Die Mutter des Erotas aber wünschte sich genau davon zu überzeugen, ob die schöne Königstochter auch wirklich an dem Genüsse des Apfels gestorben sei. Sie hielt daher einen Spiegel vor die Sonne und sprach:
‚Sonne mein mit deinem Schein,
Sag mir, bei deiner Augen Licht!,
Welches ist das schönste Weib auf Erden?‘
‚Auch du bist schön,‘ antwortete die Sonne, ‚aber Maroula hat nicht ihres Gleichen auf der Welt.‘ Als des Erotas Mutter hörte, dass Maroula noch am Leben sei, ward sie noch viel zorpiger über sie und begab sich, diesmal mit einem verzauberten Ringe, abermals unter ihr Schloss. Die Prinzessin kaufte den Ring, aber kaum hatte sie ihn an den Finger gesteckt, als sie leblos zu Boden sank. Und diesmal merkten die Brüder bei ihrer Rückkehr nicht, dass der Ring am Finger ihrer Schwester bezaubert sei; und da sie die Hoffnung aufgaben, Maroula ins Leben zurückrufen zu können, legten sie sie in einen grossen goldnen Sarg und setzten diesen in einem Haine in der Nähe ihres Schlosses nieder.
Eines Tags wurde ein Königssohn auf der Jagd des Sarges gewahr, indem ein Vogel aus den Lüften geflogen kam und sich darauf niedersetzte. Er liess den Sarg durch sein Gefolge aufheben und in seinen Palast bringen. Hier öffnete er ihn und sah das schöne Mädchen darin liegen. Ganz zufällig zog er ihr den bezauberten Ring vom Finger, und da kam sie auf der Stelle wieder ins Leben zurück. Da verheirathete sich der Prinz mit ihr, und nachdem sie eine Zeit lang mit einander gelebt hatten, wurde die junge Frau schwanger und gebar Zwillinge. Die Mutter des Prinzen aber war sehr ungehalten darüber, dass ihr Sohn bei seiner grossen Liebe zu seiner Gemahlin ihr selbst keine Aufmerksamkeit erwies, und sie beschloss ihre Schwiegertochter zu verderben. Sie ging eines Abends in deren Zimmer, schnitt ihren beiden Kindern die Köpfe ab und warf das Messer, womit sie den Mord vollbracht hatte, auf das Bett der Maroula, um den Verdacht der That auf sie zu lenken. Am folgenden Morgen sah ihr Sohn das Geschehene, und da auch seine Mutter der Maroula die That Schuld gab, so zweifelte er nicht mehr, dass sie die Verbrecherin sei. Er befahl daher, es sollten ihr die Hände abgeschnitten und sammt den Leichen ihrer Kinder in einen Sack genähet werden; den solle man der Mörderin um den Hals hängen und sie dann fortjagen. So geschah es.
Als nun Maroula ihres Wegs dahin zog, begegnete sie einem Mönche, dem erzählte sie alles. Der Mönch setzte den Kindern die abgeschnittenen Köpfe wieder auf, da wurden sie ins Leben zurückgerufen, und der Mutter fügte er wieder die Hände an. Darauf schlug er mit einem Stabe auf die Erde, und alsbald entstand ein grosser Palast. Nun sagte er zu Maroula: ‚Bleib hier oben mit deinen Kindern und lebe glücklich! Wisse, ich bin dein guter Engel und ich werde wieder kommen.‘ Nach diesen Worten verschwand er plötzlich, und Maroula hatte nicht einmal Zeit gehabt von ihm Abschied zu nehmen.
Während sie nun mit ihren Kindern in dem Schlosse lebte, kam eines Tags ihr Gemahl, der sie aus seinem Hause verjagt hatte, auf einem Spaziergange mit seinen Freunden unter ihrer Wohnung vorüber und sah sein Weib oben, erkannte es aber nicht. Maroula aber erkannte ihn, und auf den Rath des Mönchs, ihres guten Engels, der ihr jetzt auf einmal wieder erschien, lud sie ihn ein heraufzukommen. Während der Prinz mit seinen Freunden hinaufstieg, befahl Maroula ihren Kindern, bei seinem Erscheinen zwei Bälle zu ergreifen, sie zu werfen und dabei zu sagen: ‚Mög‘ es wohl gehn unsrem Vater, aber bersten mag unsre Grossmutter, die, von Erotas‘ Mutter angestachelt, den Vater bewogen hat, der Mutter die Hände abzuschneiden, obwohl doch sie selbst uns ermordet hat.‘ Als der Prinz das hörte, sagte er zu seinen Freunden: ‚Wisset, das ist mein Weib, und das sind meine Kinder.‘ Und nun erzählte er ihnen den ganzen Vorfall. Und Maroula erzählte ihrem Gemahle, was hinterher geschehen war, wie der Mönch sie und ihre Kinder geheilt und ihr gesagt habe, dass die Mutter des Erotas es sei, die aus Neid über ihre Schönheit solche Nachstellungen ihr bereite. Der Prinz nahm nun sein Weib und seine Kinder mit sich und verbarg sie auf seinem Schlosse. Tags darauf lud er viele seiner Freunde zu einem Gastmahle, erzählte ihnen alles und forderte sie auf, die Strafe zu bestimmen, die seine Mutter verdiene. Da sagten alle einstimmig, er solle sie in ein mit Pech versehenes Fass stecken und auf dem Meere verbrennen. So geschah’s. Das junge Ehepaar aber lebte von nun an glücklich, denn die Mutter des Erotas begnügte sich mit den Leiden, die Maroula ausgestanden, und liess sie fortan unangefochten.
[Griechenland: Bernhard Schmidt: Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder – Ebendaher]