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Märchenbasar

Nadir und Nadine

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Kaum glaubte er allein zu sein und sich seinen Gedanken ungestört überlassen zu können, so öffnete sich die Tür, und man stelle sich sein Entzücken vor, als er Nadinen an der Hand des Zauberers hereintreten sah. In diesem Augenblicke verlor sich alle seine Unruhe, die reinste Freude durchdrang alle seine Sinnen, er flog seiner geliebten Schäferin entgegen, umfaßte mit Tränen der Liebe im Auge ihre Knie und konnte nur Töne des Entzückens und abgebrochene Worte hervorstammeln, so sehr war er vor Zärtlichkeit und Freude außer sich. Nadine hob ihn auf, indem sie ihm ihre Hand zu küssen erlaubte, und sprach zu ihm mit einem Gesichtsausdruck, der mehr Sanftheit und Sittsamkeit als Freude zeigte: «Nadir, wenn du in meiner Seele liesest, so wirst du sehen, wie gerührt ich bin und wie sehr die Empfindungen, die ich bei dir errege, auch die meinigen sind. Aber in diesem Augenblicke sei unsre erste Sorge, die Pflichten der Freundschaft zu befriedigen. Oder wollte Nadir undankbar gegen denjenigen sein, der ihn seine Nadine sehen läßt? Laß uns ihm zu Füßen fallen und seine Wohltaten mit der Erkenntlichkeit annehmen, die wir ihm dafür schuldig sind.» «Nein», unterbrach sie der Zauberer, «du bist mir nichts schuldig, Nadir; ich habe für mich selbst getan, was ich für dich tat, vielleicht wirst du mir nun dein Vertrauen schenken. Aber es ist Zeit, daß ich euch allein lasse; nach einer so langen Trennung müsset ihr euch, denke ich, sehr viel zu sagen haben.» Mit diesen Worten entfernte er sich, ehe Nadir, noch ganz von seinem Glücke betäubt, ein Wort herauszubringen vermochte.

Sobald sich dieser mit seiner Geliebten allein sah, brach sein Entzücken mit verdoppelter Stärke aus; er näherte sich ihr mit einer Inbrunst, die der Trunkenheit ähnlich war, aber sie stieß ihn sanft zurück, setzte sich in einiger Entfernung von ihm auf den Sofa und brach in einen Strom von Tränen aus. «Was fehlt dir, liebste Nadine», rief Nadir bestürzt; «du durchbohrst mir das Herz.» – «Nadir», sagte sie, «berühret mich mit Eurem Ringe und wünschet mich zu sehen, wie ich bin: der Zauberer ist ein Verräter, und ich bin nicht Nadine.» Nadir fühlte bei diesen Worten einen Todesschauer durch seine Adern rinnen. Bestürzt, verwirrt und unschlüssig, sich einer so süßen Täuschung zu berauben – wiewohl er im nehmlichen Augenblick über sich selbst zürnte, daß er sich durch einen Betrug hatte täuschen lassen, den sein Herz, wie er glaubte, hätte ahnen sollen -, stand er unbeweglich und ohne die Dame auf dem Sofa zu hören, die ihn zu beruhigen suchte: als auf einmal der Zauberer, der durch seine Kunst erfahren hatte, daß seine List entdeckt sei, mit Grimm im Auge und mit aufgehobenem Stabe hereintrat, um die Verräterei der untergeschobenen Nadine (weil Nadirn sein Talisman gegen alle Zaubergewalt schützte) wenigstens an dieser Unglücklichen zu rächen, die er gezwungen hatte, sich zu einem Werkzeuge seines schwarzen Betruges mißbrauchen zu lassen. Diese, sobald sie ihn erblickte, fuhr erschrocken vom Sofa auf und verbarg sich hinter Nadirn, indem sie ihn flehentlich um Rettung bat. Zu ihrem Glück erholte sich Nadir aus seiner Bestürzung, ging auf den Zauberer los und berührte ihn, da er eben im Begriff war, die falsche Nadine mit seinem Zauberstabe zu schlagen, mit seinem Ringe, indem er zugleich, auf eine instinktmäßige Weise, wünschte, daß der Zauberer dadurch außerstand gesetzt werden möchte, Schaden zu tun; und alsbald schien dieser in der Stellung, worin er war, sich zu versteinern und blieb unbeweglich und starr wie eine Bildsäule vor ihm stehen.

Es bedurfte einer guten Weile, bis Nadir sich an den Gedanken der außerordentlichen Gewalt, womit er sich bekleidet sah, gewöhnen konnte. Er betrachtete den unbeweglichen Zauberer eine Zeitlang mit Erstaunen, das nicht gänzlich ohne Furcht war. «Unglücklicher», rief er ihm endlich zu, «deine Verräterei ist, wie du siehst, entdeckt; du wolltest mich um diesen wundervollen Ring betrügen, und vielleicht um Nadinen auch? Sage mir, was aus ihr worden ist! Sprich die Wahrheit, ich befehle dir’s.»

Bei diesen letzten Worten schien der Zauberer auf einmal wieder zu sich selbst zu kommen, seine Zauberrute fiel ihm aus der Hand, und er fing unfreiwillig also an zu reden: «Die stärkere Gewalt, welche die meinige vor dir vernichtet, nötigt mich auch, dir gern oder ungern die Wahrheit zu sagen. Sei für Nadinen unbesorgt, sie ist nicht in meiner Gewalt; aber vernimm, wie sehr ich strafbar und deines ganzen Grimms würdig bin. Meine Absicht war nicht bloß, dir Nadinen zu rauben und mich an Astramond zu rächen; ich hatte sogar deinen Untergang beschlossen. Du erstaunest, weil du nicht begreifen kannst, wie du mir in einem solchen Grade habest verhaßt werden können; aber du wirst aufhören, dich zu wundern, wenn du hörest, wer ich bin.»

Geschichte des Zauberers

«Ich habe dich nicht betrogen, da ich dir sagte, daß ich Astramonds Bruder sei. Mein Name ist Neraor, und wir sind beide die Söhne eines berühmten Weisen, dem unter allen, welche die magische Kunst über die Sterblichen erhebt, keiner den ersten Platz streitig machte. Er arbeitete viele Jahre lang an dem geheimnisvollen und alles vermögenden Talisman, dessen Besitzer du bist. Ich war ungefehr fünfzehn Jahre alt, als dieses bewundernswürdige Werk der Magie zustande kam, und mein Bruder hatte nur ein Jahr mehr; aber da wir von Kindheit an zu den geheimen Wissenschaften erzogen worden waren, so begriffen wir beide, unsrer Jugend ungeachtet, die Wichtigkeit des Schatzes sehr wohl, den unser Vater besaß. Er stund bereits in einem hohen Alter, und da sein Tod in unsren Gedanken nicht mehr ferne sein konnte (denn das Geheimnis der Unsterblichkeit haben die Götter sich selbst vorbehalten), so fingen wir an, jeder in dem andern einen Mitwerber um den Ring zu sehen, dessen Besitz das Ziel unsrer ungeduldigsten Wünsche war. Ich hatte meinen Bruder nie sonderlich geliebt; aber diese Rivalität setzte meine Antipathie gegen ihn in ihre volle Würksamkeit, und es verging kein Tag, wo sie nicht in Zänkereien und Händel ausbrach, die unsern Vater endlich beunruhigten. Er hatte sich schon lange vergebens Mühe gegeben, eine dauerhafte Einigkeit unter uns zu stiften; Vernunft, Zärtlichkeit und väterliches Ansehen blieben ohne Würkung. Er merkte endlich, daß das Verlangen, den Ring zu besitzen, die wahre Quelle unsrer Zwietracht war, und in der Absicht, das Übel von Grund aus zu heben, ließ er uns eines Tages vor sich kommen. ‹Undankbare und unnatürliche Söhne›, so ließ er uns mit zürnender Stimme an, ‹ihr seufzet nach dem Augenblick, wo ich nicht mehr sein werde, und streitet euch schon um das Kostbarste, was ich besitze; aber eure Strafe soll sein, daß es keinem von beiden zuteil werden soll.› Mit diesem Worte zog er den Ring vom Finger und warf ihn in ein Gefäß, das mit Wasser und wohlriechenden Kräutern angefüllt war; und kaum hatte er einige geheime Worte ausgesprochen, so fing das Wasser an aufzubrausen, und ein Adler, der den wundervollen Ring im Schnabel trug, stieg aus der Tiefe des Gefäßes und erhob sich in die Luft. ‹Eile›, sagte er zu ihm, ‹und trage diesen Talisman in den Palast des Geisterkönigs; dort werd‘ er aufbehalten, bis die Schlüsse des Schicksals erfüllt sein werden!› Hierauf wandte er sich wieder zu uns: ‹Ihr habt ihn verloren und werdet nie zu seinem Besitze gelangen; er ist einem Sohne von einem unter euch bestimmt. Der erste von euch beiden, der sich der aufrichtigen Gegenliebe einer geliebten Person würdig machen, sich mit ihr vermählen und einen Sohn von ihr haben wird, dieser wird der Vater des mächtigsten Sterblichen sein. Keine menschliche noch übermenschliche Gewalt oder List kann den Ring aus dem Palaste des Geisterkönigs entführen; aber dieser glückliche Sohn wird ihn ohne Mühe erhalten. Geht nun, und möchtet ihr künftig in beßrer Eintracht leben, da der Zunder euers Hasses aus dem Wege geräumt ist!› Mein Vater verfehlte seine Absicht. Hatte ich Astramonden vorher als einen Mitwerber gehaßt, so betrachtete ich ihn jetzt als einen Feind, der mir den Gegenstand meiner feurigsten Wünsche geraubt hatte. Indessen blieb mir (wiewohl der Gedanke, der Vater desjenigen zu werden, dem er aufgehoben war, wenig Reiz für mich hatte) doch ein Mittel, meinen Groll gegen meinen Bruder zu befriedigen: wir durchliefen beide die Welt; er, um eine Gemahlin zu suchen, wie unser Vater sie verlangte; ich, um ihm, sobald sein Herz eine Wahl getroffen haben würde, in den Weg zu treten und, wo möglich, sein Glück zu vereiteln.

Der König der unbekannten Insel hatte eine Tochter, von deren Schönheit so viel gerühmt wurde, daß mein Bruder Lust bekommen hatte, sich um sie zu bewerben. Kaum erhielt ich Nachricht davon, so erschien ich gleichfalls am Hofe dieses Königs. Ich fand die Prinzessin bei ihrem Vater und meinen Bruder bei der Prinzessin. Meine Augen wurden von ihrem Anblick geblendet, und die Leidenschaft, die sich in meinem Busen entzündete, brannte desto ungestümer, da ich Zeichen eines geheimen Verständnisses in den Blicken meines Bruders und der Prinzessin wahrzunehmen glaubte. Der stolze Ton, worin ich meine Bewerbung anbrachte, und die sichtbare Gewalt, die ich mir antun mußte, um meine Wut über Astramond zurückzuhalten, setzte den König in Verlegenheit: er kannte unsre Macht, er wollte sich weder meine noch Astramonds Feindschaft auf den Hals laden; und um uns eine völlige Unparteilichkeit zu zeigen, tat er uns einen Vorschlag, den beide, wie er glaubte, billig finden müßten. ‹Prinzen›, sagte er zu uns; ‹ich liebe mein Volk, und seine Glückseligkeit ist immer der erste meiner Wünsche gewesen. Ich kann keinen von euch beiden zum Eidam erwählen, ohne gegen den andern ungerecht zu sein; ich will also gar nicht wählen, sondern derjenige von euch, der vermittelst seiner Macht meinen Untertanen das wünschenswürdigste Gut verschafft, soll der Gemahl meiner Tochter sein; die Stimme des Volkes soll den Ausspruch tun!› Wir ließen uns den Vorschlag des Königs gefallen; er gab uns acht Tage Zeit, um unsre Anstalten zu machen, und ich wandte sie dazu an, der Prinzessin überall wie ihr Schatten zu folgen und sie mit den Äußerungen einer Leidenschaft zu verfolgen, welche sie wenigstens auf keine zu merkliche Art abzuweisen wagen durfte. Mein Haß gegen Astramond wuchs indessen täglich, je mehr ich aus tausend geheimen Zeichen merken konnte, daß er der Prinzessin nicht gleichgültig war; und ich genoß wenigstens das boshafte Vergnügen, zu sehen, wie lästig ihnen meine Gegenwart war. Inzwischen dachte ich ernstlich auf ein Mittel, den aufgesetzten Preis zu gewinnen; und da ich immer gefunden hatte, daß die Menschen nichts ärger scheuen und ungeduldiger ertragen als die Armut, so hielt ich mich überzeugt, die Untertanen des Königs der unsichtbaren Insel nicht glücklicher machen zu können, als indem ich sie mit Reichtum überhäufte. Ich war so gewiß, daß es mir auf diesem Wege nicht fehlen könne, daß ich keine andre Furcht hatte, als mein Bruder, dem dieser Gedanke natürlicherweise auch gekommen sein müßte, möchte mir in der Ausführung zuvorkommen. Ich erklärte mich also in Gegenwart der Prinzessin, ich würde es nie zugeben, wenn Astramond, unter dem Vorwande des Rechts der Erstgeburt, sich anmaßen wollte, der erste zu sein, der seine Macht sehen ließe; ich verlangte, daß wir entweder beide zugleich agieren oder das Los entscheiden lassen sollten, wer den Anfang zu machen hätte. Astramond versicherte, mit einem Lächeln, das mich desto mehr erbitterte, da es mir von böser Vorbedeutung schien, er glaube nicht nötig zu haben, sein Recht bei dieser Gelegenheit geltend zu machen, und sei es sehr wohl zufrieden, mir einen Rang zu lassen, der ihm keinen Nachteil bringen könne. Die Prinzessin mußte ihr ganzes Ansehen anwenden, um den Ausbruch der Wut zu verhindern, in welche mich diese verächtliche Antwort setzte; und wenn ich mich aus Gehorsam gegen sie zu besänftigen schien, so geschah es bloß, weil ich meine Rache bis nach dem entscheidenden Tage verschob.

Dieser mit allgemeiner Ungeduld erwartete Tag war endlich gekommen. Ich erhob mich nach dem großen Platze der Stadt, wo das ganze Volk schon versammelt war. ‹Lieben Leute›, sprach ich, ‹ich werde euch alle reich machen›; und indem ich das letzte Wort aussprach, schlug ich die Erde mit meiner Zauberrute. Sie eröffnete sich, und man sah allmählich einen großen Berg von lauter Gold und Silbermünzen sich erheben. Auf einmal stieg ein allgemeines Freudengeschrei in die Luft, welches aber bald durch das Jammergeschrei derjenigen unterbrochen ward, die im Gedränge des auf den Berg einstürmenden Volkes zerdrückt und zertreten wurden. Die Geldbegierde der Leute tat eine ebenso schnelle Würkung als meine Kunst, und der Berg verschwand beinahe in ebenso kurzer Zeit, als er zu seiner Entstehung gebraucht hatte. Ich glaubte des Sieges gewiß zu sein, als, sobald der erste Tumult sich gelegt hatte, Astramond nun auch auf den Platz kam, ohne daß das Volk, das mit Zählen seines erbeuteten Goldes und Silbers beschäftigt war, die mindeste Acht auf ihn gab. Inzwischen zog er mit seinem Stabe einen Kreis in die Luft, murmelte einige Worte und rief dann dem Volke mit lauter Stimme zu: ‹Bürger, morgen sollt ihr entscheiden, wem der Preis gebührt; ich habe ein Recht an eure Dankbarkeit, denn ich werde euch glücklich machen.› Seine Rede machte wenig Eindruck; der Tag ward in lauter Lustbarkeit zugebracht; man erhob meine Freigebigkeit bis in die Wolken; von Astramond war nur die Rede nicht, ohne daß er sich im mindesten darum zu bekümmern schien. Diese Sicherheit fing an, mir Unruhe zu machen; ich konnte mir gar nicht vorstellen, was er denn so Großes getan haben könnte. Während daß ich mir den Kopf darüber zerbrach, wurde ich mit Erstaunen gewahr, daß eben diese Leute – welche kaum einen so unersättlichen Durst nach Golde gezeigt hatten, daß ein unermeßlicher Schatz kaum hinreichte, sie zu befriedigen – nun auf einmal sich wenig aus den Reichtümern, womit ich sie überschüttet hatte, zu machen schienen und sie vielmehr selbst aneinander verschwendeten. Jedermann schien etwas sehr Angelegenes auf dem Herzen zu haben: man suchte sich, man sprach vertraulich zusammen, man umarmte sich und teilte Hab und Gut miteinander; einige gaben alles weg, was sie hatten, andere schlugen alles aus, was man ihnen anbot; und überall zeigte sich eine Herzinnigkeit, wovon ich nie einen Begriff gehabt hatte. Bestürzt über ein so unerwartetes Schauspiel, machte ich mich unsichtbar und folgte ihnen in ihre Häuser. Hier sah ich Ehegatten, Eltern und Kinder einander umarmen und mit den zärtlichsten Liebesproben überhäufen; die reinste Freude glänzte in allen Augen, und alle Herzen schlossen sich einander auf. Alle Augenblicke wurde das Haus von Gästen voll; bald waren’s Freunde, die einander ewige Treue schwuren, bald Feinde, die sich schämten, einander gehasset zu haben, oder Undankbare, die es nicht mehr waren und um Verzeihung baten, es gewesen zu sein. Nie hatten die Weiber ihre Männer so liebenswürdig, nie die Männer ihre Weiber so schön gefunden; mit einem Worte: ich merkte, daß Astramond den Geist der Liebe über die Einwohner der Stadt ausgegossen hatte; und was brauchte es mehr, um ihn des Sieges gewiß zu machen?

Die Prinzessin wurde ihm einhellig zuerkannt; und ich, halb unsinnig vor Wut und Rachgier, schloß mich ein und sann auf Mittel, das Glück der Neuverbundenen zu vernichten. Mit Gewalt war nichts gegen Astramond auszurichten; ich nahm also meine Zuflucht zum Betrug. Ich verbarg meine innern Bewegungen unter eine Larve von Großmut und Gelassenheit; ich söhnte mich mit meinem Bruder aus, bat ihn und seine Gemahlin um ihre Freundschaft und um Vergebung, daß ich den Wünschen ihres Herzens im Wege gestanden; ich nahm Anteil an allen Lustbarkeiten, die den Neuvermählten zu Ehren angestellt wurden; kurz, ich betrug mich so künstlich, daß mein Bruder, dessen schöne Seele ohnehin zum Argwohn ungeneigt war, dadurch hintergangen und gänzlich überredet wurde, daß ich der Hoffnung, den magischen Ring zu erhalten, und mit ihr auch allem Groll gegen ihn selbst auf ewig entsagt hätte. Seine gutherzige Sicherheit erleichterte die Ausführung meines geheimen Anschlages, die Prinzessin auf einer großen Jagd, die der König einige Tage nach der Vermählung anstellte, zu entführen. Meine Anstalten waren so gut getroffen, daß der Anschlag nach Wunsche gelang; kurz (um dich nicht mit überflüssiger Weitläufigkeit aufzuhalten), ich brachte die Prinzessin in meine Gewalt, eilte mit ihr dem Ufer zu, ging unter Segel und war in wenig Stunden weit genug entfernt, um vor dem Einholen sicher zu sein. Rachbegierde, nicht Liebe war es, was mir diesen Anschlag eingegeben hatte; ich labete mich an den Tränen und Klagen der Prinzessin, und die Vorstellung der Verzweiflung, worin sich mein Bruder itzt befinden würde, hatte etwas Entzückendes für mich. Indessen tat gleichwohl die Schönheit meiner Gefangenen, die von ihrer Traurigkeit neue Reize erhielt, ihre Würkung auf meine Sinnen; und da mir die Abscheu gegen mich keine Hoffnung ließ, sie durch Güte zu gewinnen, so blieb mir zu meiner Befriedigung nur ein Mittel übrig, nehmlich, zu den Täuschungen meiner Kunst Zuflucht zu nehmen.

Wir landeten nach einigen Tagen in dieser Gegend an, wo ich den Palast aufführte, den du hier siehest, und wo ich, um die untröstliche Prinzessin zu zerstreuen, alle nur ersinnliche Ergötzlichkeiten vergebens zusammenhäufte. Ich kam nie von ihrer Seite; aber an dem Tage, den ich zu Ausführung meines Anschlages erwählt hatte, belebte ich ein Phantom, dem ich meiner Gestalt gegeben hatte, und schickte es an meiner Statt zu ihr. Gegen Mitternacht hörte sie ein schreckliches Getöse vor der Pforte des Palastes; bald darauf erschien ich unter der Gestalt Astramonds, drang auf das Phantom an ihrer Seite ein und bekämpfte es so lange, bis es, von verschiedenen Wunden durchbohrt, zu Boden fiel und seine Seele in Strömen von Blut auszusprudeln schien. ‹Liebste Gemahlin›, sagte ich zur Prinzessin, ‹sehen Sie Ihren Astramond wieder vor sich; der Schändliche, der uns trennte, hat sein Verbrechen mit seinem Leben gebüßt. Dieser schöne Palast, der zu lange die Szene Ihres Kummers gewesen ist, soll hinfür der Schauplatz unsrer Glückseligkeit sein; nichts steht ihr mehr entgegen, wenn Sie mich lieben, wie ich Sie anbete.› Mit diesen Worten flog ich in ihre Arme; aber das Entsetzen über das blutige Schauspiel, dessen Zeugin sie eben gewesen war, machte sie unfähig, meine Liebkosungen zu erwidern, wiewohl sie nicht zweifeln konnte, daß ich der wahre Astramond wäre. Ich ließ ihr einige Zeit, wieder zu sich selbst zu kommen, führte sie in ein anderes Gemach, und nachdem ich alles angewandt hatte, den Abscheu vor einem Brudermörder durch die Liebe zu Astramond in ihrem Herzen auszulöschen, ließ ich sie unter den Händen der Nymphen, die ich ihr zur Bedienung gegeben hatte. Nach einer Weile wurde ich benachrichtigst, daß sie ausgekleidet wäre; ich fand sie in einem herrlich erleuchteten und von den köstlichsten Wohlgerüchen durchdufteten Zimmer bereits zu Bette gebracht. Aber in dem Augenblicke, da ich im Begriff war, es mit ihr zu teilen, fühlte ich, daß mich eine unsichtbare Gewalt zurückzog, welcher ich vergebens entgegenkämpfte und gegen welche alle meine Zauberkünste ohne Würkung blieben. Mit der äußersten Anstrengung wagte ich endlich einen letzten Versuch, den Zauber, der mich fesselte, zu zerreißen, als ich die Stimme meines vor kurzem verstorbenen Vaters hörte. ‹Zurück, Unseliger›, rief sie mir schrecklich zu, ‹zurück!› Ich schauderte zurück, und in dem nehmlichen Augenblicke fuhr die Prinzessin mit äußerstem Entsetzen aus dem Bette. ‹Götter, es ist Neraor!› rief sie und rettete sich eilends in ein anderes Gemach. Ich sah nun, daß meine Bezauberung vernichtet war und daß ich meinen Anschlag aufgeben müsse. Bald darauf stieg meine Verzweiflung aufs höchste, da mir von den Nymphen, die der Prinzessin aufwarteten, die Nachricht gegeben wurde, daß sie unzweideutige Zeichen von Schwangerschaft an ihr bemerkten. Dieser Umstand verdoppelte meine Wut gegen meinen Bruder und sie selbst; der vollständigste und unersättlichste Haß war von nun an die einzige Leidenschaft, die mich beseelte, und sie zu quälen und unglücklich zu machen meine einzige Sorge. Ich ließ sie in ein unterirdisches Gewölbe einsperren, wohin die Sonne nie geschienen hatte und wo tausend ekelhafte Arten von Ungeziefer ihre einzige Gesellschaft waren; und da, vermöge der noch immer fortdauernden Bezauberung meines Vaters, weder ich noch meine Diener ihr nahe genug kommen konnten, um an ihrer eigenen Person Gewalttätigkeiten auszuüben, so machte ich Veranstaltungen, daß sie alle Tage, beim fürchterlichen Schein brennender Pechfackeln, mit dem Anblick der ausgesuchtesten Torturen gequält wurde, womit ich eine Menge belebt scheinender Phantomen, die sie für wahre Menschen hielt, vor ihren Augen martern ließ.

Sieben ganzer Monate hatte sie bereits in diesem schrecklichen Zustande geschmachtet, als mir in der Stille der Nacht mein Vater erschien, in eben der ehrwürdigen Gestalt, die er hatte, da er noch unter den Menschen lebte; ein strahlendes Schwert blitzte in seiner Hand, und der zürnende Blick seiner Augen warf mich vor ihm zu Boden. ‹Unwürdiger, mein Sohn zu sein›, sprach er, ‹wirst du nicht endlich müde werden, deine Macht bloß zum Bösestun zu mißbrauchen? Gehorche den Befehlen, die ich dir geben werde, oder du bist des Todes. Verlaß diesen Ort, besteige ein Schiff und durchlaufe alle Meere; nimm deines Bruders Weib mit dir, aber höre auf, sie unglücklich zu machen; auf diese Weise wird sich dein Schicksal erfüllen, und du wirst noch glücklich werden, weil du tugendhaft werden wirst.› So sprach er und verschwand, indem er mir mit einer drohenden Gebehrde das Schwert in seiner Zeit zeigte, dessen Griff aus einem einzigen Rubin geschnitten war. Ich wagte es nicht, den Befehlen meines Vaters ungehorsam zu sein; ich ließ unverzüglich ein Schiff ausrüsten und bestieg es mit der Prinzessin und meinem Gefolge.

Wir irrten einen Monat lang auf dem Meere herum, ohne daß uns etwas Merkwürdiges begegnet wäre; nach Verlauf dieser Zeit gebar die Prinzessin einen Sohn, und du, Nadir, bist diese Frucht von Astramonds Liebe. Bald darauf ließ sich ein Schiff sehen, das mit vollen Segeln auf uns zukam; als wir nahe genug waren, wie groß war mein Erstaunen, da ich sahe, daß es von Astramond geführt wurde! Der Augenblick, da wir uns erkannten, war auch das Zeichen zum Angriff. Ich suchte meinen Bruder, um den Streit durch einen einzigen Streich zu entscheiden; ich fand ihn bald; aber wiewohl ich von Natur nicht leicht erschrecke, so erstarrte doch alles Blut in meinen Adern, und meine Haare drehten ihre Spitzen empor, da ich das nehmliche Schwert in seiner Hand blitzen sah, das ich in meines Vaters Hand gesehen hatte. Ich konnte diesen Anblick nicht aushalten, ich wandte mich plötzlich um; mein Beispiel machte meine Leute mutlos, und in wenig Augenblicken wurden wir übermannt und in Ketten geschlagen. Astramond ließ mich vor sich führen, und zu gleicher Zeit wurde die Prinzessin mit ihrem neugebornen Kinde herbeigebracht. Mein Bruder, welcher nicht zweifelte, die Prinzessin habe sich mit gutem Willen von mir entführen lassen, geriet bei diesem Anblick in Wut, und in der ersten Bewegung seines Grimms verwandelte er sie in eine kleine schwarz und weiße Hündin und ließ dich, in der Wiege von Bambusrohr, worin du lagst, samt ihr ins Meer werfen. Zugleich befahl er, mir die Fesseln abzunehmen. ‹Du bist nicht wert, von meiner Hand zu sterben›, sagte er zu mir; ‹lebe, um von ewiger Reue gefoltert zu werden und (wenn du anders so viel Gefühl hast) den Verlust des unwürdigen Gegenstandes deiner Liebe zu betrauern.› Hierauf befahl er, mich in ein Boot zu setzen, und überließ mich der Willkür der Wellen. Nach zweien Tagen erreichte ich das Land und begab mich wieder in diesen Palast.

Meines Vaters Weissagung schwebte mir noch lebhaft vor; aber ich begriff nicht, was er damit gemeint haben konnte, da ich so wenig Anscheinung zu ihrer Erfüllung sah. Um mich von den traurigen Gedanken, die mich peinigten, zu zerstreuen, brachte ich durch verschiedene Zauberkünste alle die Schönen hieher, die das Unglück hatten, in meine Netze einzugehen; aber Rache an Astramond war die einzige Wollust, die einen Reiz für meine Seele hatte, und das Unvermögen, ihm weder durch Gewalt noch List beizukommen, verbitterte mir alle andern Ergötzungen. Mein einziger Trost war noch, zu wissen, daß er nicht glücklicher war als ich. Keine von allen den Schäferinnen der ruhigen Aue hatte ihm die Prinzessin aus dem Sinne bringen können, deren Andenken ihn peinigte und unfähig machte, etwas anderes zu lieben. Endlich erfuhr ich vor einigen Tagen, daß er sie unter der Gestalt einer kleinen schwarz und weißen Hündin wiedergefunden und daß sie sich erboten habe, ihm ihre Unschuld dadurch zu beweisen, wenn er ihren Sohn nach dem Ringe der Gewalt schicken wollte. Alle meine Leidenschaften erwachten wieder mit Ungestüm bei dieser Zeitung; der Gedanke, daß Astramond wieder glücklich werden und durch seinen Sohn zum Besitze des Ringes der Gewalt gelangen sollte, war mir unerträglich. Um mich durch mich selbst von allen Umständen zu unterrichten und desto sichrer einen Plan zu Vereitlung seines Glückes anlegen zu können, versetzte ich mich unsichtbarerweise in Astramonds Palast; aber eine neue Leidenschaft bemächtigte sich meiner Sinnen beim Anblick der unvergleichlichen Nadine. Ich verliebte mich bis zum Wahnsinn in sie, und vielleicht wäre ich noch bei Astramond, um mich im verborgenen in ihrem Anschauen zu berauschen, wenn er sie nicht, um deine Reise nach dem Palast des Feenköniges zu beschleunigen, in eine weiße Taube verwandelt hätte. Doch wozu verlängere ich meine Erzählung? Das übrige ist dir schon bekannt. Mein Anschlag war, Astramonden, die Prinzessin und dich selbst, die Frucht einer verhaßten Liebe, der ich alles Unglück meines Lebens zuschreibe, zu vertilgen. Ich hoffte Nadinen und den Ring der Gewalt zu besitzen; und kein Mittel, das mir zu einem so großen Gute verhelfen konnte, war in meinen Augen unerlaubt. Alle diese Anschläge sind zu Wasser worden; alle meine Wünsche haben mir fehlgeschlagen. Was säumst du? Räche dich! Vertilge den, der dich vertilgen wollte!»

«Ich spare dich zu einer andern Rache auf», sagte Nadir.

In diesem Augenblicke wünschte er, daß Astramond, die Prinzessin und Nadine erscheinen möchten; und kaum hatte er den Wunsch getan, so sah er sie in einem von weißen Tauben gezogenen Wagen anlangen; und weil die sechzehn Jahre, welche die Prinzessin unter der Gewalt einer Hündin hingebracht, an ihrem Alter nicht gerechnet wurden, so schien sie nicht älter als Nadine zu sein. Nadir warf sich zu ihren und Astramonds Füßen. «Hier», sagte er zu ihnen, «ist der Ring der Gewalt; behaltet ihn, ich verlange nichts als Nadinen.» Astramond und seine Gemahlin umarmten ihren Sohn, aber sein Geschenk wollten sie nicht annehmen. «Nur auf einen Augenblick», sagte Astramond; «gib mir den Ring, damit ich diesen Verräter bestrafen könne.» – «Nein», antwortete Nadir, «vergönnet mir, daß ich um Gnade für ihn bitte, er soll ihrer würdig werden.»

Bei diesem Worte berührte er die Stirne des Zauberers mit seinem Ringe. «Werde tugendhaft!» sagte er zu ihm; und sogleich wurde es Neraorn, als ob ein dichter Nebel, der sein Gehirn bisher umzogen hätte, sich auf einmal zerstreue; seine ganze Vorstellungsart wurde das Gegenteil dessen, was sie gewesen war; aber Neraor war darum nicht glücklicher. Die Reue über das Vergangene peinigte ihn nun ebenso arg und noch ärger als vormals die Wut seiner Leidenschaften.

Nadir wurde es kaum gewahr, so berührte er seine Stirne zum zweiten Male, indem er ihm befahl, alles Vergangene zu vergessen. Nun erheiterten sich seine Augen, sein Gesicht wurde ruhiger, seine Physiognomie mild und offen; er warf sich seinem Bruder in die Arme und wurde liebreich von ihm empfangen. Nadir schenkte allen den Prinzen und Fräulein, welche Neraor in seinen Palast gezaubert hatte, die Freiheit wieder. Diejenige, die unter Nadinens Gestalt so viel zu dieser glücklichen Entwicklung beigetragen, ließ sich bewegen, Neraorn ihre Hand zu geben, der nun fähig zu lieben und würdig, geliebt zu sein, worden war.

Das dreifache glückliche Paar erwählte die ruhige Aue zu seinem beständigen Aufenthalt; und Nadir bediente sich des Ringes der Gewalt nur, um die Bewohner desselben, wo möglich, noch glücklicher zu machen, als sie es schon durch ihre Einfalt und Unschuld waren.

Quelle:
(Christoph Martin Wieland Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen)

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