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Marjolaines Wunsch

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Marjolaine Graufell war oft allein. Der kleinen Maus fehlte etwas, das alle anderen Mäuse hatten: Sie war ohne Schwanz geboren. Dabei war ein hübscher, langer Schwanz nicht nur der Stolz und die Zierde einer jeden Maus, sondern auch sehr wichtig im Mäusealltag: Ohne Schwanz war es unmöglich, geschickt zu springen und zu balancieren, wenn man auf der Suche nach Nahrung war, jemand besuchen oder einfach nur spielen wollte.

So war Marjolaine meistens nicht bei den anderen Mäusen, wenn diese umher tollten und wurde oft verlacht, wenn sie mit ihrem schwankenden Gang ungeschickt von einem Ort zum anderen zu hüpfen versuchte. Das tat weh.

Fast immer blieb die kleine Maus so zu Hause, las stundenlang in ihren vielen Büchern, von denen die anderen nichts ahnten, und kümmerte sich liebevoll um ihr Kräutergärtchen, säte und hegte, hackte, goss, grub, erntete und trocknete Kräuter zu duftenden und heilsamen Tees. In ihren Beeten war Marjolaine rundum zu Hause und fühlte sich wohl.

Bei einem ihrer seltenen Spaziergänge hatte die Maus zu Beginn des Winters eine dicke dunkelbraune Zwiebel entdeckt. Zuerst hatte sie überlegt, sich eine köstliche Suppe daraus zu kochen oder einen erfrischenden Salat zu bereiten, dann aber hatte sie Mitleid mit der armen Zwiebel bekommen und sie statt dessen sorgsam in ihrem größten Topf eingepflanzt. Diesen stellte sie an ein schön sonniges Plätzchen in ihrer Mauseküche, goss und düngte fleißig und wartete Tag für Tag, dass etwas zu wachsen begann.

Viele Male war Marjolaine des Abends schon aus ihrer langen Rüschenschürze, die ihre Schwanzlosigkeit verbarg, in ihr dickes Nachthemd geschlüpft, als sie endlich eines Morgens ein erstes winziges grünes Spitzchen erblickte, das sich zaghaft aus der dunklen Erde zu schieben begann. Stunde um Stunde hockte sie auf ihrem niedrigen Schemelchen und schaute liebevoll auf den zarten Spross.
Abends wurde ihre Geduld mit dem Erscheinen einer zweiten zartgrünen Spitze belohnt.
Ganz aufgeregt und zufrieden ging Marjolaine zu Bett.

Nachts träumte sie einen Traum, den sie nun schon viele Male gehabt hatte:
Ein Schwanz war ihr gewachsen, prächtig grau und gerade passend lang zum Balancieren, und mit diesem Schwanz war sie, Marjolaine Graufell, eine berühmte Trapezartistin geworden, die vor keinem noch so gewagten Sprung zurückschreckte. Von dem Geräusch des donnernden Applauses ihres riesigen Publikums wurde die kleine Maus wach. Draußen donnerte und stürmte es.
Es war noch mitten in der Nacht, viel zu früh, den Tag schon zu beginnen.
Wohlig versenkte Marjolaine sich noch einmal in ihren Traumbildern. Wie sehr sie sich schon immer gewünscht hatte, Zirkusakrobatin zu sein! Welch herrliches Leben das wäre, schwerelos dort oben hoch unter der Zeltkuppel zu fliegen. Wie sehr würde es ihren Alltag erleichtern, einfach mir nichts, dir nichts auf die höchsten Tische in den Menschenhäusern springen zu können und geschickt manche fette Käsekruste zu stibitzen!
Aber ach, die Maus seufzte, das waren Wunschträume – sie hatte nun mal keinen Schwanz und würde auch nie einen haben.

Verdrossen quälte sie sich aus dem Bett und schlüpfte in ihre Rüschenschürze.

Als Marjolaine in ihre kleine Küche kam, um sich etwas Eichelkaffee aufzubrühen, ging sie zuerst zu ihrem Blumentopf, den sie nun schon so lange beobachtete.
Tatsächlich, die winzigen grünen Spitzchen waren über Nacht gewachsen und bildeten Ansätze von zwei dicken, festen Blättchen.
„Wie wunderschön!“, dachte die Schwanzlose getröstet und setzte sich mit ihrer Kaffeeschale auf den kleinen Schemel, um wieder einen Tag vor dem Fenster zu verbringen. Bevor sie selber trank, gab sie der kleinen Pflanze etwas Wasser und lockerte mit ihren zierlichen Pfoten vorsichtig die Erde um die grünen Spitzen.

Sie vertiefte sich in ihr Buch und sah immer wieder nach, welche Fortschritte ihre Blume machte.
Wie schnell sie wuchs! Wie schön das Grün leuchtete!

Draußen war Winter, die Erde war rutschig. Hoch lag der Schnee um das kleine Mäusehaus. Marjolaine traute sich nicht so recht nach draußen. Zu oft schon war sie ausgerutscht, wenn sie mit ihrem ungeschickten Gang versucht hatte, über die glatten Pfade zu laufen, und mehr als ein Mal hatte sie sich schmerzhafte blaue Flecken geholt oder sogar eine Pfote verstaucht. So beschränkte sie ihre Wege auf das Nötigste und sah lieber gemütlich auf ihrem Schemel hockend dem Treiben der anderen Tiere zu.

Vögel flatterten von Busch zu Busch, um hier und da ein paar vergessene Beeren zu finden. Mäuse tollten fröhlich umher, bewarfen einander mit Schnee, schlitterten jubelnd und bauten lachend eine riesige Schneekatze mit glühenden Kohleaugen.

Besonders angetan hatten es Marjolaine aber die flinken Eichhörnchen, die geschickt von Baum zu Baum segelten und den ganzen Tag fröhlich schnatterten. Wie sehr die graue Maus sich wünschte, es ihnen nachtun zu können…

Erst nach Stunden riss sich die Kleine von dem fröhlichen Spektakel los, um auf ihren Dachboden zu gehen, auf dem köstlich duftend Büschel von Kräutern aus ihrem Beet trockneten und einen Hauch von Sommer in den tiefen Winter trugen.

Sorgfältig zupfte Marjolaine Blättchen für Blättchen von spröden Stängeln, hackte hier ein Kraut, mischte dort zwei andere und hatte bis zum Abend schon einen guten Teil ihrer reichen Ernte in großen Dosen verstaut – Vorrat für lange Zeit!

Schnell knabberte die Maus eine Käserinde, brühte sich einen köstlichen Minztee auf und ließ sich müde auf ihrem Schemel nieder, um den Rest des Abends mit ihrer Pflanze zu verbringen.

Wie sie gewachsen war! Schon waren deutlich zwei schmale, feste Blätter zu sehen, die mit jeder Stunde ein wenig wuchsen.

Tagelang arbeitete die Maus fleißig auf ihrem Kräuterboden, verbrachte viele ruhige Stunden mit der Pflege ihrer Pflanze und dem Beobachten der anderen Tiere.
Es war klirrend kalt geworden. Ein scharfer Wind fegte über den Schnee und veränderte die Landschaft von Stunde zu Stunde.

Die Blätter der Pflanze wuchsen der kleinen Maus über den Kopf, zwischen ihnen zeigten sich Ansätze einer Blüte, wie Marjolaine eines Abends voller Staunen entdeckte.

Eines Tages saß die kleine Maus wieder vor dem Fenster und schaute in das weiße Flockentreiben hinaus. Fast alle Vögel hatten sich wärmere Plätze gesucht und die Mäuse blieben in der Eiseskälte auch lieber in ihren Häusern. Die Eichhörnchen schliefen fest und sicher in ihren Kobeln. Still war die Welt und weiß.

Doch was war das? Ein Farbfleck lugte unweit von Marjolaines Fenster aus einer hohen Schneewehe.
„Das kann keine Pflanze sein“, dachte die kleine Maus sofort. „Es muss eines von den Tieren sein, das da im Schnee steckt, und freiwillig ist bei dieser Kälte niemand dort draußen. Ich muss nachsehen, ob ich helfen kann!“

Flugs schlüpfte die kleine Maus in ihre dicken Stiefel, warf einen Mantel über die Rüschenschürze, nahm einen Stock, um sich darauf zu stützen und stapfte vorsichtig hinaus in den Wintertag.

Wie die Kälte biss! Wie rutschig der gefrorene Boden war! Im Nu hatte die schwanzlose Maus die Balance verloren und lag längelang im Schnee. Tapfer rappelte sie sich auf, schüttelte die Flocken aus dem Pelz, stolperte wieder, fiel abermals. Diesmal taten ihr die Pfoten ziemlich weh und sie beschloss, einfach zu dem Farbklecks zu kriechen, bevor ihr Ärgeres geschah.

Nach mühevollen Minuten gelangte Marjolaine bei ihrem Ziel an. Sie hatte Recht gehabt, ein Tier lag halb begraben im tiefen Schnee. Eindeutig erkannte die Maus ein Stückchen eines buschigen, roten Eichhörnchenschwanzes.
„Armes Tier“, dachte sie,“ob da noch etwas zu machen ist?“
Eilig begann sie, mit ihrem Stock und den Vorderpfoten die dichten Schneemassen von dem kleinen Körper zu schieben. Bald wurde ihr dabei recht warm in ihrem dicken Mantel, denn der Schnee war hart gefroren und bildete eine feste Decke.

Marjolaine grub und grub, bis sie den dünnen Körper eines zierlichen Eichhörnchens freigelegt hatte. Lebte es überhaupt noch?
Die Maus wusste es nicht, verlor aber auch keine Zeit mit überflüssigen Gedanken, sondern packte das Tier, das größer war als sie selber, geschickt an seinem buschigen Schwanz und schleppte es langsam, immer wieder selbst fallend, unter großen Anstrengungen zum Mäusehaus.

Dort bettete Marjolaine das immer noch reglose Tier auf dem weichen, bunten Teppich ihrer Küche und begann, systematisch Vorder- und Hinterpfoten des Gastes warm zu reiben, während ein großer Kessel Wasser auf dem Küchenfeuer langsam warm wurde.

Eine – wie es der Maus schien – endlose Zeit später begann das Eichhörnchen endlich mit Pfoten und Schwanzspitze zu zucken, und als der Kessel zu singen begann, öffnete es langsam seine Augen und blickte sich verwirrt um.

Marjolaine sprach das erwachende Tier beruhigend an: „Hab keine Angst, es ist alles gut. Jetzt bist du sicher und warm!“ Später fügte sie hinzu: „Ich bin Marjolaine Graufell und habe dich halb erfroren aus dem Schnee gegraben. Hier ist mein Haus. Du kannst bei mir bleiben, bis es dir besser geht!“
„Danke“, krächzte das Eichhörnchen mit rauer Stimme. „Ich bin Pimpernell Hüpfeschnell, die Kunstfliegerin. In all diesen Schneewehen habe ich vergessen, wo ich meine Nüsse versteckt habe und muss wohl vor lauter Hunger ohnmächtig geworden und eingeschneit sein.“
Marjolaine lächelte:“Ja, das Land sieht wirklich sehr verändert aus. Aber weißt du, ich kann mich nicht so gut bewegen, weil ich keinen Schwanz habe“, – die Maus wurde ein wenig rot – „und so sitze ich viel am Fenster und betrachte das Land. Ich habe dich schon oft in den Wipfeln der Bäume fliegen sehen. Es sieht wunderschön aus! Ich habe auch beobachtet, wo du dein Futter versteckt hast. Wenn es dir besser geht, gehen wir zusammen hin, ja?“
Das Eichhörnchen sah die Maus dankbar an. „Du bist klug, dass du dir solche Dinge merken kannst. Ich vergesse die Verstecke andauernd!“
„Jetzt mache ich dir aber erst mal einen schönen heißen Wegerichtee gegen die Erkältung“, meinte Marjolaine ein bisschen verlegen.

Ein paar Minuten später war sie mit einer dampfenden Tasse zurück, die ab und zu bei ihrem wackeligen Gang ein paar Tropfen verlor. Die Maus stützte das Eichhörnchen vorsichtig und half ihm trinken. Man sah dem Tierchen förmlich an, wie es stückweise auftaute.
„Ein bisschen Futter habe ich auch für dich“, erklärte die Maus dann und schwankte in ihre Speisekammer, wo sie noch ein Beutelchen Sonnenblumenkerne aus ihrem Garten aufbewahrte.
Hungrig und dankbar knabberte die Kunstfliegerin einige davon, um bald darauf in eine tiefen, heilsamen Schlaf zu versinken.

Marjolaine deckte die Kranke mit ihrem Mantel warm zu und setzte sich lautlos an ihre Seite, wo sie auch etwas Tee trank, um selber wieder warm zu werden.

Bald stemmte sie sich mühsam wieder hoch, um ihre Pflanze ebenfalls zu tränken. Die winzige Blüte war ein wenig gewachsen und zeigte zarte Kerben.
„Wer du wohl sein magst?“, rätselte Marjolaine.
Sie leistete der Pflanze noch etwas Gesellschaft beim Wachsen und schlief dann von den Anstrengungen des Tages müde auf ihrem Schemel ein.

Am nächsten Morgen ging es Pimpernell schon viel besser. Die zwei Tiere erzählten viel. Wackelig schlurfend zeigte Marjolaine Pimpernell das ganze Haus. Besonders der duftende Kräuterspeicher gefiel der Kunstfliegerin, die sich bei ihrem Abenteuer eine heftige Erkältung geholt hatte und so manchen guten Kräutertee probieren durfte.
Einige Tage später ging es dem Eichhörnchen dank der ausgezeichneten Pflege schon so gut, dass die zwei Tiere sich zum Nussversteck aufmachen konnten. Schwer beladen kehrten beide wieder zum Mäusehaus zurück, denn sie waren überein gekommen, die Nüsse für den Rest des Winters hier zu lagern – ein Versteck, das selbst Pimpernell nicht so schnell vergessen würde.
In der warmen Nachmittagssonne hieß es dann vorläufig Abschied nehmen: Die Kunstfliegerin brach auf, um noch ein paar Tage in ihrer Kobel in den Baumwipfeln zu schlafen.

Marjolaine fand nun wieder mehr Zeit, sich um ihre Kräuter zu kümmern, und das war gut so: Das Eichhörnchen hatte auf dem Weg zu seinem Nest andere Tiere getroffen und ihnen voller Begeisterung erzählt, wie Marjolaine ihm das Leben gerettet hatte und welch eine gute Heilerin sie war.

So fand sich nun ein Tier nach dem anderen am Mäusehaus ein, um sich gute Kräuter gegen so manches Gebrechen zu holen. Oft blieben die Kranken auch ein paar Stunden, tranken Tee mit der Maus und ließen sich staunend aus ihren dicken Büchern vorlesen. Bald war Marjolaine im ganzen Umkreis als Kräutermaus bekannt.

Auch Pimpernell kam immer wieder zu Besuch und erzählte der kleinen Maus alles, was im Wald geschah. Oft brachte das Eichhörnchen auch Nüsse aus dem einen oder anderen wiedergefundenen Versteck.

Abends saß die Maus stundenlang bei ihrer Pflanze, pflegte sie und redete mit ihr. Aus den grünen Trieben waren zwei stattliche Blätter geworden und auch die winzige Blüte war gewachsen und gewann täglich an Farbe.

Als Marjolaine eines Morgens ihren Eichelkaffee auf ihrem Schemel trinken und dabei der Blume einen guten Morgen wünschen wollte, hielt sie erstaunt inne: Die ganze Küche war von einem wunderbaren Duft erfüllt, der die Maus sehr glücklich machte.
Tatsächlich begann die rosa Blüte langsam, ihre einzelnen Glöckchen zu öffnen, und die Maus verbrachte fast den ganzen Tag damit, diesem Wunder zuzusehen. Ganz erfüllt von dem herrlichen Geruch träumte sie nachts wunderbare Träume …

Morgens wachte Marjolaine erfrischt und froh auf und stürmte als erstes zu ihrer Blume.

Wie erstaunt war sie, als sie sah, dass sich diese über Nacht abermals verändert hatte! Die Blüte war jetzt voll geöffnet und duftete betörend und über ihr schwebte leicht ein winziges Wesen.
„Ich bin Hyacintley, die Blütenelfe“, sprach dieses die Maus mit feiner Stimme an. „Ich danke dir, dass du mich all die Tage so gut gehegt und gepflegt hast und meine Blüte mitten im Winter blühen darf. Zum Dank möchte ich dir einen Wunsch erfüllen!“

Marjolaine war völlig verblüfft. Bei all ihrer Gartenarbeit hatte sie noch nie eine Blumenelfe gesehen. Und dann noch eine, die ihr einen Wunsch gewährte … Was sollte sie nur sagen?
Sofort fiel ihr das ein, wovon sie schon so lange geträumt hatte: Ein Schwanz, mit dem sie sich geschickt wie die anderen Mäuse bewegen konnte … das war schon immer ihr Herzenswunsch gewesen.

Sie sah die kleine Elfe an und atmete tief den Geruch der Hyazinthenblüte ein.

„Ich wünsche mir, dass das Leben immer ein bisschen nach Hyazinthen duftet“, sagte sie dann leise. „Dann kann ich immer ein wenig froh sein.“

Die Fee lächelte, ein Blitz strahlte auf, und sie war verschwunden. Zurück blieben die Blume und eine zufriedene schwanzlose Maus.

Sommers wie Winters hing nun stets in Marjolaines Haus ein leichter Duft von Hyazinthen und Glück.

Quelle: Maria Sassin

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