An jenem Nachmittag schlurfte der Fakir Piks ans Meer, um seinem müden Körper und seinen wunden Füßen eine Erholung zu gönnen, denn jeden Tag trat er im Zirkus auf. Er war nicht mehr der Jüngste; er fühlte sich schwach. Jeden Abend lief er über spitze Nägel, legte sich mit nacktem Oberkörper auf ein Nagelbrett und andere turnten auf ihm herum. Lachen konnte Piks schon lange nicht mehr. Neulich hatte der Prinzipal sogar gesagt: „Piks, deine Zeit scheint wohl abgelaufen zu sein. Dir fehlt so langsam die Spannung in deinem Körper. Hast Schmerzen, stimmt’s? Die Menschen wollen aber ein lachendes Gesicht sehen, nicht so ein griesgrämiges. Finde dich damit ab, ich werde mich nach Ersatz für dich umsehen.“
Piks war tief traurig. All die Jahre war er gut genug und nun sah er sich schon fortgejagt wie ein räudiger Hund. Mit leerem Blick schlurfte er durch den Sand und wäre fast auf Else getreten. Sie gab jedoch rechtzeitig einen lauten Piepston von sich und beschwerte sich: „Hast du keine Augen im Kopf? Siehst du nicht, dass ich verletzt bin?“
„Du bist verletzt? Verzeih! Ich war so in Gedanken. Kann ich dir helfen? Hast du Schmerzen?“, wollte Piks wissen.
„Natürlich hat man Schmerzen, wenn man sich einen Flügel bricht“, nuschelte sie, besann sich aber und fragte mit bittenden Augen: „Sag mal, kannst du mich nicht ganz schnell wieder gesund machen, bevor meine Eltern zurückkommen?“
„So schnell geht das nicht“, gab der Fakir zu bedenken. „Dein Flügel muss geschient werden. Viele Male wird die Sonne aufgehen, ehe du wieder fliegen kannst. Ich nehme dich mit. Wenn du wieder gesund bist, kannst du zurückfliegen.“
Else dachte nach: „Was werden wohl meine Eltern denken, wenn ich nicht mehr da bin? Sie werden umkommen vor lauter Sorge.“
Piks wollte sie schon vorsichtig in seine Hände nehmen und nach Hause tragen, als plötzlich wie von Zauberhand ein junger Mann in einen weiten, schwarzen Umhang gehüllt, neben ihnen stand.
„Warte!“, sagte der Fremde zum Fakir. „Ich bin Fitzliblitz, der schlaueste und größte Zauberlehrling, immer auf der Suche nach jemandem, an dem ich meine Zaubersprüche ausprobieren kann. Lass mich versuchen, der kleinen Möwe zu helfen!“
Piks war zwar recht verwundert, doch Else drängelte, wollte sie doch so schnell wie möglich wieder fliegen können. „Ja, lass es ihn versuchen!“, piepste sie kläglich, denn der gebrochene Flügel schmerzte bei jedem Atemzug. Fitzliblitz zog seinen Zauberstab unter dem Umhang hervor und murmelte unverständliche Worte. Dann ließ er den Zauberstab dreimal über Else kreisen und siehe da: Der gebrochene Flügel war wieder heil. Aber oh Schreck, nun hatte Else drei Flügel. Entsetzt erhob sie sich und versuchte zu fliegen, doch der dritte Flügel hinderte sie daran.
„Du scheinst noch nicht viel Erfahrung mit deinen Zauberkünsten zu haben“, schimpfte sie. „Befrei mich sofort von diesem … diesem Ding da oben! Oder soll ich in Zukunft zum Gespött aller Möwen werden?“
Fitzliblitz überlegte, was er wohl verkehrt gemacht hatte und kratzte sich am Kinn. Doch plötzlich erhellte sich sein Gesicht. „Ah ja! Jetzt hab ich’s!“ Wieder schwang er seinen Zauberstab über Else und plötzlich war sie völlig verschwunden, dafür raste ein rosa Schweinchen quiekend dem Wasser zu.
„Fang es ein“, schrie der Zauberer entsetzt, „das ist Else!“
„Hab ich mir schon gedacht!“, grollte Piks, rannte dem Schwein hinterher, packte es an einem Hinterbein und stürzte sich dann mit ganzem Körper auf das zappelnde Tier. „Jetzt streng dich endlich mal an und beeil dich“, schimpfte der Fakir und keuchte vor Anstrengung. Einen Augenblick lang überlegte der Zauberlehrling, dann schien ihm die richtige Formel eingefallen zu sein. Ein drittes Mal schwang er den Zauberstab über das Schweinchen und endlich erhob sich Else, vor Freude laut kreischend, in den blauen Himmel. Piks freute sich, dass Else wieder Else war und obendrein auch gesund. Er wollte dem Zauberlehrling nun auch sein Leid klagen und ihn bitten, eine Lösung für sein Problem zu finden, aber er war nicht mehr da. Es war gerade so, als hätte die Erde ihn verschluckt.
Der Fakir setzte sich nun endlich ins kühlende Wasser, dazu war er ja überhaupt ans Meer gekommen. Else setzte sich auf seine Schulter und hörte Piks zu, der von seinem Kummer erzählte, den Schmerzen, die er täglich ertragen muss und dass er bald nicht mehr gebraucht werde. „Wie soll man da sein Lachen nicht verlieren?“, seufzte er.
„Wir hätten den Zauberlehrling um Hilfe bitten sollen“, sagte Else nachdenklich. „Der hätte bestimmt einen Ausweg gewusst!“
Piks machte ein trauriges, mutloses Gesicht. Sein Anblick tat Else in der Seele weh. Der Fakir verabschiedete sich und versprach am nächsten Tag wiederzukommen. Jetzt hatte er seinen Auftritt hinter sich zu bringen. Else flog auf die Palme und suchte den Himmel nach ihren Eltern ab. Sie war müde und langsam auch hungrig. Schläfrig steckte sie ihren Kopf unter den linken Flügel, doch bei jedem Geschrei einer Möwe schreckte sie hoch. Nach kurzer Zeit aber schlief sie tief und fest.
Der Zauberlehrling tauchte plötzlich wieder am Ufer auf. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er noch gebraucht würde. Da sah er eine Möwe auf der Palme sitzen und schlafen. „Ob das Else ist?“, frage er sich. „Hallo, kleine Möwe! Was macht dein Flügel?“, rief er. Else war augenblicklich wach. Sofort erkannte sie den Zauberlehrling. „Du kommst wie gerufen!“, freute sie sich. Schnell erzählte sie ihm das Leid von Piks.
„Wusste ich doch, dass er mir noch etwas sagen wollte, doch ich wurde zu meinem Meister gerufen. Weißt du zufällig, wo wir den Fakir finden können?“
Else schaute ihn ungläubig von der Seite her an, sie hatte keinen Meister rufen hören, aber das war jetzt nicht wichtig. Jetzt ging es um Piks.
„Ja, ich weiß, wo der Zirkus steht. Jetzt wirst du beweisen, was du wirklich kannst, du schlauester und größter Zauberlehrling!“, spöttelte sie belustigt.
Schnell waren sie im Zirkus angekommen und versteckten sich hinter einer Plane, dort konnten sie alles gut verfolgen. Dann wurde Piks angekündigt. Alles war für ihn vorbereitet. Er machte ein trauriges Gesicht, bevor er sich auf sein Brett legte und eine Schönheit ihre Turnübungen auf seinem Körper vollführte. Else bohrte ihren spitzen Schnabel in die Seite von Fitzliblitz. „Tu endlich was!“
Der Zauberstab wurde geschwungen, eine Zauberformel gemurmelt. Und dann wurden sie entdeckt. Ein Aufseher kam angerannt und verjagte sie.
Als sie wieder am Meer angekommen waren, fragte Else außer Atem: „Meinst du … dein Spruch … war der rechte?“
Fitzliblitz hob die Schultern, verbeugte sich galant und war wieder einmal verschwunden.
„Eigenartiger Knabe“, dachte die Möwe und grinste, „hat ihn wohl wieder mal sein Meister gerufen!“
Schon am nächsten Morgen kam Piks freudestrahlend angerannt und schrie von weitem: „Else, die Nägel pieksen nicht mehr. Die Vorstellung war ein großer Erfolg. Ich hatte solche Angst, doch plötzlich waren die scharfen Nägel wie durch ein Wunder weich wie Wattebällchen. Ich habe mein Lachen wieder. Ach, das Leben kann so schön sein!“
„Es war der rechte Spruch, freute sich Else. „Er hat den rechten Zauberspruch gewusst!“ Sie breitete ihre Flügel aus, klapperte mit ihrem Schnäbelchen und hüpfte vor Vergnügen auf ihren dünnen Stelzen umher.
„Ja, und stell dir nur vor. Der Prinzipal wollte nicht glauben, was er sah und hat nach der Vorstellung seinen Zeigefinger auf einen Nagel gedrückt. Was glaubst du, was passiert ist? Er hat geblutet! Nur bei mir sind die Nägel weich, allen anderen zeigen sie sich in all ihrer Schärfe. Ist das nicht großartig? Oh, ich bin dem Zauberlehrling und dir so dankbar, kleine Else!“
„Hab ich doch gern getan“, freute sich die kleine Möwe.
„Ich freu mich, dass mein Zauberspruch gleich beim ersten Male der rechte war“, lachte es herzlich über ihren Köpfen, ohne dass irgendjemand zu sehen war. Doch Piks und Else wussten, dass es nur Fitzliblitz‘ Stimme gewesen sein konnte.
Über dem Meer kamen nun zwei winzige Punkte angeflogen, die schnell größer wurden. Es waren Elses Eltern mit feinen Leckerbissen. Sie begrüßten ihr Kind und auch den Fakir. Beide erzählten, was sie alles erlebt hatten und am Appetit von Else bemerkten die Möweneltern, dass sie ihr Töchterchen wohl diesmal zu lange allein gelassen hatten. Da Else nun richtig fliegen konnte, gaben die Möwen ihr Nest in der Palme auf. Sie verabschiedeten sich von Piks und flogen auf ein am Horizont auftauchendes Segelschiff zu, mit dem sie gedachten, ein Stück weit in die Welt zu kommen.
Der Fakir blickte den dreien traurig nach. Er hatte Else lieb gewonnen. „Wer weiß, ob ich sie jemals wiedersehe?“, dachte er, schließlich zieht auch ein Zirkus in der Welt umher und winkte, so lange, bis die drei Punkte seinen Augen entschwunden waren.