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Märchenbasar

Meister Ali

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Vor vielen, vielen Jahren lebte ein Khan, der so grausam und böse war, daß die Menschen sich sogar in der Unterhaltung fürchteten, seinen Namen auszusprechen. Und wenn es geschah, daß er durch das Land fuhr, dann flohen die Leute aus den Dörfern in die Steppe und verbargen sich, wo sie nur konnten, um ihm nicht vor die Augen zu kommen.
Seine nächsten Diener ließ er ohne Erbarmen für ein kleines Vergehen hinrichten.
Freunde hatte er überhaupt nicht. Keiner der Khane aus der Umgebung fand sich bereit, mit einem so grausamen Nachbarn Freundschaft zu halten.
Die Frau des Khans war schon lange vor Gram und Kummer gestorben. Aber ihm blieb noch ein Sohn, ein junger Mann von wunderbarer Schönheit und großem Verstand. Er hieß Hussein. Das war das einzige Lebewesen auf der Erde, das der hartherzige Khan liebte.
Hussein hatte viele Freunde und Kameraden. Er galoppierte mit ihnen durch die Steppe, ritt auf die Falkenjagd und wetteiferte im Bogenschießen.
Aber am liebsten ritt Hussein in die Berge auf die Wildjagd. Froh und zufrieden kehrte er nach Hause zurück, und die Diener trugen seine Beute: erlegte Wildschweine.
Der alte Khan sorgte sich um seinen Sohn und sah es nicht gern, wenn er weit in die Berge ritt.
„Du brauchst deine Kühnheit nicht in so gefährlichen Vergnügungen zu beweisen“, sagte er immer wieder. Aber Hussein lachte nur. Er war überzeugt von seiner Stärke und Geschicklichkeit. Lange Zeit ging alles gut.
Aber einmal zog Hussein wiederum aus, um in den Bergen auf die Jagd zu gehen. Er ritt ganz allein, keinen seiner Diener nahm er mit sich. Nur seinem alten Pferdeknecht sagte er, daß er Wildschweine, die sich unlängst in dieser Gegend gezeigt hatten, jagen wollte. Der erschrak.
„Hüte dich, Hussein, daß dich nicht ein wilder Keiler anfällt!“
Der Jüngling lachte.
„Ruhig, Alter, fürchte nichts! Gehe ich etwa zum erstenmal auf eine Wildschweinjagd?“
Er versetzte dem Pferd einen Schlag mit der Peitsche und sprengte davon. Hussein kehrte nie wieder…
Der Abend brach herein, die Sterne flammten über der Steppe auf, ein Duft von Blumen und Wermut zog durch die Luft.
Der alte Khan trat düster und aufgebracht aus seinem Seidenzelt.
„Wo ist Hussein? Wo ist mein Sohn?“
Die Diener schwiegen und senkten die Augen zu Boden. Sie wagten nicht zu sagen, wohin Hussein geritten war.
Der Khan würde ihnen die Köpfe dafür abschlagen, daß sie den Jüngling allein hatten ziehen lassen.
Die Nacht senkte sich über die Steppe. Der Khan wanderte ruhelos umher. Er stampfte mit dem Fuß auf und winkte mit der Reitpeitsche.
„He, Diener!“
Die Diener liefen von allen Seiten herbei. Sie standen und wagten nicht, den Blick zu heben. So warteten sie, was der Khan von ihnen fordern würde.
„Galoppiert in die Berge, in die Steppe und am Fluß entlang. Sucht meinen Sohn! Aber denkt daran: Wer mir die Nachricht bringt, daß Hussein etwas Schlimmes zugestoßen ist, dem gieße ich siedendes Blei in den Schlund. Hebt euch fort!“
Noch einmal sauste die Peitsche des Khans, Die Diener stürzten davon, sprangen auf die Pferde, galoppierten in die Steppe und in die Berge und am Fluß entlang, um Hussein, den Sohn des Khans, zu suchen.
Es dauerte lange, bis sie den armen Jüngling fanden. Hussein lag tot mit zerfleischter Brust unter einem großen breitästigen Baum. Es war zu erkennen, daß ihn ein Wildschwein angefallen und ihm seine scharfen Hauer in das Herz gebohrt hatte. In Kummer und Entsetzen standen die Diener um den toten Sohn ihres Khans. Was soll nun werden? Wie sollen wir dem Khan das schreckliche Unglück mitteilen?“
Die Diener weinten nicht nur vor Kummer über den umgekommenen Jüngling, sondern auch aus Angst vor dem, was ihrer harrte, wenn sie dem Khan die schreckliche Nachricht bringen würden.
Da sagte der alte Pferdeknecht zu seinen Kameraden: „Freunde, ihr alle kennt den Hirten Ali, der in der Hütte am Bergbach wohnt. Er ist bettelarm, aber sein Verstand und seine Kunst sind weithin berühmt. Er weiß und versteht alles. Er formt Krüge aus Ton, flicht Lassos zum Pferdefang und hat eine neue Hirtenflöte erdacht. Laßt uns zu Ali gehen und ihn fragen, was wir tun sollen.“
Der Hirt Ali saß auf der Schwelle seiner Hütte und focht einen Korb aus Weidengerten. Bekümmert hörte er den Bericht der alten Diener an. „Ali, wir sind zu dir gekommen, um dich um Hilfe zu bitten“, sagten sie, nachdem sie ihre traurige Erzählung beendet hatten. „Sage uns, wie wir uns vor der furchtbaren Strafe, die uns erwartet, retten können.“
Ali senkte sein graues Haupt und dachte lange nach.
Schließlich sagte er: „Bis zum Morgen ist noch viel Zeit. Legt euch nieder und ruht euch hier am Feuer aus. Ich will versuchen, eurem Unglück abzuhelfen.“
Die erschöpften Diener streckten sich auf gefallenem Laub und Steppengräsern rings um das Feuer aus und schliefen schnell ein. Nur der alte Ali blieb wach. Er trug dünne Bretter und getrocknete Pferdesehnen herbei und machte sich daran, mit dem Messer zu basteln. Am Morgen wurden die Diener durch eine zarte, traurige und klagende Musik geweckt. Sie sprangen auf und erblickten den alten Hirten. Ali saß mit angezogenen Beinen und hielt ein Musikinstrument in den Händen, das sie noch nie gesehen hatten. Feine Saiten waren darüber- gespannt. Ali brachte die Saiten mit seinen Greisenhänden zum Erklingen, und das Instrument sang unter seinen Fingern. als wäre es lebendig.
„Nun laßt uns zum Khan gehen“, sagte der alte Hirt.
Umgeben von den angsterfüllten Dienern trat er in das Zelt des Khans ein.
„Bringst du mir Nachricht von Hussein?“ fragte ihn der Khan drohend.
„Ja, großer Khan“, antwortete All, und er begann auf dem Musikinstrument zu spielen, das er in der Nacht angefertigt hatte.
Die Saiten stöhnten auf und schluchzten. Es war, als ob klagendes Waldesrauschen durch das Seidenzelt des Khans ertönte. Das scharfe Pfeifen des Windes mischte sich mit dem Heulen eines wilden Tieres. Laut schrien die Saiten auf wie eine menschliche Stimme, die flehentlich um Hilfe bat. Und wieder das tierische Gebrüll und dann das klagende Rauschen des Waldes…
Entsetzen packte alle, die es hörten, so deutlich erzählte die Musik von dem, was geschehen war. Der Khan sprang von seinem Sitz auf.
„Hast du mir die Nachricht vom Tod Husseins gebracht? Weißt du nicht, daß ich gelobt habe, dem Überbringer einer Unglücksbotschaft siedendes Blei in die Gurgel zu gießen?“
„Khan“, antwortete der alte Hirt ruhig, „ich habe dir nichts erzählt. Ich habe nicht ein einziges Wort davon ausgesprochen. Wenn du dich erzürnst, so bestrafe dieses Instrument, das ich angefertigt und Dombra genannt habe!“
Der Khan befahl in seinem Gram und seiner Wut, siedendes Blei auf die Dombra zu gießen, Das Blei brannte unter den Saiten eine runde Öffnung in das Instrument.
So rettete der alte Ali mit seinem Erfindungsgeist und seiner Handfertigkeit vielen Dienern das Leben.
Bei den Steppenbewohnern gibt es seit dieser Zeit ein neues Musikinstrument, die Dombra.
Die Kasachen gewannen es sehr lieb und singen noch heute unter der Begleitung der Dombra ihre herrlichen Lieder.

Quelle:
(Ein Kasachisches Märchen)

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