„Komm, Hörnerstierchen, Eichbaum erblühe, Goldfäden ziehe!“
Und sofort kam der junge Stier angelaufen, begann mit seinen Hörnern gegen die Eiche zu stoßen, und das Mädchen hatte sogleich Essen, Trinken und alles, was es auf der Welt gibt. Das spielte sich jeden Tag so ab, doch die Stiefmutter war neugierig geworden, wovon das Mädchen wohl lebte, und so befahl sie eines Tages ihrer eigenen Tochter, das Vieh auf die Weide zu treiben, um zu sehen, ob ihre Tochter auch ohne Essen auskäme. Diese hatte einmal gehört, wie die Stiefschwester den jungen Stier gerufen hatte. Als sie also das Vieh auf die Weide getrieben hatte, versuchte sie, den Stier ebenso zu rufen. Der Stier kam angelaufen, aber statt seiner Hörner in die Eiche zu stoßen, begann er, sie selbst mit seinen Hörnern zu stoßen. Abends trieb die Tochter das Vieh nach Hause und beklagte sich mächtig. Die Mutter wurde wütend, dass der junge Stier ihre Tochter so zugerichtet hatte, und verkaufte ihn den Juden zum Schlachten. Die Juden kauften den Stier. Als die Stieftochter davon erfuhr, begann sie bitterlich zu weinen und zu klagen und brachte ihm, bevor er geschlachtet wurde, in einem Bottich etwas Molke. Als der junge Stier sah, dass das Mädchen so großes Mitleid mit ihm hatte, bat er sie, nicht um ihn zu weinen, und sagte: „Wenn mich die Juden geschlachtet haben, so bitte sie um meine Därme. Wenn du sie ausspülst, wirst du darin etwas finden.“
Nachdem sie ihn geschlachtet hatten, gaben sie ihr die Därme. Sie ging damit ans Wasser, spülte sie und fand in ihnen einen goldenen Apfel; sie steckte ihn in ihren Busenausschnitt und ging nach Hause. Doch unterwegs musste sie erst über einen, dann über einen zweiten und schließlich über einen dritten Zaun steigen. Als sie sich über den letzten Zaun beugte, rollte ihr der Apfel aus dem Busenausschnitt und fiel ins Gras. Sie begann ihn zu suchen, suchte und suchte, konnte ihn aber nicht finden und kehrte weinend nach Hause zurück. Am nächsten Tag ging sie an die gleiche Stelle, an der sie den Apfel verloren hatte, und stellte staunend fest, dass dort über Nacht ein ganz herrlicher Apfelbaum gewachsen war, an dem so viele Äpfel hingen, dass sich seine Zweige bogen. Sie pflückte sich so viele Äpfel, wie sie wollte, aß sich daran satt und tat es jeden Tag. So ernährte sie sich nur von Äpfeln.
Eines Tages fuhr ein Prinz vorüber. Da ihm ein so herrlicher Duft von Äpfeln entgegenkam, ließ er seinen Vorreiter halten und befahl dem Lakai, ihm einige Äpfel zu pflücken. Der Lakai ging zu dem Apfelbaum und erblickte die schönen Äpfel, die ihn geradezu anlachten, und wollte anfangen zu pflücken. Doch da erhob sich der Apfelbaum mitsamt den Äpfeln in die Höhe. Er stutzte, ging zum Prinzen und erzählte ihm, was geschehen war. Der Prinz wollte ihm nicht glauben und sagte: „Das kann doch nicht sein!“ „Möge sich der erlauchteste Prinz selbst überzeugen“, empfahl der Lakai. Der Prinz ging also zum Apfelbaum und sah, dass der Lakai die Wahrheit gesagt hatte, denn auch er konnte keinen Apfel pflücken. Unweit von diesem Apfelbaum stand die Bauernkate, in der jene Mutter mit Tochter und Stieftochter wohnte. Der Prinz befahl also, jemanden aus der Kate zu holen, damit man ihm die Äpfel pflückte. Sobald dies die Mutter hörte, freute sie sich sehr, putzte ihre Tochter heraus, wie sie nur konnte, und schickte sie zum Apfelbaum, doch als sie dicht an ihn herangekommen war, hob sich der Apfelbaum sogleich in die Höhe. Dann kam die Mutter selbst, und es geschah das gleiche. Da fragte der Prinz: „Gibt es niemanden mehr in der Kate?“ „Nein, niemanden mehr, nur eine ist noch da, die läuft in einem Schweinepelz herum.“ „Ruft auch diese Person“, sagte der Prinz, „auch sie soll versuchen, die Äpfel zu pflücken!“ Das arme Mädchen kam also zu dem Apfelbaum, und schon bogen sich ihre Zweige ihr entgegen. Sie pflückte einige Äpfel und brachte sie in einem Tüchlein dem Prinzen. Der Prinz nahm die Äpfel von ihr an, fasste das Mädchen an der Hand, setzte sie neben sich in die Karosse und fuhr davon. Aber der Apfelbaum schwebte bis zur Tür der Karosse, blieb davor und wanderte ständig mit.
Danach heiratete der Prinz dieses Mädchen, und sie hatten ein Kind miteinander.
Eines Tages fuhr der Prinz zur Jagd. Die Prinzessin bat ihn daher um Erlaubnis, ihre Stiefmutter zu besuchen. Er erlaubte ihr dies, und sie fuhr hin. Als ihre Stiefmutter sie sah, fing sie sogleich an, sie auszufragen: welches Zimmer sie bewohne, welche Diener und welche Kleider sie hätte, in was für einer Wiege das Kind läge. Nachdem sie alles Wissenswerte von ihr erfahren hatte, erschlug sie die Stieftochter, streifte dann ihrer eigenen Tochter die Gewänder über und schickte sie zu dem Prinzen. An der Stelle, an der die Stiefmutter ihre Stieftochter begraben hatte, blieb der Apfelbaum stehen und vertrocknete.
Nicht lange danach klopfte es Nachts an die Fenster des Schlosses, und jemand begann zu singen: „Küchenmeister, Küchenmeister!
öffne mir das Fensterchen, dann stille ich mein Kindchen.
Und schlafen die Hunde unter der Küchenbank, und schläft mein Herr mit dieser Magd?“ Der Küchenmeister antwortete, die Hunde schliefen, der Herr aber schlafe nicht mit seiner Dienstmagd. Er öffnete das Fenster, sah, dass eine Gestalt hineinschlüpfte, das in der Wiege liegende Kind stillte und dann wieder verschwand. In der nächsten Nacht wiederholte sich alles wie in der Nacht zuvor. Der Koch war darüber sehr verwundert und berichtete alles dem Prinzen.
In der dritten Nacht legte sich der Prinz nicht schlafen, sondern setzte sich in einen Sessel und sagte zu dem Koch: „Lege dich unter den Sessel, und wenn du öffnest und sie kommt herein, so ergreife sie rasch am Haarzopf und wickle ihn dir um die Hand.“ Der Koch befolgte den Weisungen. Als die Gestalt hereinkam, fasste er sie von hinten am Zopf und begann, während er ihn sich um sein Handgelenk wickelte, zu reden: „Werde wieder das, was du warst! Werde wieder das, was du warst!“ Sie versuchte sich loszureißen, sich zu entwinden, verwandelte sich in verschiedene Reptilien, Vögel, Tiere, Kühe, Hunde und alles, was es sonst auf der Welt gibt, doch schließlich verwandelte sie sich in die Prinzessin, in die Stieftochter jener Stiefmutter, bekleidet nur mit einem Hemd, so wie sie von ihrer Mutter erschlagen worden war.
Nun kam alles ans Tageslicht; zu dem Prinzen, er war inzwischen König geworden, kamen viele Ratgeber und diese schickten nach der Stiefmutter und fragten sie, welches Urteil sie über ein Weib sprechen würde, das dies und das begangen habe. Da antwortete sie, dass man ein solches Weib mit eisernen Eggen auf dem Feld auseinanderreißen sollte, der Tochter aber sollte man nur eine Hand abschlagen. So geschah es dann auch, und die getötete Prinzessin wurde alsbald so lebendig wie zuvor, ja, und war nun auch eine richtige Königin.
Quelle: Märchen aus Polen – Chelchowski