir doch!”
“Das weiß ich nicht”, sagte die Schlange gleichgültig. “Vielleicht kann es dir die alte Meerhexe sagen, aber nun lass mir meine Ruhe.”
Da lief Mara zurück zu dem wartenden Adler. Mit mächtigen Schwingen trug er sie hinab zur Erde, auf die Spitze seines Berges.
“Ich habe für dich getan, was ich konnte”, sagte er. “Nun musst du alleine weiterziehen.”
“Hab Dank”, erwiderte sie und verbeugte sich vor dem großen Vogel. “Aber kannst du mir nicht sagen, wie ich zu der Meerhexe komme?”
Da wies der Vogel mit seinem Schnabel noch weiter nach Osten und sprach: “Du musst in dieser Richtung weiterziehen, bis du zum Ozean gelangst. Dort wirst du einen Freund von mir finden, der dir weiterhelfen kann.”
So wanderte Mara abermals viele Jahre durch die Lande, ehe sich vor ihr die weite Küste erstreckte. In einer seichten Bucht spielte ein Delfin im kristallklaren Wasser. Als sie ihm vom Adler berichtete und ihn um Hilfe bat, erwiderte er: “Halte dich nur an meiner Flosse fest und ich will dich zur Meerhexe bringen.”
Wie ein Pfeil schoss er durch die Fluten und trug Mara tiefer und tiefer in die dunklen Meeresschluchten hinab. Als sie den Grund erreicht hatten, stieß er sie an und rief: “Nun geh und suche die Hexe. Ich will hier auf dich warten.”
Mara lief durch einen Wald aus Schlingpflanzen, bis sie schließlich zu einem großen Felsbrocken gelangte. Dort saß die alte Meerhexe in einem Kleid aus grünem Seetang und das lange, graue Haar schwebte um sie wie tastende Fangarme.
“Was willst du?”, fragte sie mit schneidender Stimme. “Welcher Grund könnte einen Menschen wie dich so tief hinab führen?”
Als Mara aber eben sprechen wollte, lachte die Alte auf und fuhr fort: “Nein, du brauchst es mir nicht zu sagen, denn ich weiß alles, was auf der Welt vor sich geht. Du willst also erfahren, wie du in das Reich der Unterirdischen hinuntersteigen kannst? Nun, dann ist deine Reise noch lange nicht vorüber. Mir ist es gleich, doch willst du noch mehr deiner viel zu kurzen Lebensjahre opfern, nur um ein Mädchen aus deinen Kindertagen zu finden? Du wirst alt sein, bis du zu ihr gelangst!”
“Das ist mir egal”, erwiderte Mara, obwohl der Gedanke sie schaudern ließ. “Ich will alles tun, solange ich sie nur finde.”
“Nun gut”, sagte die Alte mit einem hämischen Grinsen. “Dann geh, bis du zum Hügelland gelangst und suche dort nach dem Eingang.”
Ihr Lachen begleitete Mara, bis der Delfin sie zur Oberfläche zurückgetragen hatte. Die Frau bedankte sich und setzte ihren Weg fort, nachdem der freundliche Meeresbewohner ihr die Richtung gewiesen hatte.
Diesmal wanderte sie länger als sie zum Berg und zum Meer gebraucht hatte und oft war sie kurz davor umzukehren. Aber dann dachte sie daran, dass der Weg nicht mehr weit sein konnte und setzte die Wanderschaft mit neuer Hoffnung fort.
Schließlich gelangte sie auch zum Hügelland, aber als sie sich dort unter einem knorrigen Baum ausruhte und aus einer Lache trinken wollte, sah sie das Spiegelbild einer alten Frau im Wasser.
“Nun gut”, sprach sie da grimmig zu sich selbst, “was bleibt mir nun schon übrig, als das zu beenden, was ich vor so langer Zeit begonnen habe?”
So suchte Mara zwischen den Hügeln und endlich fand sie den Eingang zu einem langen Tunnel. Sie zögerte nicht, ihn hinabzusteigen und lange Tage wanderte sie im Dunkeln. Dann aber sah sie Licht in der Ferne und nun hastete sie rasch den Gang entlang. Bald öffnete er sich zu einer schönen, sonnenüberfluteten Wiese, auf der die Unterirdischen in Gestalt von hochgewachsenen Männern und Frauen umhergingen. Als sie Mara bemerkten, da scharten sie sich um sie und warfen neugierige Blicke auf die Sterbliche, die es gewagt hatte, ihr Reich zu betreten.
“Ich bin hier”, rief sie da, denn sie war jenseits aller Furcht, “um meine Freundin zurückzuholen, für die ich bis zum Mond geflogen und in die Tiefen des Meeres hinabgeschwommen bin!”
Da lachten die Unterirdischen und sie riefen: “Seltsam seid ihr Menschen, aber du sollst sie zurückhaben, denn nach all den Jahren sind wir ihrer überdrüssig.”
Sie führten Mara unter einen blühenden Fliederstrauch, wo Annchen saß und plötzlich, nach all den langen Jahren, musste sie weinen, denn ihre Freundin war um keinen Tag gealtert.
“Die Zeit steht still in unserem Land”, sagten die Unterirdischen. “Aber nun nimm sie und geh, denn du bist unerlaubt zu uns gekommen.”
Annchen aber sah Mara nicht an und antwortete auch nicht, als sie zu ihr sprach, denn sie war immer noch unter dem Bann des unterirdischen Reiches. Da nahm Mara ihre Hand und führte sie den ganzen Weg durch den Tunnel hinauf, wie eine Schlafwandlerin. Erst als Annchens Füße die Erde wieder berührten, erwachte sie wie aus tiefem Schlaf und sah ihre Freundin an.
“Wer seid Ihr?”, fragte sie und rieb sich die Augen. “Wie bin ich hierher gelangt?” Da berichtete Mara ihr von allem und das Mädchen lauschte stumm.
“Aber ach”, endete die Frau mit ihrer Erzählung, “nun habe ich dich gefunden, doch meine Jahre sind vergangen und ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt.” Da strich Annchen sich über die Kleider, an denen noch leuchtender Blütenstaub aus dem unterirdischen Reich haftete und blies einige der goldenen Körner auf Mara. Sobald der verzauberte Staub sie verließ, alterte sie, aber Mara wurde jünger.
“Was tust du?”, fragte diese, doch Annchen hob nur lächelnd den Kopf. Nun sahen sie sich an, beide jung wie eben erst erblühte Blumen, doch auch keine Kinder mehr.
“Ich habe doch einiges gelernt, im Land dort unten”, sagte Annchen sanft. “Aber nun komm. Lass uns endlich zurückgehen.”
 
Quelle: Miyax

 

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content