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Der unsichtbare Schäferjunge

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Wo war’s, wo war’s nicht – es war einmal ein armer Mann, der hatte einen sehr frommen Sohn, der war Schafhirt. Eines Tages weidete er seine Schafe in einer sehr felsigen Gegend, und wie einer, dem heftige Wünsche die Brust sprengen wollen, stieß er tiefe Seufzer gegen den Himmel aus. Auf ein leises Geräusch sah er hinter sich, und der heilige Petrus trat ihm entgegen als ein alter grauer Mann. »Was seufzest Du so mein Sohn?« fragte er ihn, »und was wünschest Du?« »Nichts weiter,« antwortete der mit Ehrfurcht, »als einen Ranzen der niemals voll wird, und einen Pelz, in dem man einen nicht sieht, wenn man sich drein wickelt.« Es geschah wie er gewünscht hatte und der graue Petrus verschwand. Jetzt ließ der Knabe sein Hirtenwesen liegen und machte sich auf in die Hauptstadt, wo er Aussicht hatte sein Glück zu machen. Denn hier lebte ein König, der hatte zwölf Töchter, von denen elf alle Nacht mindestens sechs Paar Schuhe verbrauchten. Ihr Vater ärgerte sich sehr darüber, weil das einen guten Theil seiner Einkünfte verzehrte und weil Mancher darum nicht gut dachte von. seinen Töchtern, aber doch konnte ihnen nie einer mit aller List auf die Spur kommen. Der König versprach zuletzt seine jüngste Tochter dem, der das Geheimniß ans Tageslicht brächte.
Dies Versprechen lockte ungeheuer viel Freier in die Hauptstadt, welche aber von den Mädchen nur ausgelacht wurden und beschämt wieder abzogen. Der Schäferjunge meldete sich auch im Vertrauen auf seinen Pelz; und die Mädchen maßen ihn nicht wie sonst mit höhnischen Blicken. Die Nacht kam und der Junge in seinen Pelz gewickelt legte sich an die Stubenthüre wo sie schliefen, und huschte unter sie als sie schlafen gingen. Es war Mitternacht geworden, da kam ein Geist, ging bei ihnen herum und weckte sie. Jetzt war große Thätigkeit; sie zogen sich an, putzten sich und stopften einen Reisesack voll Schuhe. Die Kleinste aber wußte von all diesem Getreibe nichts. Darum weckte, der unsichtbare Schäferjunge unvermerkt auch diese, was die übrigen Schwestern mit Schrecken wahrnahmen. Da es aber nun einmal geschehen war, hielten sie es für das Beste, sie auch zu sich zu locken, wozu sich das Mädchen auch nach einigem Zögern verstand. Als so alles fertig war, stellte der Geist ein Becken auf den Tisch, Jede bestrich daraus ihre Schultern und alsbald wuchsen ihnen Flügel an. Der Schäferjunge that desgleichen, und wie sie alle zum Fenster hinausflogen flog er ihnen nach.
Nachdem sie einige Stunden geflogen waren, kamen sie in einen großen kupfernen Wald und darin an einen Brunnen mit kupferner Einfassung, auf der zwölf kupferne Becher standen. Hier erfrischten sie sich und die Mädchen tranken, aber die Jüngste, die die Reise zum ersten Male mitmachte, sah sich immer ängstlich um. Auch der Jüngling trank, als sie sich wieder auf den Weg machten, und steckte einen Becher und etwas abgestreiftes Laub in seinen Ranzen. Da klirrte der Baum und zuletzt zog ein Klang durch den ganzen Wald. Das kleinste Mädchen bemerkte das und machte ihre Schwestern aufmerksam daß Jemand hinter ihnen herkäme, die aber hielten ihren Weg für so sicher, daß sie sie nur auslachten. Indeß flogen sie weiter und nicht lange so kamen sie an einen silbernen Wald und darin an einen Brunnen mit silbernem Geländer. Auch hier tranken sie wie vorher, der Jüngling steckte wieder einen Becher und einen silbernen Zanken in sein Ränzchen, und bei dem Geräusch, daß das Zweigabbrechen machte, machte die Kleinste wieder ihre Schwestern aufmerksam, aber wie das erste Mal auch diesmal, ohne daß es etwas half. Jetzt kamen sie auch aus diesem Walde heraus und gelangten in einen goldenen Wald, wo ein Brunnen mit Goldgeländer und Goldbechern war. Auch hier machten sie Halt, tranken, der Jüngling nahm einen Goldbecher und Zweig in seinem Ränzchen mit, und bei dem Knacken erinnerte die Kleinste wieder ihre Schwestern ohne daß es half.
Als sie aus dem Wald heraus waren, kamen sie an einen Ungeheuern Felsberg, dessen moosige Gipfel mit entsetzlicher Steile gen Himmel ragten. Hier machten sie alle Halt, der Geist schlug mit einer goldenen Ruthe an den Felsen, worauf er aufsprang und Alle durch die Oeffnung hineingingen, aber auch der Jüngling mit ihnen. Jetzt traten sie in ein prachtvolles Zimmer, welches sich in einen Saal öffnete, der mit noch weit feenhafterem Glänze ausgeschmückt war. Von hier kamen ihnen zwölf wunderschöne Feenjünglinge entgegen. Die Dienerschaft vermehrte sich von Minute zu Minute und war eifrig beschäftigt, Alles einzurichten, was zu einem prächtigen Balle gehört. Jetzt ertönte eine zauberische Musik, die Thüren eines ungeheuer großen Tanzsaales öffneten sich und nun floß die rauschende Lust ohne Aufhören.
Gegen den Morgen machten sich die Mädchen (und der Schäferjunge war auch mit dabei) auf den Weg den sie hergekommen waren, legten sich zu Hause hin und als wäre gar nichts vorgefallen – was aber die ganz zerlumpten Schuhe widerlegten – standen sie zur gewöhnlichen Zeit auf. Der König wartete schon ungeduldig, was ihm der Schäferjunge für Nachricht bringen würde; und dieser erzählte ihm wenige Minuten darauf Alles was vorgefallen war. Die Mädchen wurden gerufen und läugneten Alles, aber die Becher und Baumzweige zeugten gegen sie, ebenso die kleinste Tochter welche der Schäferknabe eben deswegen geweckt hatte. Nun erfüllte der König sein Versprechen; die elf Mädchen aber wurden als Zauberinnen verbrannt.

[Europa: Ungarn. Märchen der Welt]

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