Die Hexe suchte seit den frühen Morgenstunden ihren Besen.
Jede aus der Hexenzunft bekam ihn in ihrer ersten Walpurgisnacht als Einweihungsgeschenk von Satan persönlich überreicht. Ging er später verloren, war es aus mit der luftigen Beweglichkeit, Ersatz gab es nicht.
Ohne Besen war eine Hexe aber keine Hexe!
Kater Wutz hielt sich in achtbarem Abstand von seiner missmutigen Herrin. Doch die dachte gar nicht an ihn – sie zerrieb morsches Holz auf der Herdplatte und fügte den Staub gemahlener Schmetterlinge hinzu. Wenn sie diesen Spurenpuder in die Luft blies, würde er ihr den Weg zum Besen zeigen.
Wutz folgte der Hexe vor die Tür und wartete neugierig auf die Wirkung des Puders. Der tanzte im Wind, sank zu Boden und wurde zu einem bunten Suchfaden, der sich in den Wald hineinschlängelte.
„Mach dich auf die Pfoten und sieh nach, wo er endet“, befahl die Hexe.
Gemächlich schlich der Kater durchs Unterholz.
Es dauerte eine Weile, bis er zurück war!
„Na?“, fragte die Alte.
Wutz miaute lautlos. Es bedeutete, dass er das Ende des Fadens gefunden hatte.
Er führte seine Herrin zu einem Schlammtümpel: In dessen stinkender Brühe versank der Faden.
Die Hexe grübelte eine Weile, wie der Besen in den Tümpel gelangt sein könnte und vor allem – wer ihn dort herausholen sollte.
Ihr Blick fiel auf den Kater: Schwer genug war er um zu sinken – leider musste er auch atmen. Sie selbst kam zwar ohne Atem aus, doch es lag nun einmal in ihrer Natur, dass sie weder im Wasser noch im Schlamm unterging. Es gab allerdings eine Möglichkeit unterzutauchen – sie musste eine andere Gestalt annehmen.
Die Alte riss sich ein Haar aus, griff in die Tasche ihres bauschigen Rockes und suchte nach dem Fetzen Schlangenhaut, den sie immer bei sich trug.
„Rühr dich nicht vom Fleck bis ich wiederkomme“, befahl sie dem Kater, wickelte das Haar um das Hautstück, legte sich beides unter die Zunge und wurde zu einer schwarzen Schlange.
In dieser Verwandlung glitt sie mühelos in den Tümpel hinein und am Suchfaden abwärts.
Die schlammige Brühe wurde allmählich zäh wie Teig. Unerwartet riss ein starker Sog die Schlange ins Leere und gleichzeitig in die Tiefe. Von unten zuckte Flammenschein.
Blitzschnell rollte sich der Schlangenkörper zusammen und prallte gleich darauf unweit eines Feuers auf harten Felsen.
Alle Sinne der Hexe schlugen Alarm, sie ahnte, dass sie sich in der Hölle befand.
Nun wusste sie auch, wer sich ihres Besens bemächtigt und warum er dies getan hatte!
Am Abend zuvor hatte sie unbedacht Satan ins Handwerk gepfuscht, als sie mit einem Hexenspruch das Seil zum Reißen brachte, an dem ein Dieb in Todesnot zappelte.
Es war ihr ein Bedürfnis gewesen, dem heimtückischen Henker eins auszuwischen, der ihr schon mehrmals angedroht hatte, sie auf den Scheiterhaufen zu bringen. Der Mann war vor Entsetzen über die misslungene Hinrichtung vom Gerüst gefallen und hatte sich dabei das Genick gebrochen. Recht war ihm geschehen!
Dass aber Satan wegen eines davongekommenen Diebes so ein Theater machte und sie mit Besenentzug strafte! Oder rächte er sich bei dieser Gelegenheit dafür, dass sie in der letzten Walpurgisnacht nicht mit ihm getanzt hatte?
Sie jedenfalls würde ihm ihr heißgeliebtes Fluggerät nicht überlassen!
Auf sechs Pfoten trottete ein riesiger Höllenhund schnüffelnd um die Feuerstelle. Wie gut, dass sie die geruchlose Gestalt einer Schlange angenommen hatte: Höllenhunde besaßen einen feinen Geruchssinn, scharfe Augen und fraßen alles, was ihnen vor die Schnauze kam. Solange sie sich jedoch nicht bewegte, bestand keine Lebensgefahr!
In der Nähe erspähte die Hexe ein schmales Rinnsal. Das war der geeignete Weg, um aus der Reichweite der Höllenhunde zu gelangen. In einem günstigen Augenblick glitt sie hinein und ließ sich treiben.
Das Bächlein mündete in einen träge fließenden Strom, der sich nach geraumer Zeit unverhofft in einen Felsenkessel ergoss. Im letzten Augenblick schnellte die Hexe ihren Schlangenkörper geschickt auf einen Felsvorsprung. Von dort spähte sie in die Tiefe.
Die trüben Wasser fielen als dichter Sprühregen auf ein riesiges Höllenfeuer, ohne es indes zu löschen. An den zerklüfteten Felswänden hingen angekettet die verdammten Seelen. Um das Feuer herum lagen Berge von Knochen und Schädeln. Mit Besen schoben behaarte Dämonen die Gebeine ins knisternde Feuer. Jedes Mal heulten die angeketteten Seelen schmerzgepeinigt auf, deren Gebeine gerade ins Feuer gekehrt wurden. Doch bevor Knochen und Schädel in der Hitze zerfielen, traf sie der Sprühregen und ein heißer Wind schleuderte sie auf die Knochenberge zurück. Grölend vor Vergnügen schoben die Dämonen erneut Gebeine in die Glut hinein.
Gleichgültig gegenüber den Höllenqualen der Seelen, hatte die Hexe nur Augen für die Besen.
Jeder Hexenbesen tat zuerst an diesem Höllenfeuer seinen Dienst, nur so lernte er das Fliegen! Wenn ihr eigener unter denen da unten war, ließ sich das schnell feststellen!
Die Alte stieß einen Befehl aus – in ihrer gegenwärtigen Gestalt wurde daraus ein Zischen – und am Höllenfeuer fiel tatsächlich einem der Dämonen der Besen aus den Klauen! Er nahm ihn eilends wieder auf und arbeitete weiter. Auch beim zweiten Zischen fiel der gleiche Besen zu Boden – kein Zweifel, dieser war der Richtige!
Gemächlich glitt der Schlangenkörper der Hexe zwischen den stöhnenden Seelen an der Felswand abwärts in die Nähe des Feuers. Bei jedem Zischen kämpfte der haarige Dämon verbissen mit dem störrischen Besen, schleuderte ihn zuletzt wütend gegen die Felswand und pfiff nach einem anderen.
Geschmeidig schob sich die Hexe an ihr kostbares Eigentum heran, schlug die Giftzähne in den harten Stiel und zerrte den Besen ins Dunkle. Sie widerstand dem Drang, Haar und Schlangenhaut auszuspeien, sich in ihrer wahren Gestalt auf das Fluggerät zu schwingen und schnellstens die Flucht zu ergreifen. Stattdessen wand sie sich um den Besen herum und zog ihn an der Felswand aufwärts. Es fehlte nur noch wenig bis zum oberen Rand, da verhakte er sich in einem Felsspalt.
Nun brauchte die Hexe dringend Hände und Füße!
Sie spie Hautfetzen und Haar aus und hing in ihrer wahren Gestalt am Felsen: Mit den Füßen umklammerte sie den Besen, mit den Händen krallte sie sich im Gestein fest. Auf ihren Befehl hin kippte das Fluggerät jedoch in die Waagerechte, die Alte plumpste erleichtert auf den Stiel und schwebte aufwärts.
Da gellte durch den Felsenkessel ein Schrei: „Jaaaagt sie! Sie hat sich hier eingeschlichen!“
Die Hexe erkannte die Stimme des Henkers, er hing mit gebrochenem Genick ganz in der Nähe.
Sie presste sich flach auf den Stiel und schlug mit der Faust auf das Holz – wie ein Pfeil schoss der Besen in die Richtung, aus der sich der Strom heranwälzte.
Hinter sich vernahm sie schrilles Pfeifen, eine Horde rothaariger Dämonen hatte auf den Arbeits-Besen die Verfolgung aufgenommen.
Wie der Blitz bog die Hexe nach links ein, dort, wo das Rinnsal in den Strom mündete. In der Kurve riskierte sie einen Blick nach hinten und erschrak: Ihr Besen war zu langsam, obwohl sie sich flach wie eine Flunder machte. Also löste sie die Bänder ihres Rockes, stieß ihn mit den Füßen hinter sich und befahl: „lapidius!“
Der bauschige Rock ging auf wie eine Blase und wurde hart.
Hinter sich hörte die Alte Wutgeheul – die rothaarigen Dämonen waren auf die steinharte Rockblase geprallt und steckten fest.
Endlich erspähte sie vor sich das Wachfeuer – aber dort wärmten sich drei riesige Höllenhunde. Als der Besen heranbrauste, sprangen sie knurrend auf und erhoben sich auf schwarzen Schwingen in die Luft. Bellend und geifernd rasten sie der Hexe entgegen, das gelbe Horn auf der Stirn zum Zustoßen aufgerichtet.
Die Hexe riss den Besen vor den Ungeheuern senkrecht in die Höhe und schoss über sie hinweg, die ungelenken Bestien aber stießen direkt in die rothaarige Dämonenhorde hinein.
Während sich Wut- und Schmerzgeheul hinter ihr ins Unermessliche steigerten, sauste die Alte in der unbewachten Schachtöffnung aufwärts.
Sofort fühlte sie sich sicherer, doch sie freute sich zu früh!
„Du entkommst mir nicht!“
Beim Klang dieser Stimme fuhr ihr der Schreck in die Glieder – das war Satan selbst!
Höllenhunde und Dämonen waren eine Kleinigkeit gegen die Gefahr, in der sie sich jetzt befand. Die Stimme kam aus den weiten Räumen der Hölle, Satan wartete also nicht im Schacht auf sie. Warum behauptete er dann, sie entkäme ihm nicht?
Jäh brachte die Hexe den Besen in den Schwebezustand – gerade im rechten Augenblick!
Durch das Feuer aus der Tiefe war der Schlamm, der den Hölleneingang verstopfte, steinhart geworden, sie hätte sich unweigerlich den Schädel eingeschlagen.
Wie sollte sie hier nur wieder herauskommen?
Da entdeckte sie etwas Buntes – das baumelnde Ende des Suchfadens. Um den Faden herum war der Schlamm noch weich. Die Alte angelte nach einem ihrer Schuhe, kratzte etwas Schlamm hinein und spuckte darauf – eine dampfende Flüssigkeit entstand. Das Fadenende saugte die Flüssigkeit augenblicklich auf. Im Schlamm bildeten sich Ringe, als sei ein Stein ins Wasser gefallen. Bedauernd warf die Hexe den leeren Schuh in die Hölle hinunter – er war leider unbrauchbar geworden.
Dann brachte sie den Besen in die Senkrechte, umklammerte den Stiel mit Armen und Beinen und ließ sich so durch die schmierig-schwarzen Ringe hinauf in die Oberwelt gleiten.
Endlich erblickte sie Tageslicht …
Kater Wutz fuhr beim Anblick der Herrin erschrocken zurück. Sie klebte wie ein zerzauster Staubwedel am Stiel ihres Besens. Das schlammverschmierte Hemd reichte ihr gerade bis zu den Knien und ließ die klapperdürren Waden frei.
„Glotz nicht!“, knurrte die Hexe unwillig und bemühte sich, schnell aus dem eingetrockneten Tümpel herauszukommen.
Der linke Fuß steckte noch im zähen Schlamm, als eine behaarte Klaue hervorschoss und sie an dem Fuß packte, der noch durch einen Schuh geschützt wurde.
Sofort war Kater Wutz neben seiner Herrin und hieb mit scharfen Krallen auf die Klaue ein. Deren Griff lockerte sich ein wenig – geistesgegenwärtig zog die Alte den Fuß aus dem Schuh und der Besen schnellte in die Luft.
„Wutz, zu mir!“ kreischte sie und der Kater wagte einen gewaltigen Sprung nach oben.
Er krallte sich an den Fuß der Hexe und pendelte dort wie ein Mehlsack.
Von unten aber stieg eine heiße Schlammfontäne auf. Sie verfehlte das Fluggerät nur knapp, das höher und höher stieg und schließlich die Hütte im Wald anpeilte.
„Schade um meine Schuhe“, jammerte die Hexe, als ihr der eisige Wind zwischen die nackten Zehen fuhr.
Quelle: B. Siwik