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Schwer ist es, sich selbst zu kennen

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Es war einmal ein mächtiger König, der von Geburt eine sehr grosse Nase hatte, und wie wohl er wusste, dass ihn dieselbe entstelle, bildete er sich doch immer ein, dass es blosser Schein sei. Die Unterthanen und andere, die er hierüber befragte, versicherten ihn, dass ihm die Nase gut stehe. Wer würde sich auch getrauen, einem Höheren über derlei Sachen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen?
Zu eben derselben Zeit lebte in dieser Stadt auch eine buckelige Frau, der es jedoch Schmeichler beteuerten, dass sie die erste Schönheit der Stadt sei. Als diese Frau einmal mit irgend jemandem einen Prozess hatte, ging sie zum Könige, dass er ihr Recht spreche. Da die Sache jedoch nicht nach ihrem Wunsche ging, machte sie ihren Bitten ein Ende und rief: »Weh‘ mir, welche Nase!« – Der König erwiderte hierauf nicht, sondern stellte sich, als hätte er nichts gehört. Als die buckelige Frau solches bemerkte, wandte sie ihren Blick vom Könige weg und schrie, wie wenn sie erschrocken wäre: »Wunder! eine ähnlich grosse und hässliche Nase habe ich noch nie gesehen!« – Der König wollte nun nicht mehr schweigen, sondern antwortete: »Frau! weisst Du auch, dass Du ein Wundergeschöpf bist? Während Dir meine Nase ungewöhnlich erscheint, vergisst Du auf den Fleischhügel, den Du auf den Rücken trägst.« – Die Frau errötete und machte sich schweigend davon. Als der König sich ohne Zeugen wusste, trat er vor den Spiegel, blickte in denselben mit weniger Wohlgefallen denn gewöhnlich und sprach: »Es ist doch keine Lüge, was irgend jemand gesprochen, dass es keine leichte Sache sei, sich selbst zu kennen.«
Der Mensch lacht über den Menschen, und der Teufel über beide. Der Teufel spottet der schwarzen Taube und vergisst darüber sich selbst. Den Mund der Welt verstopft nur die Erde.

[Ukraine: Raimund Friedrich Kaindl: Ruthenische Märchen und Mythen aus der Bukowina]

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