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Märchenbasar

Wem gebührt der Preis?

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Es war einmal eine alte Witwe, die hatte vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter. Die Söhne waren eine Augenweide, und die Tochter war noch schöner. Weit und breit gab es kein schöneres Mädchen. Wer sie auch nur einmal gesehen hatte, der vergaß sie nie im Leben. Die Mutter und die Brüder liebten das Mädchen sehr und hüteten es wie ihren Augapfel. Die Brüder waren Jäger, stark und kühn, scharfsichtig und gewandt, und kehrten nie ohne reiche Beute heim.
Einmal brachen die Brüder zu einer fernen Jagd auf verschiedenerlei Tiere auf, um sich für den Winter mit Fleisch zu versorgen und warme Pelze für Mutter und Schwester zu beschaffen. Sie aßen saure Milch, nahmen eine Hammelkeule mit, verabschiedeten sich von den Ihren und gingen davon. Mutter und Tochter blieben allein zurück. Abends verließ die Alte das Zelt, um nach der Wirtschaft zu sehen. In diesem Augenblick flog ein fürchterlicher Mus ins Zelt und trug das schöne Mädchen davon. Als die Mutter zurückkehrte, fand sie das Zelt leer. Soviel die Alte auch suchte, sie fand die Tochter nicht. Da erriet sie, was vorgefallen war, warf sich auf die Erde und weinte bitterlich die ganze Nacht hindurch.
Am nächsten Morgen kehrten die Brüder von der Jagd zurück, zufrieden und guter Dinge. Die Mutter wartete vor dem Zelt. Wie sollte sie ihnen das Unglück kundtun? Sie rief die Söhne heran, begrüßte sie und sagte: ,,Meine lieben Söhne! Ihr seid kühn wie euer Vater, stark und gewandt. Und an Güte und Aufrichtigkeit steht ihr ihm nicht nach! Doch Kummer sucht auch brave Menschen heim. Ich, eure Mutter, möchte wissen, was jeder von euch vermag, wenn Hilfe nötig ist.“
Der älteste Sohn sagte: „Auf der ganzen Welt gibt es kein Ding, das ich nicht finden könnte. Ich sehe die Nadel in der Steppe und könnte sogar ein Korn auf dem Meeresgrunde, hinter einer Mauer oder in einer Truhe mit sieben Schlössern entdecken.“ — „Und ich kann einen Vogel in beliebiger Höhe in der Luft auf den ersten Schuß erlegen, ich treffe selbst einen Regentropfen unter der Wolke“, sagte der mittlere Sohn. Nun ließ sich auch der jüngste vernehmen: „Ich vermag alles und jedes mit meinen Händen aufzufangen und festzuhalten. Ich könnte nicht nur einen stürzenden Stein, sondern einen ganzen Felsen auffangen. Würde ein Berg vom Himmel fallen, ich finge ihn auf, ohne daß ein Erdbrocken zu Boden fiele.“
Da schloß die Mutter ihre Söhne in die Arme und erzählte ihnen, was geschehen war. „Ich habe die Tochter und ihr habt die Schwester verloren. Wehe uns, meine Söhne! Findet geschwind eure liebe Schwester, und vergebt mir alten Frau, dah ich die einzige Tochter so schlecht behütet habe.“
Da fiel den Brüdern alles aus den Händen, Waffen und Beute. Sie hatten keine Schwester mehr. Der Älteste sprach zuerst: „Mit Tränen ist nichts getan, wir wollen keine Zeit verlieren. Laßt uns von der Mutter Abschied nehmen und in die weite Welt hinausziehen. Ehe wir die Schwester nicht gefunden haben, kehren wir nicht zurück. Wenn wir nur zurechtkommen, bevor der Mus sie gefressen hat!“
Damit brachen sie auf.
Ehe ein Tag verging, hatte der älteste Bruder die Wolke erspäht, in der sich der Mus verbarg. Da zielte der mittlere Bruder, spannte die Sehne so straff, daß die beiden Enden des Bogens sich berührten, und entsandte seinen singenden Pfeil in die Höhe. Der Pfeil bohrte sich dem Mus mitten ins Herz und tötete das böse Ungeheuer. Der Mus ließ das Mädchen fallen. Wie ein Stein stürzte sie in die Tiefe. Aber als sie nur noch einen dreiviertel Schritt über der Erde war, fing sie der jüngste Bruder auf und setzte sie unversehrt auf die Füße.
Die Kunde davon, wie die Brüder ihre Schwester aus der Not erlöst, sie vor dem Mus gerettet hatten, verbreitete sich über die ganze Erde. Die ältesten und weisesten Männer kamen aus den Dörfern zusammen, um denjenigen Bruder zu belohnen, der es am meisten verdiente. „Der mittlere Bruder muß belohnt werden, er hat den Mus getötet“, sagten die einen. „Nun wenn schon! Hätte der älteste Bruder den Mus nicht gefunden, könnte der mittlere nicht auf ihn schießen“, widersprachen die anderen. „Der jüngste Bruder hat den Preis verdient“, ereiferten sich die dritten. „Ohne ihn hätte sich das Mädchen zu Tode gestürzt, daran hätten die beiden anderen Brüder nichts ändern können.“ — „Der jüngste Bruder hätte sie aber nicht auffangen können, würden die beiden andern nicht den Mus gefunden und getötet haben; der Mus hätte das Mädchen längst gefressen, und der jüngste Bruder müßte sein Leben lang nach der Schwester suchen, bis er selbst gestorben wäre“, hielten ihnen die vierten entgegen.
So streiten die Weisen bis heute und können nicht entscheiden, welcher der Brüder den Preis verdient hat. Und was glaubst du? Einem Märchen zuhören kann jeder. Hilf du die Frage entscheiden, welcher Bruder belohnt werden soll.
Alle drei? Nein, das geht gegen die Regel. Da erheben die Weisen Einspruch. Nur einer darf belohnt werden. Aber wer?

Quelle:
(kalmückisches Märchen)

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