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Märchenbasar

Pertharit und Ferrandine

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«Sobald wir», sagte er, «in das unbewohnte Schloß im Walde hineingetreten waren, um den verlornen Verstand des Erzherzogs, unsers Vaters, darin zu suchen, wurden wir sogleich von einer unendlichen Menge Gespenster und fürchterlicher Schreckbilder überfallen, die uns die ganze Nacht durch ängstigten. Mit Anbruch des Tages stand auf einmal eine Frau vor uns, die, ungeachtet ihres hohen Alters und ihrer mit lauter Messerscheiden garnierten Kleidung, ein ziemlich ehrwürdiges Ansehen hatte und in der einen Hand einen Kamm, in der andern ein Halsband trug. ‹Hier, Pertharit›, sagte sie zu mir, ‹lege dieses Halsband an, und du, Ferrandine›, fuhr sie fort, sich an meine Schwester wendend, ‹kämme dich mit diesem Kamme, wenn ihr wollt, daß euer Vater seinen Verstand wieder überkomme; und um euch in den Unfällen, die euch zustoßen möchten, zu trösten, wisset, daß, sobald man dir, Pertharit, dies Halsband angelegt, und dich, Ferrandine, mit diesem Kamme gekämmt und deine Haut verbrannt haben wird, alle euere Leiden aufhören und euch alles zuteile werden wird, was euer Herz wünschet.› Mit diesen Worten verschwand die alte Frau wieder und ließ uns, wie man sich vorstellen kann, in keiner geringen Verlegenheit über den geheimnisvollen Sinn ihrer Rede. Indessen, um je bälder, je lieber aus dem verwünschten Schlosse zu kommen und meinen Vater wiederherzustellen, eilte ich, mir das Halsband anzulegen. Aber kaum hatte ich es an, so sah ich mich in einen schneeweißen Fuchs verwandelt. Meine Schwester tat einen entsetzlichen Schrei, wie sie das Unglück sah, das mir begegnet war. Da mich meine Vernunft bei dieser kläglichen Verwandlung nicht verlassen hatte, so fühlte ich es in seinem ganzen Umfang; und um meine arme Schwester vor dem Fallstricke, den uns die Scheiden-Mutter gelegt hatte, zu warnen, suchte ich ihr, in Ermanglung der Sprache, durch Zeichen zu erkennen zu geben, daß sie sich ja nicht kämmen möchte. Aber meine Gebehrden betrogen sie; sie nahm sie gerade im gegenteiligen Sinne, und in Hoffnung, daß der Kamm vielleicht die Würkung des Halsbandes wieder aufheben würde, fing sie an, sich damit zu kämmen. Aber kaum berührte der Kamm ihre Haare, so sah ich sie, auf eben die Art, wie ihr alle gesehen habt, in lauter Flammen verwandelt. In voller Angst warf sie den Kamm von sich, lief zum Schlosse hinaus und dem Walde zu und hörte nicht auf zu laufen, bis sie das Ufer, dieser Insel gegenüber, erreicht hatte. Ich folgte ihr, nachdem ich mein Halsband ebenfalls abgeworfen, auf dem Fuße nach und sah, daß sie, sobald sie in der Badegrotte bei der Kufe voll Wassers angelangt war, sich auskleidete, um hineinzuspringen; aber unglücklicherweise fiel ihr die abscheuliche Fischhaut in die Augen, und wiewohl sie sich mit ängstlichem Geschrei von ihr zu entfernen suchte, so fühlte sie sich doch durch eine unsichtbare Gewalt genötiget, sich in diese Haut einzuwickeln und ins Meer zu stürzen. Von dieser Zeit an kam ich alle Tage zu der Grotte zurück, um ihr Unglück zu beweinen und sie, wo möglich, wiederzusehen. Als ich nun eines Tages auf die Spitze des Felsens hinaufgeklettert war und nach dem Schlosse dieser Insel hin winselte, in der Meinung, daß Ferrandine sich dahin geflüchtet haben könnte, sah ich eine Schaluppe zu mir herüberkommen. Ich sprang hinein, und sie setzte mich an der Insel ab, wo ich, zu meinem unbeschreiblichen Troste, meine Schwester an einem ihrer guten Tage fand. Sie erzählte mir, wie gütig sie von der Statthalterin aufgenommen worden und wie freundlich ihr in diesem Schlosse begegnet werde; aber sie preßte mir Tränen aus, indem sie mir sagte, daß sie, einen Tag um den andern, sowie die Fischhaut sich ihren Augen darstelle, genötiget sei, sich dareinzuwickeln, ins Meer zu springen und nach der Badegrotte hinüberzuschwimmen, wo die Haut sie wieder verlasse, während sie sich in dieser prächtigen Kufe bade. Die Statthalterin, die an unserm Unglück vielen Anteil zu nehmen schien, erlaubte mir, Ferrandinen von Zeit zu Zeit zu besuchen, und wir redeten die Zeichen miteinander ab, die ich ihnen von der Spitze des Felsens geben wollte. Ich kehrte in den Wald zurück, um die Ursache unsres Unfalls, den Kamm und das Halsband, zu suchen, die nun das einzige Mittel, uns wieder herauszuhelfen, sein sollten; und das Glück, oder vielmehr die Zaubereien der Scheiden-Mutter, führten mich in den kleinen Palast, den ich seitdem immer bewohnt habe und wo mir mit der schönen Prinzessin der Lombardei alles das begegnet ist, was sie euch schon selbst berichtet hat.»

Sobald der schöne Pertharit mit seiner Erzählung fertig war, nahm die Statthalterin das Wort. «Billig ist es nun an mir», sagte sie, «den erleuchten Personen, die in diese wundervolle Geschichte verflochten sind, einiges Licht darüber zu geben, wer diese sogenannte Scheiden-Mutter ist, die in diesem allem die Hauptrolle gespielt hat, und was sie dazu gebracht, dem Erzherzog und seiner liebenswürdigen Familie so übel mitzuspielen, und was alle die Messerscheiden bedeuten, die überall das Symbol ihrer Gegenwart und ihres Einflusses sind.» Da die sämtlichen Anwesenden sich sehr neugierig bezeugten, die Geschichte einer so merkwürdigen Person zu hören, erledigte sich die Statthalterin ihres Versprechens folgendermaßen:

«Philoklea – denn dies ist der wahre Name derjenigen, die seit ungefehr einem Jahrhundert unter dem seltsamen Namen der Messerscheiden-Mutter bekannt ist – war die Tochter eines Königs von Armorika. Sie brachte die Anlage zu einer Schönheit mit auf die Welt, die in der Folge so vollkommen wurde, daß sie Wunder tat. Glücklicherweise hatte das Gestirne, das sie mit diesem beneideten Vorzuge begabte, sie zu gleicher Zeit mit einem Geiste ausgerüstet, dessen Vollkommenheiten den Glanz ihrer Schönheit beinahe verdunkelten und wenigstens verhinderten, daß sie nicht selbst davon verblendet wurde. Die Anbeter ihrer Reizungen konnten sich nur insofern Hoffnung machen, ihrem Herzen beizukommen, als sie fähig waren, durch Geist und Wissenschaft ihre Achtung zu erlangen. Da es lange währte, bis sich Liebhaber einstellten, die ihrer Aufmerksamkeit würdig schienen, so war die Einsamkeit und das Studieren ihr einziges Vergnügen. Der König, ihr Vater, der prächtigste und zugleich der unwissendste Fürst seiner Zeit – ungeachtet er in seinem Leben in keinem Buche las -, hatte doch, um sich auch in dieser Art von Aufwand hervorzutun, mit großen Kosten eine Sammlung der seltensten und kuriosesten Bücher, die in der ganzen Welt aufzutreiben waren, zusammengebracht. Diese Bibliothek war Philokleens gewöhnlichsten Aufenthalt, und hier schöpfte sie die Anfangsgründe der wunderbaren Kenntnisse, durch welche sie in der Folge so berühmt wurde. Eine unermüdete Anstrengung schloß ihr in kurzem die Bedeutung der unbekanntesten Schriftzeichen und den Sinn der dunkelsten Bücher auf, womit diese Sammlung angefüllt war. Bei allem dem blieb ihr doch das kostbarste dieser Bücher lange Zeit unverständlich. Es enthielt eine unendliche Menge ausgemalter Abbildungen von Pflanzen, Blumen und Tieren, die bald untereinandergemischt, bald in einer gewissen Ordnung zusammengestellt und öfters durch die Zeichen der Planeten und Sternbilder unterbrochen waren. Wie rätselhaft und geheimnisvoll auch diese hieroglyphische Sprache war, so wußte sie doch durch unablässiges Forschen und Vergleichen, sich auch von dieser endlich Meister zu machen, und fand sich für alle Mühe, die es sie gekostet hatte, reichlich durch die großen Geheimnisse belohnt, die ihr dieses Buch offenbarte. Ihr Vater, der ihre allzu große Liebe zum Studieren für ihren einzigen Fehler ansah, drohte ihr öfters, daß er die ganze Bibliothek in Brand stecken lassen wollte. Einsmals kam er, um sie mitten aus ihren Büchern heraus und auf die Jagd mitzuschleppen. Sie stieg zu Pferde, und in einem schimmernden Jagdkleide, mitten unter einem glänzenden Gefolge von beiderlei Geschlechte, löschte sie alle übrigen Damen aus und bezauberte alle Männerherzen, ohne die mindeste Kenntnis davon zu nehmen. Die Jagd war kaum angegangen, als Philokleens Pferd, von dem Geschrei der Jäger und Hunde erschreckt, mit ihr durchzugehen anfing. Ein großer Fluß setzte sich endlich seinem Lauf entgegen; aber es stürzte sich hinein, schwamm hindurch und hielt nicht eher still als mitten in einem großen Walde. Philoklea stieg ab, band ihr Pferd an einen Baum und lustwandelte einige Zeit unter den Bäumen hin und her, sehr vergnügt, durch diesen Zufall von einem ihr unangenehmen Gedränge von Menschen entfernt worden zu sein. Endlich setzte sie sich auf eine Art von Moosbank am Fuße einer alten Eiche nieder und überließ sich ihren Gedanken, die sie so weit führten, daß sich der Tag schon zu neigen anfing, als sie durch einen ziemlich lauten Schrei aus ihrer Träumerei erweckt wurde. Sie schaute auf und sah einen großen Uhu, der von Ast zu Ast herunterfiel und sich endlich durch eine unendliche Menge von Lappen und Fetzen, die an seinen Füßen herabhingen, in einem der untersten Äste verwickelte. Da sie keine Person war, die sich vor einem Uhu fürchtete, so machte sie sich ein Vergnügen daraus, ihn loszuwickeln und in Freiheit zu setzen; allein, anstatt davonzufliegen, setzte er sich ein paar Schritte weit von Philokleen auf die Erde und fing an, ihr mit großer Aufmerksamkeit in die Augen zu sehen, denn die zunehmende Dunkelheit hatte ihm den Gebrauch seiner eigenen wiedergegeben. Die Prinzessin erwartete, daß er anfangen würde zu sprechen, da sie so lange von ihm begafft worden war; aber er tat bloß einen kleinen Schrei, schlug mit den Flügeln, flog davon, setzte sich wieder auf eine andere Eiche und ließ abermals einen kleinen Schrei hören. Philoklea, die etwas Geheimnisvolles in dem Betragen dieser Eule zu finden glaubte, näherte sich ihr: aber die Eule verschwand, und aus dem Ort, wo sie gesessen hatte, schoß ein Lichtstrahl hervor; aber ehe die Prinzessin Zeit hatte zu untersuchen, was es sein könnte, zeigten sich eine große Menge Fackeln in dem Walde, und sie wurde von den Personen, welche sie zu suchen ausgeschickt worden waren, nach dem Hofe ihres Vaters zurückgebracht.

Seit diesem Tage wurde Philokleen die Bibliothek verboten; alles, was sie erhalten konnte, war, daß man ihr das Buch der Hieroglyphen ließ, weil ihr Vater es für ein bloßes Bilderbuch ansah, mit dessen Durchblättern sie sich die Zeit vertreiben wolle. Sie nahm es gemeiniglich mit sich, wenn sie in dem Walde, wo sie den Uhu angetroffen hatte, einsam spazierenging. Einsmals kam ihr die Lust an, zu sehen, was aus ihm geworden sei; sie ging ziemlich tief in den Wald hinein und guckte mit großer Emsigkeit an allen Bäumen hinauf, in Hoffnung, ihn endlich gewahr zu werden oder wenigstens den Baum zu entdecken, aus dem sie den Lichtstrahl hatte hervorbrechen sehen; aber vergebens. Sie wurde endlich vom Suchen so müde, daß sie sich ins Gras hinlegte und in einen tiefen Schlaf versank, aus welchem sie plötzlich auf eine sehr unangenehme Art erweckt wurde, indem sie sich von einer Art von Waldmenschen angepackt fühlte, der am ganzen Leibe mit Haaren bewachsen war und (die Hörner und Bocksfüße ausgenommen) genauso aussah, wie man die Satyrn abzubilden pflegt. Ihr Geschrei und ihr Bestreben, sich aus den gewaltsamen Armen dieses Unholdes loszuwinden, würde, da er eine unmenschliche Stärke hatte, vergebens gewesen sein, wenn nicht auf einmal der Uhu, mit etwas Glänzendem in seinen Klauen, auf das Ungeheuer herabgeschossen wäre und es tot zu ihren Füßen hingestreckt hätte. Sie glaubte, daß ihn ein Donnerkeil erschlagen hätte; aber da sie ihn genauer betrachtete, erblickte sie das Heft eines Messers, dessen Klinge in seinem Herzen stak. Kaum hatte sie es herausgezogen, als alle Stellen der Klinge, die nicht mit Blute befleckt waren, ihre Augen durch einen Glanz verblendeten, der im Dunkeln immer heller wurde. Sie ging zu einer Quelle hin, die nicht weit davon aus einem Felsen sprang, um das Blut von der Klinge wegzuwaschen; aber ihre Mühe war vergeblich, das Wasser machte die Farbe des Blutes nur desto lebhafter. Ihr Erstaunen über dieses Wunder machte bald einem noch größern Platz. Sie kam auf den Einfall, die Klinge an dem Felsen zu reiben, um zu versuchen, ob sich die Flecken nicht wegschleifen ließen; aber kaum hatte die Spitze der Klinge den Felsen berührt, so war es, als ob das Messer lebendig werde, und indem sie seiner Bewegung nachgab, ohne es aus der Hand zu lassen, fing es an, gewöhnliche Buchstaben zu schreiben, aber in einer Sprache, wozu der Schlüssel nirgends als in dem mehr erwähnten Buche zu finden war. Der Uhu, der sich ebensowenig von Philokleen als von dem Messer zu trennen Lust hatte, saß nicht weit davon auf dem Felsen und schien auf das, was vorging, sehr aufmerksam zu sein. Als das Messer zu schreiben aufhörte, las die Prinzessin folgende Worte:

Schöne Prinzessin mit dem goldnen Messer,
rupfe den Uhu damit, so wird ihm besser!

Philoklea, die von der Wichtigkeit dieses Messers hohe Begriffe zu fassen anfing, hielt sich verbunden, alles, was es schreiben würde, mit dem Gehorsam, den man einem Orakel schuldig ist, zu vollziehen. Sie ergriff also den Uhu, der sich willig seinem Schicksal unterwarf, und fing an, ihn zu berupfen, nicht ohne innerliche Vorwürfe, daß sie ihm für den wichtigen Dienst, den er ihr geleistet, so übel mitspielen sollte. Aber, siehe da! ehe sie noch mit der Arbeit fertig war, wurde der häßlichste aller Uhus unter ihren Fingern zum schönsten aller Menschen!

Vor Bestürzung ließ sie das Messer aus der Hand fallen; aber der schöne Jüngling hob es sogleich wieder auf, und indem er es der Prinzessin auf seinen Knien darreichte, sagte er ihr so witzige und verbindlichste Sachen, daß sie sich nicht enthalten konnte, ihm mit einer Gefälligkeit zuzuhören, womit noch keine Mannsperson von ihr begünstiget worden war.

Vermutlich», fuhr die Statthalterin fort, indem sie sich an den König und die übrigen Anwesenden wandte, «werdet ihr nicht viel weniger neugierig sein, als es Philoklea damals war, zu erfahren, was es mit dem gewesenen Uhu für eine Bewandtnis hatte; ich will also die Erzählung, die er ihr davon machte, ins Kurze zusammenziehen, wiewohl wir unsre Hauptperson eine kleine Weile darüber aus den Augen verlieren werden.

Es lebte einst in Armorika ein berühmter Druide, der sich Kaspar der Alleswisser nannte, denn er hatte in einer von ihm selbst erfundenen Sprache ein Buch verfaßt, worin alle Wissenschaft der Weisen vor und nach Adam enthalten war. Dieses Buch war nach seinem Tode in die Bibliothek des Königs gekommen und war das nehmliche, woraus Philoklea ihre größten Geheimnisse gelernt hatte. Dieser Kaspar der Alleswisser hatte einen Sohn, der so schön war, daß er in sich selbst verliebt wurde und kein größeres Vergnügen in der Welt kannte, als den ganzen langen Tag vor einem Bach oder Brunnen zu stehen und sein eigenes Bild darin anzuschauen. Dies war die Ursache, warum ihn sein Vater Narzissus nannte; indessen machte ihm diese Narrheit seines Sohnes so viel Unlust, daß er ihn eines Tages in sein Laboratorium kommen ließ und, nachdem er ihm wegen seiner abgeschmackten Selbstgefälligkeit einen derben Verweis gegeben, hinzusetzte: ‹Mein Sohn, ich sehe wohl, daß du nimmermehr zu nichts gut sein wirst, solang ich dich bei mir behalte; ich will dir also einen Auftrag geben, wodurch du Gelegenheit bekommen wirst, die Welt zu sehen, aber unter der Bedingung, daß du dich nie wieder in einem Bache beschauest; denn das sage ich dir, das erste Mal, da du diesem Verbot ungehorsam bist, wirst du so häßlich werden, daß du vor deiner eigenen Gestalt erschrecken wirst; und wofern du jemals in diesen Fall kommst, so wird niemand als eine Dame, die mein Buch lesen und verstehen kann, dir diese Schönheit wiedergeben können, die dir den Kopf verrückt hat und die du alsdann verachten wirst. Noch mehr: mit deiner ersten Gestalt wird dir alsdann auch alle meine Wissenschaft mitgeteilt werden, ebenso wie derjenigen, in deren Hände mein Buch geraten wird, wofern sie den Schlüssel zu einer von mir erfundenen und mir allein bekannten Sprache zu finden weiß. Merke wohl auf das, was ich dir sagen will! Es ist irgendwo in der Welt ein Wald, und in diesem Wald ein Baum, der nicht leicht zu finden ist, und in diesem Baum eine goldene Messerscheide, aber von einem Golde, das nicht zerschmelzt, wie jedes andere Gold tun wird, wenn es von dem Messer berührt wird, das ich dir geben will. Diese Scheide ist es, mein Sohn, die du suchen und, wenn du sie gefunden hast, mir überbringen sollst.› Mit diesen Worten gab er ihm das Messer, umarmte ihn und schickte ihn fort.

Narzissus durchsuchte alle Wälder, die er auf seiner Wanderschaft vor sich fand, mit einer solchen Emsigkeit, daß er in drei Jahren nicht mehr als zwanzig Meilen zurücklegte. Endlich kam er an den Hof des Königs, dessen Tochter Philoklea ist; da es ihm aber bloß darum zu tun war, die Scheide zu suchen, und er diese an keinem Hofe, sondern in einem Walde finden sollte, so eilte er sogleich wieder fort, ohne sich gezeigt zu haben, und geriet in ein sehr anmutiges Gehölze, das größtenteils von einem Flusse umgeben war, dessen Wasser den Kristall an Klarheit übertraf. Um tiefer in den Wald hineinzukommen, mußte er über den Fluß; und indem er hinüberging, wandelte ihn die Neugier an, zu sehen, ob die Beschwehrden der Reise seiner Schönheit keinen Abbruch getan hätten. Er vergaß der väterlichen Warnung und bückte sich über das Wasser herab; aber wie groß war sein Entsetzen, da ihm, statt der Züge des schönen Narzissus, ein großer Uhu entgegensah! Der Schrei, den er vor Schrecken tat, verdoppelte seine Bestürzung, denn es war der Schrei einer Eule, und ehe er den zweiten tun konnte, sah er sich von Kopf zu Fuß in eine Horneule von der ersten Größe verwandelt. Er behielt zwar noch seine Vernunft; aber er hatte so wenig, daß es nicht der Mühe wert war, sie ihm zu nehmen. Voller Verzweiflung eilte er nun den dunkelsten Gegenden des Waldes zu, wo er sein trauriges Leben damit zubrachte, sich den Tag über in einem hohlen Baum zu verbergen und des Nachts Waldratten oder Fledermäuse zu seiner Nahrung zu fangen und die Scheide des Messers zu suchen, welches er sorgfältig aufbewahrt hatte. Er suchte so lange, bis der Glanz, den diese wundervolle Scheide im Dunkeln von sich warf, ihn den Baum, worin sie steckte, finden ließ; aber wie viele Mühe er sich auch deswegen gab, so konnte er es doch nie dahin bringen, weder die Scheide herauszuziehen noch sein Messer hineinzustecken. Alles, was er tun konnte, war, das Messer auf eben diesem Baume nahe bei der Scheide zu verbergen und sich immer in der Nähe desselben aufzuhalten. Endlich fügte es ein glücklicher Zufall, daß die Prinzessin Philoklea sich in diese Gegend des Waldes verirrte und von der Nacht überfallen wurde. Der Uhu verliebte sich sterblich in sie, sobald es dunkel genug war, daß er sie sehen konnte; aber sein Zustand würde durch eine Liebe, wovon er sich so wenig zu versprechen hatte, eher verschlimmert als gebessert worden sein, wenn ihm nicht eine geheime Stimme innerlich zugeflüstert hätte, daß dies vielleicht die Dame sei, die ihm seine vorige Gestalt wiedergeben könne. Bald darauf war er glücklich genug, sie vermittelst seines Messers aus den zottichten Armen des wilden Mannes zu retten, der sie, wie ich bereits gemeldet, im Schlaf überfallen hatte; und da er, durch eine Folge dieses Abenteuers, mit seiner ursprünglichen Schönheit auch noch allen Verstand und alle Wissenschaften seines Vaters, Kaspar des Alleswissers, erhielt: so war die Gegenliebe der schönen Philoklea das einzige, was er noch zu wünschen hatte, um der glücklichste aller Menschen zu sein. Und wie hätte die Prinzessin ihm diese versagen können, da er nun, nachdem der Geist seines Vaters in ihn übergegangen war, unter allen Sterblichen der einzige war, den sie ihrer Liebe würdig halten konnte? Um es kurz zu machen, sie überließen sich der Sympathie, welche natürlicherweise zwischen zwei Personen vorwalten mußte, die vergebens eine dritte ihresgleichen in der Welt gesucht hätten: sie liebten sich und teilten einander alle ihre Wissenschaften und Geheimnisse mit. Er beschenkte sie mit der Gabe, sich unsichtbar zu machen und niemals alt zu werden; und sie mußte ihm schwören, das wundervolle Messer niemals zu veräußern, an dessen Besitz ihre gemeinschaftliche Glückseligkeit gebunden war, und niemanden weder ihr Abenteuer noch ihre Verbindung mit ihm zu entdecken. Vermittelst des Geheimnisses, sich unsichtbar zu machen, welches der glückliche Narziß besaß, führten sie viele Jahre das beneidenswürdigste Leben, ohne daß man etwas davon gewahr wurde. Indessen fehlte ihnen gleichwohl noch die goldene Scheide, die sie mit aller ihrer Wissenschaft nicht aus dem Baume herauszuziehen vermochten. Dieses Abenteuer war einem andern aufbehalten, aber unglücklicherweise blieb der Besitz des Messers immer unsicher, solange man nicht zugleich im Besitz der Scheide war.

Die schöne Philoklea hielt sich, diese Zeit über, noch immer am Hofe ihres Vaters auf, wo die Mühe, alle die Anträge und Bewerbungen, die ihre Schönheit ihr zuzog, von sich abzuhalten, das einzige war, was ihre geheime Glückseligkeit verbitterte, wiewohl im Grunde sie nur desto reizender machte. Sie allein erhielt sich immer im Glanz einer unverwelklichen Jugend, während alles um sie her unvermerkt alterte; aber eben dieses Umstandes wegen wurde sie endlich eines Aufenthaltes überdrüssig, wo sie selbst, ihrer ewigen Jugend ungeachtet, zuletzt etwas Altes zu werden anfing. Sie verließ also ihr Vaterland, um in Begleitung ihres unsichtbaren Liebhabers in fremden Ländern neue Entdeckungen zu machen. Sie besuchte Ägypten, Afrika, Persien und Indien und brachte verschiedene Jahrhunderte mit diesen Reisen zu, die an einer Menge merkwürdiger Zufälle und Abenteuer fruchtbar waren. Als sie endlich nach Europa zurückkam, fand sie es überall von dem Ruhm des weisen Merlins erfüllt. Die Neugier, durch sich selbst zu erkundigen, ob die Wunder, die man von seiner Wissenschaft erzählte, eines so großen Ruhmes würdig seien, bewogen sie, nach Britannien überzugehen und, unter einer unkenntlichen Gestalt, am Hofe des Königs Artus zu erscheinen, wo Merlin sich aufzuhalten pflegte. Wie gut sie sich auch verborgen zu haben glaubte, so konnte sie doch nicht verhindern, daß der schlaue Zauberer Verdacht bekam. Er bot allen seinen Künsten auf, sich bei ihr einzuschmeicheln; aber sie war zu scharfsichtig, um nicht bald zu merken, daß seine Freundschaft die Maske geheimer Absichten war und daß er auf nichts Geringers ausging, als sie des Messers zu berauben, von dessen Scheide er sich durch ein Geheimnis, das ihm allein bekannt war, zum Besitzer gemacht hatte. Sie erhielt die Bestätigung dieser Vermutung von dem Messer selbst, von welchem sie, sobald sie es mit der Spitze auf einen dichten Körper setzte, über alles, was sie zu wissen verlangte oder nötig hatte, ein immer zuverläßliches Orakel erhielt. Da sie sich mit aller ihrer Wissenschaft vor den Kunstgriffen eines so geschmeidigen und vielgestaltigen Menschen nicht sicher hielt, so verließ sie Britannien wieder und zog sich an den Fuß des Apenninischen Gebürges zurück, wo sie, um desto weniger entdeckt werden zu können, die Gestalt annahm, unter welcher sie euch bekannt ist. Aber alle ihre Vorsicht war vergebens. Eines Tages, da ihr der Zauberer Merlin, und was sie von ihm zu befürchten hatte, ganz wieder aus dem Sinne gekommen war, sah sie, auf einem ihrer Spaziergänge, einen glänzenden Wagen von dem Gipfel des Berges herabsteigen. Aus diesem Wagen stieg ein Zauberer von so ehrwürdigem Ansehen, daß es unmöglich gewesen wäre, ihm etwas Arges zuzutrauen. ‹Schon lange›, sagte er, indem er ihr die Scheide ihres Messers darbot, ‹suche ich die ehrwürdige Besitzerin des Messers, für welches diese wundervolle Scheide gemacht ist, um ihr einen Schatz einzuhändigen, der ihr angehört und mir unnütz ist, wiewohl ich der einzige Sterbliche bin, der das Messer in die Scheide stecken kann.› Die Freude der Prinzessin beim Anblick eines Kleinods, dessen so lange schon gewünschter Besitz das einzige war, was ihre Glückseligkeit unzerstörbar machen konnte, war so groß, daß sie auf einen Augenblick ihre Klugheit überwog. Sie reichte dem Unbekannten ihr Messer hin, um es in die goldne Scheide zu stecken; aber er hatte es kaum in der Hand, als er damit aus ihren Augen verschwand. Ihre Verzweiflung über diesen Verlust und über die Art, wie sie sich um das Kostbarste, was sie besaß, hatte bringen lassen, ist mit keinen Worten auszudrücken; aber sie fühlte erst die ganze Größe ihres Verlustes, da sie bei ihrer Zurückkunft ihren geliebten Narzissus nicht mehr fand. Vergebens suchte sie ihn viele Jahre lang auf dem ganzen Erdboden. Endlich kehrte sie wieder an den Ort zurück, wo sie alles, was ihr das Liebste war, verloren hatte. Das Verlangen, das nun ihre einzige Leidenschaft ist, ihr verlornes Messer, wenn auch Jahrhunderte darüber hingehen sollten, wiederzubekommen, brachte sie auf den seltsamen Einfall, überall, wo sie sich sehen läßt, eine Art von Buden zu errichten, die mit Scheiden angefüllt sind, und von allen, die etwas bei ihr zu suchen haben, das Geschenk eines Messers zu verlangen: in Hoffnung, daß unter so vielen Messern endlich einmal das rechte in eine von diesen Scheiden werde gesteckt werden. Das Schlimmste war indessen, daß der Verlust des Messers, ohne welches sie keine Hoffnung hat, mit ihrem geliebten Narzissus wieder vereiniget zu werden, ihre sonst äußerst sanfte und wohltätige Sinnesart so vergällte, daß sie, um die Menschen in den Fall zu setzen, ihrer Hülfe recht oft vonnöten zu haben, sich ein ordentliches Geschäfte daraus machte, unerhörte und abenteuerliche Zufälle und Schicksale zu erfinden, in welche sie die Leute verwickelte. Vornehmlich war sie ebenso sinnreich als unbarmherzig, diejenigen zu quälen, die eine gegenseitige Sympathie dazu bestimmt hat, nur durch ihre gegenseitige Liebe glücklich sein zu können. Sie schien in den Qualen, so sie diesen Unglücklichen zubereitete, eine Erleichterung ihrer eigenen zu finden; und wiewohl sie zu gutherzig war, sie am Ende nicht dafür zu belohnen: so können doch Pertharit und Ferrandine mit ihren Geliebten bezeugen, daß sie ihnen das Glück, womit ihre Liebe endlich bekrönt wird, teuer genug verkauft hat.»

Hier endigte die Statthalterin ihre Erzählung, mit der Versicherung, daß sie die Scheiden-Mutter von nun an um so gewisser als ihre Freundin betrachten könnten, da sie große Hoffnung habe, in kurzem wieder zu ihrem Messer und seiner Scheide, und mit beiden zum Besitz ihres Geliebten und ihrer vormaligen Zufriedenheit, zu gelangen. Dieser Versicherung zufolge endigten sich nun die Abenteuer des ganzen königlichen Hauses so glücklich, daß sie versucht waren, sowohl ihre vormaligen Leiden als ihr jetziges Glück für ein Märchen zu halten. Der König wurde geheilt; der Erzherzog fand seinen Verstand wieder, und mehr als er jemals gehabt hatte; der schöne Pertharit und seine Prinzessin erhielten die bezauberte Insel, die Badegrotte und das ganze Land umher zum Hochzeitsgeschenke; und die schöne Ferrandine machte den Prinzen der Lombardei zum glücklichsten aller Longobarden seiner Zeit.

Quelle:
(Christoph Martin Wieland Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen)

 

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