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Märchenbasar

Richilde

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Wie der fromme Pilger seinem Gelübde Genüge geleistet und seiner Gewohnheit nach in den Armenstock eine milde Gabe geopfert hatte, frug er den Bruder Küster, warum die Kapelle schwarz behangen sei und was das castrum doloris bedeute? Dieser erzählte ihm der Länge nach alles, was sich zugetragen hatte mit der schönen Blanca, durch die boshaften Ränke ihrer Stiefmutter. Darüber verwunderte sich Gottfried gar höchlich und sprach: „Ist’s vergönnt, den Leichnam des Fräuleins zu schauen, so führet mich zur Gruft. So Gott will, mag ich sie wohl wieder ins Leben rufen, wenn anders ihre Seele noch in ihr ist. Ich trage eine Reliquie, vom Heiligen Vater verehrt, bei mir, das ist ein Splitter vom Stab Elisä des Propheten, die zerstöret die Zauberei und widerstehet auch allen sonstigen Eingriffen in die Gerechtsame der Natur.“ Der Küster rief eilends die wachsamen Zwerge herbei, und da sie hörten die Worte des Pilgers, freuten sie sich sehr, führten ihn hinab in die Gruft, und Gottfried ward entzückt über den Anblick des schönen alabasternen Bildes, welches er durchs Glasfenster im Sarg erblickte. Der Deckel wurde abgehoben, er hieß das leidtragende Gesinde hinausgehen bis auf die Zwerglein, brachte seine Reliquie hervor und legte sie auf das Herz der Erstorbenen, nach wenigen Augenblicken verschwand die Erstarrung, und Geist und Leben kehrten in den erblassten Körper zurück. Das Fräulein verwunderte sich über den holden Fremdling, den sie neben sich erblickte, und die hocherfreuten Zwerge hielten den Wundermann für einen Engel vom Himmel. Gottfried sagte der Erwachten an, wer er sei und die Ursach seiner Wallfahrt, und sie berichtete ihm dagegen ihre Schicksale und Verfolgungen der grausamen Stiefmutter. „Ihr werdet“, sprach Gottfried, „den Nachstellungen der Giftspinne nicht entgehen, sofern Ihr nicht meinem Rate folgt. Verweilt noch eine Zeitlang in dieser Gruft, damit es nicht ruchbar werde, dass Ihr lebet. Ich will meine Wallfahrt vollenden und bald wiederkommen. Euch nach Ardenne zu meiner Mutter zu führen und, so ich’s enden mag, an Eurer Mörderin Euch rächen.“ Der Rat gefiel der schönen Blanca wohl, der edle Pilger verließ sie und sprach draußen zu dem herzudringenden Gesinde mit verstellten Worten: „Der Leichnam Eurer Herrschaft wird nimmer wieder erwarmen, die Quelle des Lebens ist versiegt, hin ist hin, und tot ist tot!“ Die treuen Zwerge aber, die um die Wahrheit wussten, hielten reinen Mund, versorgten ihr Fräulein insgeheim mit Speise und Trank, hüteten übrigens des Grabes wie vorher und harrten auf die Wiederkehr des frommen Pilgers.
Gottfried sputete sich, nach Ardenne zu gelangen, umarmte seine zärtliche Mutter, und weil er müde war von der Reise, legte er sich zeitig zur Ruhe und schlief mit dem Gedanken an Fräulein Blanca flugs und fröhlich ein. Da erschien ihm sein Vater im Traum mit heiterem Angesicht, sprach, er sei aus dem Fegfeuer erlöset, erteilte dem frommen Sohn den Segen und verhieß ihm Glück zu seinem Vorhaben. Am frühen Morgen rüstete Gottfried sich ritterlich, nahm seine Reisigen zu sich, beurlaubte sich von der Mutter und saß auf. Wie er seine Reise nun bald vollendet hatte und in der Mitternachtsstunde das Totenglöcklein im Schloss der schönen Blanca tönen hörte, saß er ab, zog sein Pilgerkleid über den Harnisch und verrichtete seine Andacht in der Kapelle. Die spekulierenden Zwerge hatten kaum den knienden Pilger am Altar wahrgenommen, so liefen sie hinab in die Gruft, ihrer Gebieterin die gute neue Mär zu verkünden. Sie warf ihr Sterbegewand von sich, und sobald die Metten vorbei war und Meßner und Küster aus der frostigen Kirche nach dem warmen Bett eilten, stieg das reizende Mädchen herauf aus der Totengruft, mit fröhlichem Herzklopfen, wie am Tage der letzten Posaune die Seligen aus der dunkeln Grabeshöhle zum Leben hervorgehen werden. Da sich aber das tugendsame Fräulein in den Armen eines jungen Mannes sah, der sie davonführen wollte, kam sie Grausen und Entsetzen an, und sie sprach mit verschämtem Angesicht: „Bedenket, was Ihr tut, junger Mann, fraget Euer Herz, ob es aufrichtig oder ein Schalk ist; täuscht Ihr das Vertrauen, das ich zu Euch hege, so wisset, dass Euch die Rache des Himmels verfolgen wird.“ Der Ritter antwortete bescheidentlich: „Die heilige Jungfrau sei Zeuge der Lauterkeit meiner Gesinnung, und der Fluch des Himmels treffe mich, wenn ein sträflicher Gedanke in meiner Seele ist.“ Darauf schwang sich das Fräulein getrost aufs Ross, und Gottfried geleitete sie sicher nach Ardenne zu seiner Mutter, welche sie mit innigster Zärtlichkeit empfing und mit solcher Sorgfalt pflegte, als wäre sie ihre leibliche Tochter. Bald entwickelten sich die sanften sympathetischen Gefühle der Liebe in dem Herzen des jungen Ritters und der schönen Bianca. Die Wünsche der guten Mutter und des ganzen Hofes vereinbarten sich, das schöne Bündnis des edlen Paares durch das heilige Sakrament der Ehe, je eher, je lieber, versiegelt zu sehen. Aber Gottfried gedachte, dass er seiner Braut Rache gelobet hätte. Mitten unter den Zubereitungen zum Beilager verließ er seine Residenz und zog nach Brabant zur Gräfin Richilde, die noch immer mit ihrer zwoten Wahl beschäftiget war und, weil sie den Spiegel nicht mehr ratfragen konnte, damit nie zustande kam.
Sobald Gottfried von Ardenne am Hof erschien, zog seine schöne Gestalt die Augen der Gräfin auf sich, dass sie ihm vor allen Edlen den Vorzug gab. Er nennte sich den Ritter vom Grabe, und das war das einzige, was sie an ihm auszusetzen fand; sie wünschte ihm einen gefälligem Beinamen, denn das Leben hatte für sie noch so viele Reize, dass ihr der Gedanke vom Grabe immer schauderhaft auffiel. Inzwischen erklärte sie sich den Beinamen des Ardenners vom Heiligen Grabe, meinte, er sei irgend nach Jerusalem gewallfahrtet und sei Ritter vom Heiligen Grabe, und so ließ sie es ohne weitere Nachforschung dabei bewenden. Nachdem sie mit ihrem Herzen über die aufkeimende Leidenschaft Rücksprache genommen hatte, fand sie, dass unter der gesamten Ritterschaft, die darinnen aus- und einzog, Ritter Gottfried prädominiere, deshalb legte sie’s darauf an, ihn durch die verführerischen Netze der Koketterie zu bestricken. Durch die Kunst wusste sie die Reize der Jugend wieder aufzufrischen, die abgeblühten zu verbergen, oder mit dem kunstreichen Gewebe feinsten Brabanter Spitzen zu bedecken. Sie unterließ dabei nicht, ihrem Endymion die anlockendsten Avancen zu machen und ihn auf alle Art zu reizen, bald in dem prunkvollen Gewand, das ehemals Dame Juno an einem Galatage im hohen Olymp selbst nicht reicher tragen konnte; bald im verführerischen Neglige einer leichtgeschürzten Grazie; bald bei einem tête-à-tête im Lustgarten, am Springbrunnen, wo marmorne Najaden aus ihren Urnen einen Silberstrom ins Bassin rauschen ließen; bald bei einer traulichen Promenade Hand in Hand, wenn der freundliche Mond sein falbes Licht durch die dunkeln Bogengänge des ernsten Taxus goss; bald in der schattigen Laube, wenn ihre melodische Hand dem horchsamen Ritter die weichsten Akkorde ins Herz zu lautenieren gedachte.
Mit scheinbarem Enthusiasmus umfasste Gottfried einsmals bei einer solchen empfindsamen Entrevue der Gräfin Knie und sprach: „lasst ab, holde Grausame, durch Euren mächtigen Zauber mein Herz zu zerreißen und schlafende Wünsche aufzuwecken, die mir das Hirn verwirren: Lieb‘ ohne Hoffnung ist bittrer denn der Tod.“ Sanft lächelnd hob ihn Richilde mit ihren schwanenweißen Armen auf und gegenredete mit süßer Suada also: „Armer Hoffnungsloser, was macht Euch mutlos? Seid Ihr so ungelehrig, die Sympathien der Liebe, die aus meinem Herzen Euch entgegenwallen, zu empfinden oder darauf zu achten? Wenn Euch die Sprache des Herzens unverständlich ist, so nehmt das Geständnis der Liebe von meinem Munde. Was hindert uns, das Schicksal unsers Lebens auf ewig zu vereinbaren?“ – „Ach“, seufzte Gottfried, indem er Richildens sammetweiche Hand an die Lippen drückte, „Eure Güte entzückt mich; aber Ihr kennet nicht das Gelübde, welches mich bindet, keine Gemahlin als von der Hand meiner Mutter zu empfangen und diese gute Mutter auch nicht zu verlassen, bis ich die letzte Kindespflicht erfüllet und ihr die Augen zugedrückt habe. Könnet Ihr Euch entschließen, teure Gebieterin meines Herzens, Euer Hoflager zu verlassen und mir nach Ardenne zu folgen, so wär mein Los das glücklichste auf Erden.“ Die Gräfin bedachte sich nicht lange, sie willigte in alles, was ihr Inamorato begehrte. Der Vorschlag, Brabant zu verlassen, behagte ihr im Grunde eben nicht, noch weniger die Schwiegermutter, die ihr eine lästige Zulage zu sein schien; allein die Liebe überwindet alles.
Mit großer Behändigkeit wurde der Brautzug veranstaltet, das Personale des glänzenden Gefolges ernennt, darunter auch der Hofarzt Sambul paradierte, ob ihm gleich der Bart und beide Ohren mangelten. Die schlaue Richilde hatte ihn der Banden entlediget, auch ihm huldreich die Ehre der ehemaligen Favoritenschaft wieder angedeihen lassen, denn sie gedachte sich seiner zu bedienen, die Schwiegermutter gelegentlich aus der Welt zu schaffen, um mit ihrem Gemahl nach Brabant zurückzukehren. Die ehrwürdige Matrone empfing ihren Sohn und die vermeintliche Schnur mit hofmäßiger Etikette, schien die getroffene Wahl des Ritters vom Grabe höchlich zu billigen, und es wurde alles fördersamst in Bereitschaft gesetzt, das Beilager zu vollziehen. Der feierliche Tag erschien, und Dame Richilde, geschmückt wie die Königin der Fayen, trat in den Saal, wo sie zur Trau geführt werden sollte und wünschte, dass die Stunden Flügel hätten. Indessen kam ein Edelknabe herbei und raunte mit bedenklicher Miene dem Bräutigam etwas ins Ohr. Gottfried schlug mit scheinbarem Entsetzen die Hände zusammen und sprach mit lauter Stimme: „Unglücklicher Jüngling, wer wird an deinem Ehrentage den Brautreihen mit dir anheben, da eine mörderische Hand deine Geliebte gemordet hat?“ Hierauf wendete er sich zur Gräfin und sprach: „Wisset, schöne Richilde, dass ich zwölf Jungfrauen ausgesteuert habe, die mit mir zum Traualtar gehen sollten, und die Schönste darunter ist aus Eifersucht von einer unnatürlichen Mutter gemordet; sprecht, welche Rache diese Schandtat verdiene?“ Richilde, unwillig über einen Zufall, der ihre Wünsche aufzuhalten oder doch die Freude des Tages zu mindern schien, sprach mit Unwillen: „O der schaudervollen Tat! Die grausame Mutter verdiente, an der Gemordeten Stelle den Brautreihen mit dem unglücklichen Jüngling in glühenden eisernen Pantoffeln anzuheben, das würde Balsam für die Wunde seines Herzens sein, denn die Rache ist süß wie die Liebe.“ – „Ihr urteilet recht“, erwiderte Gottfried, „Amen, es geschehe also!“ Der ganze Hof applaudierte der Gräfin wegen des gerechten Urteils, und die Witzlinge vermaßen sich hoch und teuer, die Königin aus dem Reich Arabien, die zu Salomon gewallfahrtet war, Weisheit zu holen, hätte es nicht besser sprechen mögen.
In dem Augenblicke flogen die hohen Flügeltüren des Nebengemachs auf, wo der Traualtar zugerichtet war. Darin stund der weibliche Engel, Fräulein Blanca, mit herrlichem Brautschmuck angetan; sie stützte sich auf eine der zwölf Jungfrauen, als sie die fürchterliche Stiefmutter erblickte, und schlug scheu die Augen nieder.
Richildens Blut erstarrte in den Adern, wie vom Blitz gerührt sank sie zu Boden, ihre Sinne umnebelten sich, und sie lag starr im Hinbrüten. Aber die Riechfläschgen der Höflinge und Damen gossen einen so kräftigen Platzregen von Lavendelgeist über sie, dass sich wider Willen ihre Lebensgeister ermunterten. Darauf hielt der Ritter vom Grabe einen Sermon an sie, davon ihr jedes Wort durch die Seele schnitt, und führte die schöne Blanca zum Altar, wo der Bischof in pontificalibus das edle Paar zusammengab, nebst den zwölf ausgesteuerten Jungfrauen mit ihren Geliebten.
Wie die geistliche Zeremonie geendigt war, ging der gesamte Brautzug in den Tanzsaal. Die künstlichen Zwerge hatten indessen mit großer Behändigkeit ein Paar Pantoffeln von blankem Stahl geschmiedet, stunden am Kamin, schürten Feuer an und glühten die Tanzschuhe hochpurpurrot. Da trat hervor Gunzelin, der knochenfeste gaskonische Ritter, und forderte die Giftnatter zum Tanz auf, den Brautreihen mit ihr zu beginnen, und ob sie sich gleich diese Ehre höchlich verbat, so half doch kein Bitten noch Sträuben. Er umfasste sie mit seinen kräftigen Armen, die Zwerglein schuheten ihr die glühenden Pantoffeln an, und Gunzelin schliff mit ihr einen so raschen Schleifer längs dem Saal hinab, dass der Erdboden rauchte und ihre zarten, wohlgeratenen Füße kein Hühnerauge mehr quälte, dazu waldhornierten die Musikanten so herzhaft, dass alles Gewinsel und Wehklagen in die rauschende Musik verschlungen ward. Nach unendlichen Wirbeln und Kreisen drehte der flinke Ritter die erhitzte Tänzerin, welche noch nie ein Schleifer so heiß gemacht hatte, zum Saal hinaus, die Stiegen hinab in einen wohlverwahrten Turm, wo die büßende Sünderin Zeit und Muße hatte, Pönitenz zu tun. Sambul der Arzt aber kochte flugs eine köstliche Salbe, welche die Schmerzen linderte und die Brandblasen heilte.
Gottfried von Ardenne und Blanca lebten in einer paradiesischen Ehe und belohnten reichlich den Arzt Sambul, der wider Gewohnheit seiner Kollegen nicht tötete, wo er’s durfte. Auch ward ihm sein Biedersinn oben im Himmel zum Segen angeschrieben; sein Geschlecht blüht noch in späten Enkelsöhnen. Einer seiner Nachkommen, der Jud Samuel Sambul, steht hocherhaben wie eine Zeder im Hause Israel, dienet Seiner mauritanischen Majestät, dem König in Marokko, als erster Minister und lebet, einige Bastonaden auf die Fußsohlen abgerechnet, in Glück und Ehre bis auf diesen Tag.

Quelle
(Johann Karl August Musäus)

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