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Rettung des Märchenwaldes

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Viele Jahre herrschten Frieden und Eintracht im Märchenwald. Obwohl es hin und wieder kleinef Streitigkeiten zwischen den Bewohnern gab, konnten diese Meinungsverschiedenheiten schnell beigelegt werden.
Aber seit einigen Tagen hörte man schlimme Gerüchte. Es wurde von schwarz gekleideten Gestalten erzählt, die bei Nacht und Nebel durch das Dickicht des Waldes huschten. Immer öfter verschwanden auf geheimnisvolle Weise Menschen und Tiere aus dem Märchenwald.

Davon hörten auch jene Zwerge, die versteckt in einem alten Bergwerk hausten. Eines Abends wurde dort eine Versammlung einberufen, zu der alle Märchenwesen geladen waren. Man hatte den Verdacht, dass die dunklen Gestalten aus dem Reich des Bösen entflohen waren und nun versuchten, den Märchenwald für sich einzunehmen.

Schon lange, bevor die Sonne unterging, trafen Elfen, Hexen, Kobolde und Feen bei den Zwergen ein.
„Wir trauen uns nicht, nach Anbruch der Dunkelheit durch den Wald zu laufen“, erklärte eine der Feen. „Deshalb möchten wir euch auch bitten, bis morgen nach Sonnenaufgang hierbleiben zu dürfen!“
„Na“, meinte Adurich, Sprecher der Zwerge, schmunzelnd, „da ist es ja gut, dass wir in solch einem großen Bergwerk wohnen! Es ist Platz für alle da. Und zu essen und trinken gibt es auch reichlich.“
So machten es sich alle gemütlich und waren froh, an einem sicheren Platz die Nacht verbringen zu dürfen.
Keiner der Waldbewohner bemerkte daher die dunklen Gestalten, die im Schutz der Bäume den Einzug der Märchenwesen bei den Zwergen beobachteten und sich nun ins Fäustchen lachten. Eine bessere Falle hätten sie nicht stellen können!

„Sieh nur, Moores“, spottete unweit der Höhle ein gewitzter Kobold. „Hab ich zuviel versprochen? Wie du siehst, ist mein Plan aufgegangen. Ich habe Adurich geraten, alle in die Höhle einzuladen und jetzt sitzen sie in der Falle. Nun halte dein Versprechen.“
,,Schon gut, schon gut!“, beruhigte ihn Moores und lugte ein wenig unter seinem schwarzen Umhang hervor. Der kleine hässliche Gnom war kein anderer als der treue Diener des Fürsten der Dunkelheit. Mit List und Tücke war es Moores gelungen, dem Kobold Fabius aufzulauern, ohne dass es die übrigen Märchenbewohner bemerkten. „Ich werde meinem Herrn davon berichten, sicher wird er dich gut belohnen.“
Fabius, der verräterische Kobold, lächelte boshaft und war zufrieden.

Dann ging er, als hätte er nichts Verbotenes getan, ebenfalls in die Höhle und mischte sich unter die Anwesenden.
Moores machte sich auf den Weg zum Fürsten der Dunkelheit, um ihm von dem gelungenen Plan zu berichten.
Doch blieb die Begegnung der beiden nicht unbemerkt. Eine stattliche Eiche, die am Eingang des Bergwerkes stand, hatte die Unterhaltung mit angehört.
„Das kann doch nicht wahr sein! Ein Verräter?“, murmelte der Baum und schüttelte ungläubig seine Äste. Sofort rieselten einige trockene Blätter auf den Waldboden. „Ich muss eine Möglichkeit finden, um die Teilnehmer der Versammlung zu warnen. Aber wie soll ich das anstellen?“
Während die Eiche nachdachte und dabei ihre Rinde in Falten legte, bemerkte sie im hohen Gras einen Schatten. Gleich darauf erschien ganz außer Atem ein winziger Elf.
„Bin ich zu spät? Hat die Versammlung schon angefangen?“, fragte er aufgeregt.
Nachdenklich sah der Baum den kleinen Elf an. Plötzlich glätteten sich die Falten seines Stammes und er rief: „Nein, nein, es ist gut, dass du dich verspätet hast. Du musst mir einen Gefallen erweisen.“
„Gerne“, antwortete der Elf, „und was kann ich für dich tun?“
„Wenn du in die Höhle kommst, dann suche nach Adurich. Er ist der Sprecher der Zwerge. Du kannst ihn nicht verfehlen, denn er hat den längsten Bart seiner Sippe. Sei aber so unauffällig wie möglich und sieh zu, dass du ihn allein antriffst. Adurich soll bitte sofort zu mir kommen, weil ich ihm etwas Wichtiges zu sagen habe. Und nun geh! Eile tut Not.“
In der Höhle angekommen, musste sich der Elf erst an das trübe Licht der Öllampen gewöhnen, die von der Decke des Bergwerkes herunterhingen. Er drängte sich durch die Besuchergruppe hindurch und hielt nach dem Zwerg mit dem längsten Bart Ausschau. In dem Augenblick, als der Elf ihn erspähte, packte jemand seinen Arm und hielt ihn so fest, dass es schmerzte.

Erschrocken drehte Kullian sich um und sah in das Gesicht seiner Mutter. „Junge“, sagte sie mit strenger Stimme, „ich habe dich überall gesucht! Schreckliche Sorgen habe ich mir um dich gemacht! Weißt du nicht, wie gefährlich es heutzutage im Wald ist? Und nun bleibst du hier!“ Ihr Griff war so kräftig, dass Kullian sich ihm nicht entwinden konnte. „Ja, aber, ich muss …“, versuchte er einzuwenden. „Nichts da“, bestimmte seine Mutter, „auf dich muss man aufpassen wie auf ein kleines Kind! Wenn ich daran denke, was dir im Wald alles hätte passieren können!“ Der kleine Elf versuchte es noch einmal: „Aber ich habe eine dringende Botschaft für Adurich!“ Doch seine Mutter lockerte den Griff nicht.

Kullian war ratlos! Hatte nicht die Eiche gesagt, es wäre von großer Wichtigkeit? Er musste unbedingt einen Weg finden, um Adurich zu erreichen. Der kleine Elf reckte sich und hielt nach dem Zwerg Ausschau. Dieser stand auf einem Felsvorsprung und wartete darauf, die Versammlung eröffnen zu können. Doch alle Waldbewohner waren so beschäftigt, dass keiner auf ihn achtete. Kullian langte heimlich in ein kleines Säckchen mit Elfenstaub, führte ihn an die Lippen und blies ihn zum Zwerg hinüber. Sanft schwebte der kaum sichtbare Staub durch die Höhle und formte sich vor den Augen Adurichs zu einem Schriftzug, den niemand weiter zu bemerken schien.

Er stutzte einen Moment und dann fragte er sich, warum die Eiche nach ihm verlangte. Die Versammlung sollte doch jetzt beginnen. Andererseits kannte Adurich den alten, weisen Baum lange genug, um zu wissen, dass dieser ihn niemals ohne triftigen Grund zu sich rufen würde.
„Die Versammlung kann noch ein paar Minuten warten“, dachte der Zwerg und verließ rasch die Höhle. Nach wenigen Schritten stand er im Schatten der Eiche. „Was gibt es so Wichtiges, dass du nach mir verlangst?“, fragte er besorgt.
„Ich muss dich warnen, Adurich. Es befindet sich ein Verräter unter euch. In der Höhle seid ihr nicht sicher. Handle sofort, bevor es zu spät ist.“
Die Eiche hatte kaum zu Ende gesprochen, als sich dunkle Gestalten dem Eingang der Höhle näherten. Adurich stand da und fühlte, wie ihn eine unsichtbare Hand festhielt. „Du kannst sie nicht retten“, triumphierte eine höhnische Stimme und ein eiskalter Hauch wehte dem Zwerg ins Gesicht.

Adurich wusste, dass ihm der Weg zurück in die Höhle verwehrt war. Er konnte sich nicht von der Stelle bewegen.
Angestrengt dachte er nach. Wie sollte er seine Freunde nur warnen? Da hatte er eine Idee.
Adurich spitzte die Lippen und begann zu pfeifen. Die Töne waren so hoch, dass sie nur von den anderen Zwergen vernommen werden konnten. Wahrscheinlich auch von den Elfen, doch die verstanden die geheimen Pfeifzeichen nicht.
Adurich pfiff, was seine Lunge hergab. Er kannte die Höhle besser als irgendein anderer Waldbewohner. Nur er wusste von dem verborgenen zweiten Ausgang, der in die rettende Freiheit führte.
Er gab heimlich Anweisungen, mahnte zur Eile, warnte vor den eindringenden Feinden.
Endlich kam er zum Schluss und hörte ermattet auf. Nun konnte er nur noch hoffen, dass ihn jemand verstanden hatte.
„Nun komm schon!“, ermahnte ihn eine grimmige Stimme. Adurich sah auf und blickte in das finstere Gesicht eines Gnoms.
„Moores?“, fragte er verwundert.
„Ja, wie du siehst, bin ich es leibhaftig. Ich traue Fabius nicht, deshalb bin ich wieder umgekehrt. Aber nun werden die dunklen Mächte bald hier sein und deine Freunde sind für immer verloren.“ Mit diesen Worten zog er Adurich energisch mit sich fort.

Unterdessen hatte niemand das Fehlen des Zwerges bemerkt, einzig und allein der Elf Kullian. Aufmerksam schaute er sich in der Höhle um. Plötzlich vernahm er ganz leise ein sanftes Pfeifen. Er stutzte und spitzte die Ohren. Er war sicher, dass dies eine Botschaft war, konnte sie aber nicht deuten. Zunehmend befiel ihn eine Unruhe. In einem unbemerkten Augenblick löste er sich von seiner Mutter und lief zum Höhleneingang.
Eine unheimliche Finsternis umgab ihn draußen und Kullian schauderte. Er blickte sich nach allen Seiten um, konnte Adurich aber nirgends entdecken.
„Geraubt!“, wisperte die Eiche und beugte ihren Stamm ein wenig dem Elf entgegen. „Du musst die Waldbewohner retten. Adurich kann nichts mehr für euch tun.“
„Was ist geschehen?“, fragte der Elf verwundert.
„So höre!“, raunte der weise Baum. „Der Fürst der Dunkelheit hat Adurich in seine Gewalt gebracht und will euch alle vernichten. Ihr befindet euch in höchster Gefahr. Ich kenne ein Geheimnis der Höhle und will euch daher einen Rat erteilen.“
„Und wie lautet er?“
„Höre zu! Vor sehr langer Zeit …“
Während die Eiche das Geheimnis der Höhle preisgab, eilte Moores mit Adurich durch den Wald.

Auf dem Weg zum Fürsten der Dunkelheit versuchte Adurich verzweifelt, Moores in ein Gespräch zu verwickeln.
„Warum dienst du dem Herrscher der Dunkelheit?“
„Weshalb willst du das wissen? Das geht dich überhaupt nichts an!“, bekam er unwirsch zur Antwort.
„Ich bin von Natur aus neugierig.“
Moores brummte irgendetwas Unverständliches und schwieg gleich darauf.
Der Zwerg dachte angestrengt nach. Es musste ihm gelingen, seinen Begleiter auf seine Seite zu bringen.
„Sag mal, Moores, du stammst doch auch von den Zwergen ab. Da wäre es deine Pflicht, mich laufen zu lassen, statt zum bösen Fürsten zu schleppen.“
„Ich sehe zwar den Zwergen ähnlich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich auch mit Leib und Seele Zwerg bin und zu den Guten gehören muss.“
Adurich schnalzte mit der Zunge. Vielleicht gelang es ihm, den Grund zu erfahren, weshalb der Gnom den Mächten des Bösen diente.
„Was hat man dir angetan? Weshalb hast du die Sonne gegen die Finsternis getauscht?“
„Das, Adurich, ist eine lange Geschichte.“
„Dann erzähle sie mir. Wir haben Zeit.“
„Nein, dir die ganze Geschichte zu erzählen, dazu drängt es mich nicht, Adurich. Ich mach es kurz: Vor ein paar Jahren war ich bei meinem Volk in Ungnade gefallen. Mein Vergehen tat mir sehr leid. Ich bereute zutiefst, was ich getan hatte, aber der Oberste unserer Sippe hielt es für notwendig, mir eine Strafe aufzuerlegen.“
„Und welche?“, fragte Adurich.
„Ich sollte einen ganzen Monat ohne Essen und Trinken im Wald zubringen. Festgebunden am Stamme eines Baumes.“
„Das war wohl eine harte Strafe“, wandte Adurich ein.
„Ja. Nach der zweiten Woche, es war furchtbar kalt und mir ging es sehr schlecht, kamen ein paar dunkle Gestalten vorüber. Ich bat sie um Hilfe. ‚Was gibst du uns dafür?‘, fragten sie mich und ich bot ihnen meine Dienste an, wenn ich wieder gesund bin. Zu meinem Volk wollte ich nicht mehr zurück. Im Gegenteil, ich sann auf Rache. Nun weißt du den Grund, Adurich.“
Mittlerweile war es fast dunkel geworden. „Lass uns hier übernachten“, bat der Zwerg, „mir tun die Füße weh. Ich kann kaum mehr gehen.“
„Nichts da! Weiter, los!“, befahl Moores, aber Adurich gab nicht auf.
„Was nütze ich euch, wenn ich vor Erschöpfung tot umfalle?“
So gab der hässliche Gnom nach und kurz darauf ließen sie sich im Schutze eines dicken Baumes nieder. Adurich, den trotz seines hohen Alters so leicht nichts umwarf, lächelte in sich hinein und überlegte, wie er Moores überlisten und entkommen konnte. Er dachte angestrengt nach, aber bevor ihm noch ein rettender Gedanke kommen konnte, fiel er nach dem langen Marsch vor Erschöpfung in einen tiefen Schlaf.

Nachdem die Eiche geendet hatte, eilte Kullian in die Höhle zurück. Nun konnte er aus der drohenden Gefahr kein Geheimnis mehr machen und beschloss, alles zu erzählen. Flugs sprang er auf einen Felsvorsprung und ergriff das Wort: „So hört, ihr lieben Waldbewohner, ich habe euch Wichtiges zu sagen!“ Augenblicklich wurde es still und der kleine Elf fuhr fort: „Ein großes Unglück ist geschehen! Adurich, unser Anführer, wurde gefangen, weil unter uns ein Verräter weilt!“ Ein Raunen und Tuscheln ging durch die Höhle und ein jeder war entsetzt. Kullian hob seine Stimme und sagte sehr laut und deutlich: „Nun, Fabius, was hast du uns zu sagen?“ Der Kobold sprang auf und versuchte den Ausgang der Höhle zu erreichen. Geschickt eilten einige Zwerge herbei, bildeten eine Mauer, um den Verräter an seiner Flucht zu hindern.
Verzweifelt versuchte Fabius sich aus den Fängen der Zwerge zu befreien. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich verließen ihn seine Kräfte. Erschöpft sank er auf den Boden. Zwei Zwerge rissen ihn erneut hoch und stellten ihn vor Kullian.
„Was weißt du, Fabius? Was haben die dunklen Mächte mit Adurich vor?“
Fabius schwieg.
„Rede endlich! Oder sollen wir dir erst deine Zunge mit Gewalt lösen?“
Fabius sah sein Gegenüber mit zornigen Augen an. Dann legte sich seine Stirn in Falten. Angestrengt dachte er nach, was er antworten sollte, um der Folter zu entgehen.
Kullian fuchtelte mit einem dicken Holzknüppel vor dem Gesicht des Gefangenen herum.
„Na, wird es bald! Wir haben nicht ewig Zeit!“
„Äh …, ich weiß nichts“, kam es leise über Fabius‘ Lippen. „Ich sollte euch nur in diese Höhle locken. Was anschließend geschehen soll, weiß ich wirklich nicht. Lasst ihr mich jetzt frei?“
„Wie töricht von dir!“ Zornig stampfte Kullian mit dem Fuß auf und hob den Knüppel. „Wie können wir dich frei lassen? Dein erster Weg würde dich zum Fürsten der Dunkelheit führen.“
„Nein!“, rief Fabius. „Mir ist klar, dass ich einen großen Fehler begangen habe. Ich möchte ihn wieder gutmachen. Ich sage euch alles, was ich erfahren habe.“
„Dann lass mal hören! Aber sei gewiss, eine weitere Lüge würde dich das Leben kosten!“, rief ein Zwerg mit erhobener Faust. Fabius räusperte sich und begann zu berichten: „Moores wird Adurich zum Fürst der Dunkelheit bringen. Man will ihn in einen Kerker sperren, um euch zu zwingen, den Märchenwald zu verlassen.“
„Wir müssen Adurich aus den Fängen dieses Scheusals befreien!“, riefen mehrere zugleich. Fabius wich den drohenden Blicken der anwesenden Märchenwaldbewohner aus und starrte beschämt zu Boden. Zaghaft sprach er weiter: „Befreien …? Das wird nicht so einfach sein. Der mächtige Fürst wird von üblen Gestalten beschützt. Wer ihn besiegen will, muss im Besitz des Zauberlichtes sein, nur so verliert er seine Macht.“
„Zauberlicht?“, fragte der kleine Elf verwundert, „davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Ich weiß um das Geheimnis des rettenden Lichtes“, ließ die Fee Nyni verlauten.

„Dann erzähl uns, was du weißt“, riefen alle durcheinander. Nyni blickte vielsagend zu Fabius. „Er weiß eigentlich alles über das Zauberlicht. Ich hingegen weiß nur, dass es hier in dieser Höhle zu finden ist.“
„Nein, nein, ich weiß gar nichts“, schrie der Gnom verzweifelt und schaute ängstlich auf Kullian, der zum Äußersten entschlossen schien. „Sprich, oder deine letzte Stunde hat geschlagen!“, brüllte er so laut, dass es widerhallte. In seiner Todesangst begann Fabius mit zitternder Stimme. „Wenn Moores zu Ohren kommt, dass ich euch alles verraten habe, tötet er mich.“
„Das können auch wir erledigen, gleich jetzt, du Schuft“, drohten die Zwerge und Kullian hielt Fabius den Knüppel so dicht unter die Nase, dass er das Eichenholz förmlich riechen konnte. „Na gut. Es gibt hier am anderen Ende der Höhle ein alles verschlingendes Maul. Schon viele Menschen und Tiere sind unwissend hineingeraten und dienen nun als Sklaven oder Nahrung dem dunklen Fürst. In diesem Maul liegt das Zauberlicht. Um es zu bekommen, muss ein Menschenkind, welches von Seele und Herzen rein ist, eine Zauberformel an einer bestimmten Stelle vor dem Maul aussprechen. Erst dann wird sich das Maul öffnen und das Licht freigeben. Mehr weiß ich wirklich nicht“, jammerte Fabius und fiel um Gnade flehend auf die Knie. „Wer kennt aber die Zauberformel? Wo befindet sich diese Stelle? Und woher kriegen wir ein reines Menschenkind?“, überlegten die Zwerge und redeten alle durcheinander.

Von allen unbemerkt, hatte sich ein kleiner Baumwichtel namens Piwi, Kullian und Fabius genähert. „Ich wüsste, wer uns helfen könnte“, sagte der Wicht und alle schauten ihn an. „Wer denn?“, wollte der Elf wissen. Und Piwi erzählte: „Etwa zwei Fußstunden von hier, ganz in der Nähe unseres Zuhauses, wohnt in einer zerfallenen Hütte Miriam. Sie ist ein Menschenkind und wurde vor vielen Jahren von ihrer Familie verstoßen, weil sie zu klein geraten war. Miriam ist kaum größer als ein Zwerg, aber sie ist ein gutes Mädchen, das unsere Sprache kennt.“
„Worauf warten wir denn? Gehen wir Miriam holen“, rief Kullian laut.
„Nein!“, rief Piwi, „Schaut doch hinaus in die Dunkelheit. Bis morgen in der Früh müssen wir uns schon gedulden und ich schlage vor, dass ich sie allein hole und ihr erkläre, was wir von ihr wollen. Kümmert ihr euch besser um die Zauberformel. Wenn wir die nicht wissen, nützt uns auch das Mädchen nichts.“
„Wir fragen die alte Eiche“, sagte in diesem Moment Nyni und alle stimmten zu.

So schwebte die zarte Fee Nyni dem Ausgang zu. Schon von weitem hörte sie ein fürchterliches Tosen und Rauschen. Draußen herrschte ein gewaltiger Sturm, der stetig an Stärke zunahm. Nyni zitterte am ganzen Körper. Doch sie musste weiter, musste mit der alten Eiche sprechen. Vielleicht wusste der Baum den Zauberspruch.
„Ha … hallo“, flüsterte die Fee. „Ist hier je … jemand?“
Ein lautes Knacken, dem ein dumpfer Aufprall folgte, ließ Nyni zusammenzucken.
„Alte Eiche, bist du das?“
„Ihr sucht den alten Baum vergebens, meine Kleine!“, erhielt sie zur Antwort und eine eiskalte Windböe streifte den Körper der Fee. Sie runzelte ihre Stirn. Das konnte unmöglich die alte, mütterliche Eiche sein, welche geantwortet hatte. Doch wie konnte Nyni herausfinden, mit wem sie sprach? Die Dunkelheit war so undurchdringlich geworden, dass nur ein nebelartiger heller Schweif zu erkennen war, der durch die Bäume huschte.
Nyni nahm all ihren Mut zusammen und rief: „Du bist nicht die alte Eiche!“
„Wohl erkannt, meine Liebe“, antwortete der Nebel und ein kräftiger Windstoß zerrte heftig an Nynis dünnem Seidenkleid, so dass die Fee ins Wanken geriet.
„Wer bist du dann?“
„Das, verehrte Fee, müsst Ihr nicht unbedingt wissen.“ Etwas Bedrohliches, aber auch Geheimnisvolles schwang in der rauen Stimme mit. „Was wollt Ihr von der knorrigen Eiche? Wenn Ihr genau hinseht, werdet Ihr den entwurzelten Baum erkennen.“
Langsam hatten sich Nynis Augen an die Finsternis gewöhnt und sie erblickte einen dicken Baumstamm, der auf dem Boden lag, die Wurzeln herausgerissen.
„Oh“, rief die Fee. „Das warst du. Jetzt sag mir endlich, wer du bist und was du willst!“
„Ich komme vom Fürst der Dunkelheit! Ich bin der Sturm der Stürme und muss verhindern, dass der Märchenwald wieder den Guten gehört!“
Erneut gewann der Wind an Stärke und ließ die Blätter der alten Eiche erzittern. Nyni hatte den Eindruck, als wolle der sterbende Baum noch etwas sagen. Sie traute sich, etwas näher an den Stamm heranzugehen, obwohl es der Sturm ihr erschwerte.
„Schau … meine Wurzeln … Pergament … Zauberspruch.“ Das waren die einzigen Worte, welche Nyni verstehen konnte.
Die Fee tastete sich zu den Wurzeln und entdeckte ein kleines Kästchen, das halb mit Erde bedeckt war. Sie zog es heraus und öffnete es. Sofort erfasste eine erneute Windböe den Inhalt. Doch Nyni reagierte schnell und ließ den Deckel zuschnappen. Fast wäre es dem Sturm der Stürme gelungen, das Papier mit der Zauberformel wegzublasen.
Die kleine Fee presste die Schatulle eng an ihren Körper und eilte damit in die Höhle zurück.

„Seht nur!“, sagte Nyni. „Ich habe die geheime Zauberformel. Damit können wir das magische Licht befreien.“ Piwi trat herbei, nahm die kleine Schatulle und öffnete sie. Sodann entfaltete er das verblichene Pergament und hielt es in die Höhe, um die Formel zu lesen.
„Halt!“, schrie Fabius, „die Worte dürfen nur ein einziges Mal gesprochen werden, sonst verlieren sie ihre Zauberkraft!“ Der Baumwichtel ließ die Arme sinken und legte die winzige Schriftrolle zurück in die Schatulle.
„Wir danken dir, Fabius“, sagte Nyni, „ohne deinen Einwand wären wir verloren gewesen.“
„Ja, ich hoffe, ihr glaubt mir nun, dass ich mein Unrecht wieder gutmachen möchte.“
Kullian trat hervor und sprach: „Wir sollten jetzt nicht länger zögern und das Mädchen holen. Der Sturm wird sich gewiss nicht so bald legen. Ich bin ein Elf, der sich an jeden beliebigen Ort begeben kann. Somit sollte es mir gelingen, Miriam herbeizuholen. Doch werdet ihr einige Zeit auf unsere Rückkehr warten müssen.“
„Nicht wenn du diesen Silberreif nimmst“, unterbrach ihn die kleine Fee. „Lege ihn der Maid um den Kopf und berühre sodann den grünen Smaragd in der Mitte. Augenblicklich wird dieser Reif das Mädchen zu uns bringen.“
Kullian sah seine Mutter an, doch diese erhob keinen Einwand, sondern nickte ihm zu.
Noch ehe sich die anderen Märchenwaldbewohner versahen, entschwand der Elf in einem gleißendem Licht.

Mit den ersten Sonnenstrahlen erhoben sich der kleine hässliche Gnom Moores, treuer Diener des dunklen Fürsten, und sein Gefangener Adurich.
„Es wird Zeit für die letzte Strecke unseres Weges“, sagte Moores und stieß einen schrillen Pfiff aus. Es dauerte keine zwei Sekunden, da drangen die Geräusche von Pferdehufen zu ihnen. Adurich blieb fast der Atem stehen, als er gleich darauf das merkwürdige Tier sah. Es hatte den Körper und die Beine eines Pferdes und den Kopf eines Drachens. Vor Moores und Adurich ging das Wesen in die Knie.
„Los, aufsteigen“, befahl der Gnom.
Dem Zwerg blieb keine andere Wahl und er gehorchte. Das Drachenpferd erhob sich und preschte in Windeseile dem fürstlichen Schloss entgegen.
Je weiter sie flogen, umso mehr verfinsterte sich der Himmel. Schwere Stürme brachten den Drachen ins Schwanken. Bald konnte man kaum noch die Hand vor den Augen sehen.
„Fliegen wir direkt in die Hölle?“, brüllte Adurich gegen den Wind an.
„Das wirst du schon merken, wenn wir angekommen sind.“
Plötzlich erhellte ein gewaltiger Blitz den schwarzen Himmel und ließ die Umrisse einer riesigen Burg erkennen. Sie bestand aus dunklen Steinen, die sich kaum gegen den Himmel abhoben. Ein gewaltiger Donner krachte und ließ Adurich zusammenzucken. Moores hingegen lachte höhnisch.
„Hast wohl Angst, mein Kleiner. Noch ein bisschen Geduld und wir sind am Ziel.“
Das Drachenpferd drehte eine Runde über der Burg und landete schließlich auf dem Burghof.
Moores sprang hinunter und schon liefen die Schergen des Fürsten auf sie zu. Bekleidet mit schwarzen Umhängen und Gesichtsmasken sahen sie zum Fürchten aus.
„Los, mitkommen!“, befahl einer von ihnen und packte Adurich am Arm.
Dem Zwerg blieb nichts anderes übrig als zu folgen.
Sie betraten eine riesige Halle, die mit Feuerfackeln erhellt war. In Zweierreihen standen Soldaten und bildeten eine Gasse, durch die Adurich gestoßen wurde. Am Ende saß auf einem erhöhten Thron der Fürst der Dunkelheit. Mit glühenden Augen blickte er seinem Gefangenen entgegen. Auch er war in einen schwarzen Umhang gehüllt. Sein Gesicht konnte Adurich nicht erkennen, denn es war durch eine Kapuze verdeckt.
„Endlich habe ich dich in meiner Gewalt, Adurich!“, rief er mit tiefer Stimme. „Du wirst dafür sorgen, dass ich Herrscher über das ganze Märchenland werde.“ Schallend lachte er. „Werft ihn in den Kerker!“
Schon griffen starke Arme nach Adurich und zerrten ihn in einen Nebenraum. Von dort führte ein Gang hinunter in ein fensterloses Verlies. Die Soldaten stießen ihn hinein und die Eisentür schlug zu.
Adurich hatte keine Hoffnung mehr, das Märchenland vor dem Fürsten der Dunkelheit zu retten.

Im gleichen Moment, als Moores mit seinem Gefangenen am Ziel angekommen war, erreichte der Elf Kullian die Hütte Miriams.
Das Mädchen beschäftigte sich gerade im Garten und als es kurz aufsah, entdeckte es den kleinen Elf. Bevor es etwas sagen konnte, hub dieser zu sprechen an: „Du bist gewiss Miriam.“
„Ja, das bin ich. Doch sag, wer du bist!“
„Man nennt mich Kullian.“
„Und was führt dich zu mir?“, fragte das Mädchen. Der Elf begann zu erzählen, in welcher Gefahr sich das Märchenland befand. Schließlich endete er mit den Worten: „Ich bitte dich, komm mit mir! Nur du kannst uns retten und den Fürst der Dunkelheit besiegen. Nimm diesen Zauberreif, lege ihn um deine Stirn und berühre den grünen Smaragd. So kannst du mir überallhin folgen.“ Miriam sah den Elf zögernd an. Dann tat sie, wie ihr geheißen.
Noch ehe sie sich versah, fand sie sich in einer Höhle – umgeben von unzähligen Wesen – wieder. Die zahlreichen Geschöpfe waren erleichtert über die Ankunft der kleinen Maid und fielen einer nach dem anderen auf die Knie.
Piwi sprang herbei, nahm das Mädchen bei der Hand und sprach: „Wir danken dir, Miriam, dass du uns helfen willst. Nun müssen wir uns sputen und den Höhlenausgang suchen. Fabius, zeig uns den Weg!“
„Nun denn, so folgt mir!“, sprach der Zwerg und schritt voraus.

Der Weg wurde beschwerlich. Ängstlich zwängten sich die Märchenwaldbewohner durch die schmalen Gänge, bis sie in eine hohe Tropfsteingrotte gelangten, an deren Ende das Maul eines riesigen Ungeheuers zu sehen war. Fabius begann sogleich zu suchen, bis er die besagte Stelle gefunden hatte. Dann forderte er das Mädchen auf, indem er sprach: „Hier im Gestein ist das Symbol der Sonne. Stell dich darauf und du kannst das Maul mit dem Zauberspruch öffnen.“ Miriam nahm das Pergament aus der Schatulle, stellte sich bereit und las die erlösenden Worte:

„Untier ohne Freud und Wonne,
mit der großen Kraft der Sonne,
und des reinen Herzens Macht,
öffne nun dein Maul der Nacht!“

Langsam, und mit einem schauderhaften Geräusch öffnete das Ungeheuer sein Maul. Zum Vorschein kam eine kleine Kerze, deren Licht die ganze Höhle hell erleuchtete. Miriam setzte vorsichtig ihren Fuß in die gruselige Öffnung und nahm die Kerze an sich.

Alle Umstehenden bildeten eine Gasse, sodass sie bis zum Eingang der Höhle gelangte. Dort trat Miriam hinaus in die Dunkelheit. Sofort war der Sturm der Stürme zur Stelle und blies gar kräftig, doch der hellen Flamme machte dies nichts aus. Voller Überzeugung streckte Miriam ihren Arm aus und schickte das Licht in die Finsternis. Diese löste sich sofort zusehends auf und machte wohlig warmen Sonnenstrahlen Platz. Schneller, immer schneller breitete sich das Licht der Kerze aus, bis es schließlich auch das Schloss des dunklen Fürsten erreichte.

Dort haderte Adurich mit dem Schicksal, glaubte er doch, das Märchenland sei längst verloren. Plötzlich bemerkte er einen schwachen Schein, der immer stärker wurde. Schließlich wurde er zu einem gleißend hellen Licht, das ihn die Augen schließen ließ. Als er sie wieder öffnete, war das Schloss um ihn herum verschwunden und er saß auf einer grünen Wiese. Überglücklich machte er sich auf den Weg zurück in die Höhle, wo er von den anderen Zwergen, Elfen und übrigen Märchenwaldbewohnern schon sehnlichst erwartet wurde. Gemeinsam mit Miriam feierten sie ein großes Fest. Sie wurde aus Dankbarkeit für ihre Hilfe in die Gemeinschaft der Märchenwaldbewohner aufgenommen und wohnte mit Piwi gemeinsam in einer neuen, schönen Hütte. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute dort.

Quelle: Gemeinsschaftswerk von Abingdon, bambu, Brigitte, Goldfee, Märchenliese (Doris), Schneewittchen

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