„Also dann, mach’s gut und pass gut auf dich auf!“ Traurig sah der kleine Drache zu, wie nun auch die letzte seiner Schwestern das elterliche Nest verließ und sich auf den Weg machte, um erwachsen zu werden.
Er wusste nicht, wie lange er schon am Nestrand gestanden hatte, als Syra – seine Mutter – von der Futtersuche wieder zurückkam. Als sie Drago so stehen sah, tat er ihr furchtbar leid. Von Geburt an war er anders gewesen, als seine Geschwister. Sein Ei hatte ganz am Rande des Nestes gelegen. Kaum war er geschlüpft, als er auch schon über den Rand rutschte und beinahe den steilen Berg hinunterfiel. Syra hatte ihn gerade noch am Schwanz packen können.
Seitdem hatte Drago Angst vor der Tiefe. Er traute sich kaum über den Nestrand zu sehen. Und wenn er es tat, wurde ihm so schwindlig, dass er gleich wieder ein paar Schritte zurücktrat. Aus diesem Grund hatte er natürlich auch nie fliegen gelernt. Seine Geschwister hatten ihn immer etwas geärgert und versucht, ihn durch Sticheleien dazu zu bringen, sich endlich aus dem Nest zu schwingen – doch vergeblich.
Nur Syra hatte nie versucht, ihn zum Fliegen zu drängen. Auch jetzt nahm sie ihn einfach in ihre Arme und zog ihn liebevoll zu sich her. „Mach dir nichts draus, mein Kleiner. Glaub mir, eines Tages kannst du fliegen. Und dann wirst du der Beste von allen sein.“
Der kleine Drache sah mit Tränen in den Augen auf und kuschelte sich an seine Mutter. Daraufhin fing Syra an, ihm von Jothena zu erzählen. Jothena war ein sehr alter und weiser Drache. Manche Leute sagten sogar, er sei der weiseste und klügste Drache der Welt. Aber das sei nicht immer so gewesen. Vor langer, langer Zeit hätte Jothena vor allem und jedem Angst gehabt. Aber dann sei etwas geschehen, das ihn seine ganze Angst vergessen ließ. Kurz darauf allerdings habe er sich in seine Höhle zurückgezogen und niemand wusste, wo er sich nun aufhielt.
Gebannt hatte Drago zugehört. Der klügste und tapferste Drache der Welt. Das klang gut. >Bestimmt könnte er mir auch zeigen, wie man seine Angst verliert<, dachte der kleine Drache bei sich. Und noch während er darüber nachdachte, schlief er ein.
Er träumte, dass er vor einer großen Höhle stand. Auf einmal kam ein steinalter Drache heraus, berührte seine Brust und sagte zu ihm, dass er von jetzt an fliegen könnte. Der kleine Drache breitete daraufhin seine Flügel aus – und tatsächlich – er konnte fliegen.
Ruckartig setzte Drago sich auf und sah sich um. Traurig erkannte er, dass er immer noch in seinem gewohnten Nest saß und seine Mutter friedlich neben ihm schlief. Da beschloss Drago, sich auf die Suche nach Jothena zu machen. Er war fest entschlossen, endlich fliegen zu lernen.
Vorsichtig, trat er an den Nestrand. Als es ihm diesmal wieder schwindlig wurde, schloss er ganz fest die Augen und kletterte über den Rand.
Ab und zu blinzelte er etwas, um zu sehen, wo er sich befand. Aber ansonsten kletterte er einfach blind weiter. Als er wieder einmal die Augen zur Kontrolle öffnete, sah er unter sich eine große, grüne Wiese, die sanft nach unten abfiel. Drago war begeistert. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas anderes gesehen, als die grauen Felsen um sein Nest herum. Daher kam ihm die Wiese nun wie ein Paradies vor.
Übermütig hüpfte er die letzten Felsen hinab auf die Wiese und ließ sich ins Gras fallen. Er roch an den bunten Blumen, sah den Schmetterlingen zu und rutschte schließlich den Hügel auf seinem Schwanz hinunter.
Unten angekommen, sah er einen großen Wald vor sich. Wieder war er sehr erstaunt. So große Bäume hatte er noch nie gesehen. Neben der Höhle hatten zwar ein paar krumme Büsche gestanden, aber die waren nur sehr niedrig gewesen. Fasziniert ging Drago weiter in den Wald hinein. Da traf er auf ein seltsames Wesen. Es war kleiner als er, hatte ein grau-schwarzes Fell und sehr spitze Zähne. Es war ein Wolf, aber das konnte Drago ja nicht wissen, da er noch nie ein anderes Lebewesen außer Drachen und vereinzelt ein paar Vögel gesehen hatte. Der kleine Drache ging direkt auf den Wolf zu und fragte ihn: „Hallo du! Kannst du mir sagen, wo ich Jothena finde?“
Der Wolf sah den kleinen Drachen aus seinen funkelnden Augen an und antwortete: „Jothena? Den Namen habe ich noch nie gehört. Frag den Bären, du komisches, grünes Ding, vielleicht weiß der ja etwas.“ Und mit einem Satz war der Wolf wieder im Dickicht verschwunden.
Drago lief weiter durch den Wald. Aber wie sollte er hier den Bären finden? Er wusste ja gar nicht, was ein Bär war und wie er aussah.
Ganz in Gedanken versunken, passte Drago nicht auf wohin er lief und plötzlich stieß er mit einer großen Fellkugel zusammen. Erstaunt sah er auf und trat erschrocken ein paar Schritte zurück, als sich die Fellkugel plötzlich aufrichtete und sich zu ihm umdrehte.
„Bist… bist du der Bär?“, fragte Drago schüchtern. Der Bär gähnte herzhaft und sah dann auf den kleinen Drachen hinunter.
„Ja, aber warum störst du meine Ruhe?“ fragte er brummend.
„Ich… ich bin auf der Suche nach Jothena“, sagte der kleine Drache scheu. „Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich ihn finde?“
„Jothena? Noch nie gehört. Jetzt verschwinde schon und lass mich schlafen du Knirps“, brummte der Bär mürrisch und legte sich wieder hin.
Schnell lief Drago weiter und wäre um ein Haar auf ein kleines Tier getreten, das vor ihm über den Boden kroch. Es war eine Schlange.
„Sachte, sachte, kleiner Drache,“ zischte die Schlange freundlich. „Warum hast du es denn so eilig?“
Erstaunt war Drago stehen geblieben. Dieses seltsame Tier wusste, was er war? Neugierig beugte er sich zu ihm hinab. „Ich suche Jothena. Weißt du vielleicht, wo er lebt?“
Die Schlange überlegte kurz und erinnerte sich dann, dass ein befreundeter Drache einen Jothena erwähnt hatte.
„So so, du suchst also Jothena. Leider kann ich dir nicht sagen, wo seine Höhle ist, aber versuch es doch mal in der Wüste. Er liebt die Einsamkeit.“
Drago bedankte sich bei der Schlange und lief in die Richtung, die sie ihm mit ihrer Schwanzspitze gewiesen hatte. Bald darauf hatte er den Waldrand erreicht und vor ihm erstreckte sich eine große Wüste. Der feine Sand machte dem kleinen Drachen schwer zu schaffen und er sank immer wieder tief ein. >Gibt es hier denn gar keine Tiere?< wunderte sich der kleine Drache. Doch endlich bewegte sich etwas vor ihm. Ein kleines Wesen sprang in großen Sätzen an ihm vorbei.
„Hey, du, warte doch!“ rief Drago ihm hinterher. Doch es hielt nicht an und so rannte er ihm nach.
„Warum hüpfst du denn so schnell?“, fragte er etwas außer Atem. Das kleine Wesen blieb nun doch stehen und sah Drago erstaunt an. „Na, was denkst du wohl? Der Wüstenfuchs ist hinter mir her und will mich fressen.“
„Aber warum denn?“
„Weil Fenneke nun mal Wüstenspringmäuse fressen, darum“, antwortete die Wüstenspringmaus und fing wieder an zu hüpfen.
„Nun warte doch mal, ich muss dich was fragen. Weißt du, wo Jothena lebt?“
„Nein, tut mir leid. Aber du kannst ja mal den Fennek fragen. Da hinten kommt er schon. Ich muss jetzt wirklich los.“ Mit diesen Worten ließ die Wüstenspringmaus Drago stehen und hüpfte eilends davon. Da war der Fennek auch schon da. Lustig sah er aus, mit seinen großen Ohren und seinem buschigen Schwanz. Der kleine Drache stellte sich dem Wüstenfuchs in den Weg und fragte ihn: „Hallo Fennek. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich Jothena finde?“
„Keine Zeit, keine Zeit!“ rief der Wüstenfuchs. „Ich muss diese Maus erwischen!“ Und schon war er an Drago vorbeigeeilt.
Traurig ging Drago weiter. Es wurde immer heißer und heißer und er bekam schrecklichen Durst. Mit einem Mal, landete ein riesiger Vogel vor ihm. Er hatte einen langen, nackten Hals und sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an.
„Sag mal, du bist doch ein Drache, nicht war?“, fragte der Geier. „Was machst du denn hier in der Wüste?“
„Ja, ich bin ein Drache“, antwortete Drago leise. „Ich suche jemanden, aber du kannst mir bestimmt auch nicht helfen.“
„Das kommt ganz darauf an. Wir Geier kommen viel herum. Frag mich doch einfach.“
„Ich suche Jothena, den weisen Drachen. Aber bist jetzt konnte mir keiner sagen, wo er lebt.“
„Hm,“ der Geier überlegte. „Also, in der Wüste lebt er nicht. Aber versuch es doch mal am Meer. Geh einfach weiter gerade aus, dann bist du bald da.“
Der kleine Drache dankte dem Geier und lief weiter. Es dauerte gar nicht lange, da hörte er das Meer rauschen. Jubelnd lief er auf das Wasser zu, doch als er einen Schluck davon getrunken hatte, schüttelte er angeekelt den Kopf.
„Igitt! Das ist ja ganz salzig!“
Ein Gelächter vom Wasser her ließ ihn aufschaun. Vor ihm schwammen drei Delfine, die ihn auslachten, weil er das Meerwasser nicht trinken konnte. Als der kleine Drache dann aber nach Jothena fragte, konnten sie ihm auch nicht sagen, wo er lebte.
„Aber eines ist sicher: im Meer lebt er nicht. Hier gibt es keine Drachen, nur Wasserschlangen und die sind nicht gerade besonders freundlich. Gib auf und geh wieder heim, kleiner Drache.“
Nun war Drago sehr niedergeschlagen und setzte sich mutlos in den Sand. Er war schon so weit gekommen und jetzt sollte er umkehren? Plötzlich bemerkte er, wie sich ihm ein großer Stein näherte. Erst als er genauer hinsah, merkte er, dass es ein Tier war. Es war eine riesige Schildkröte, die sich neben ihn setzte und ihm eine Muschelschale mit frischem Wasser reichte. Dankbar nahm Drago die Muschel an und trank sie mit einem Zug leer.
„Danke. Das war sehr nett von dir. Ich hatte wirklich riesigen Durst.“
Als die Schildkröte daraufhin nur lächelte, wurde der kleine Drache mutiger. „Sag mal, kennst du vielleicht Jothena?“
Wieder sah ihn die Schildkröte an und lächelte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch endlich antwortete sie: „Du suchst nach Jothena? Seit vielen vielen Jahren hat niemand mehr nach ihm gefragt.“
„Du weißt also, wo er ist?“ fragte der kleine Drache aufgeregt.
„Nicht genau, aber er ist irgendwo auf der anderen Seite des Meeres,“ antwortete die Schildkröte. Als sie Dragos traurige Miene sah, lächelte sie wieder aufmunternd. „Du fragst dich jetzt, wie du ans andere Ufer kommen sollst, nicht war? Keine Bange kleiner Drache. Steig auf meinen Rücken, ich werde dich hinüber tragen.“
Rasch kletterte Drago auf den Rücken der Schildkröte. Als er ordentlich saß und sich festhielt, ging sie zum Wasser und begann zu schwimmen. Sie schwammen die ganze Nacht hindurch und gegen Morgen, als die Sonne gerade aufgegangen war, erreichten sie das andere Ufer.
Der kleine Drache stieg von dem Rücken der Schildkröte herab und sah sich staunend um. Überall sah er Berge, die steil in den Himmel ragten. Dann fiel ihm ein, dass er sich noch gar nicht bedankt hatte und drehte sich zu der Schildkröte um, doch sie war bereits verschwunden.
>Schade,< dachte Drago bei sich, >ich hätte mich so gerne noch bei ihr bedankt.< Dann ging er weiter auf die Berge zu und begann hinaufzuklettern. Höher und höher stieg er hinauf und vergaß dabei fast, dass er Angst hatte.
Er hatte schon fast den halben Weg hinter sich, da begegnete ihm ein neues Tier. Es war sehr trittsicher, sprang leichtfüßig von einem Felsvorsprung zum anderen und trug ein Paar beeindruckender Hörner auf dem Kopf – ein Steinbock. Als der Steinbock den kleinen Drachen sah, sprang er zu ihm hinunter und fragte: „Was machst du denn hier, kleiner Drache? Solltest du nicht zu Hause sein? Deine Mutter macht sich bestimmt große Sorgen um dich.“
Da erschrak Drago furchtbar. Er hatte gar nicht mehr an Syra gedacht, so versessen war er darauf, Jothena zu finden.
„Ich… ich wollte doch nur Jothena, den weisen Drachen, finden, damit er mir das Fliegen beibringt“, stotterte er verlegen.
Da lächelte der Steinbock. „So so, du willst also fliegen lernen. Also gut. Komm mit. Ich werde dich zu Jothena bringen.“ Er drehte sich um und sprang davon.
Drago hatte es nicht besonders leicht, dem Steinbock zu folgen, der geschickt von einem Felsen zum anderen sprang. Er wollte ihm schon zurufen, dass er eine Pause bräuchte, als der Steinbock plötzlich stehen blieb, auf eine große Höhle deutete und zwischen den Felsen verschwand.
Ehrfürchtig blieb der kleine Drache vor dem Eingang stehen. Das also war sie – die Höhle des weisesten aller Drachen. Er überlegte noch, ob er denn einfach eintreten dürfe, als er eine Stimme aus dem Inneren der Höhle vernahm.
„Komm nur herein, kleiner Drache. Du hast einen langen Weg hinter dir und sollst dich ausruhen.“
Langsam und vorsichtig tapste Drago hinein. Nach einer Weile konnte er einen warmen Lichtschein sehen und als er um die Ecke bog, sah er einen sehr alten Drachen, der ihm freundlich entgegen sah.
„Ha… hallo,“ sagte der kleine Drache. „Bist du Jothena?“
Der alte Drache nickte und sprach: „Ja, so nennt man mich seit mehreren hundert Jahren. Und du bist Drago, nicht wahr?“ Als der kleine Drache nickte, fragte er: „Warum bist du zu mir gekommen?“
Drago zögerte etwas, doch dann erzählte er dem alten Drachen all das, was er erlebt hatte. Dass er Angst vor der Höhe und dem Fliegen hatte, wie er deswegen immer geärgert worden war und wie er sein Nest und seine Mutter verlassen hatte. Er erzählte von dem Wolf, dem Bär und der Schlange, der Wüstenspringmaus und dem Fennek, dem Geier, den Delfinen, der Schildkröte und zuletzt dem Steinbock. Dann sah er auf und meinte: „Und jetzt, da ich dich gefunden habe, möchte ich dich bitten, dass du mir das Fliegen beibringst. Ich möchte nämlich gerne nach Hause zu meiner Mutter, aber ich kann nicht mehr hier herunterklettern, weil ich doch so viel Angst habe.“
Da lächelte Jothena und sagte leise: „Aber warum hast du denn Angst? Du hast so viele Gefahren überstanden, bist den Tieren des Waldes, der Hitze der Wüste und der Tiefe des Meeres entkommen und hast es sogar geschafft, zu mir hinauf zu klettern. Da brauchst du doch wirklich keine Angst mehr zu haben. Schau mal, Drago, jeder Drache kann fliegen. Ob er es zu Hause gelernt hat oder nicht. Es liegt in unserer Natur zu fliegen. Du brauchst nur an den Rand der Felsen zu gehen, deine Flügel auszubreiten und dich fallen zu lassen. Den Rest erledigst du automatisch. Du siehst also, es gibt nichts, was ich dir beibringen könnte.“
Zögernd sah Drago zum Höhlenausgang hinaus. „Du meinst also, ich muss mich nur fallen lassen?“
Er ging auf den Rand der Felsen zu und sah hinunter. Sofort war die Angst wieder da und er trat einige Schritte zurück.
„Nur Mut, Drago. Wirf dein Herz voran und dann spring nach. Du wirst sehen, du kannst es“, hörte er den alten Drachen hinter sich sagen.
„Aber, wie kann ich denn mein Herz vorauswerfen?“
Als Jothena merkte, dass der kleine Drache immer noch zögerte, kramte er in seiner Höhle und trat dann neben Drago. Er drückte ihm einen Stein in der Form eines Herzens in die Hand und nickte ihm aufmunternd zu.
Drago sah das kleine Steinherz an und fühlte mit einem Mal, wie ihn der Mut durchströmte. Jothena hatte Recht. Er konnte fliegen. Alle Drachen konnten fliegen, sonst hätten sie ja keine Flügel. Er trat wieder an den Rand der Höhle, warf das Steinherz in die Tiefe, breitete seine Flügel aus und ließ sich einfach fallen.
Erst stürzte er ein Stück in die Tiefe, doch dann schlug er automatisch mit den Flügeln und gewann wieder an Höhe.
„Ich kann fliegen! Ich kann fliegen! Sieh doch nur, Jothena, ich kann es wirklich!“ rief der kleine Drache begeistert. „Danke, Jothena, vielen vielen Dank. Ich muss jetzt fort, meine Mutter wartet schon auf mich.“
Und dann flog er fort. Zurück über das große Meer, über die heiße Wüste und über den dunklen Wald bis an die Höhle seiner Mutter, die ihn schon von weitem kommen sah und ihn mit Tränen in den Augen in ihre Arme nahm, als er sie erreicht hatte.
„Siehst du, Drago,“ flüsterte sie leise, „ich hatte Recht. Du bist der Beste von allen.“
Quelle: Petra Staufer