Nahe bei ihrem Dorfe führte ein Loch in die Erde hinein wie ein Brunnen, und niemand wußte, was darin war, denn wenn man jemand da hineinließ, kam er nie wieder heraus, weder lebendig noch tot. Auf dem Grund der Höhle standen zwei Widder, ein schwarzer und ein weißer, auch waren dort noch zwei Höhlen mit eisernen Türen, die eine führte in die Dunkelwelt, die andere in die Lichtwelt. Wenn man irgendeinen hineinwarf und er fiel auf den schwarzen Widder, so brachte der ihn in die Dunkelwelt und ließ ihn dort; fiel er aber auf den weißen, so brachte der ihn in die Lichtwelt.
Als der heilige Georg einmal seine Schafe nahe bei diesem Brunnen hütete, schlief er unter einem schattigen Baume ein. Die Brüder hatten schon lange auf eine Gelegenheit gelauert, und jetzt hatten sie eine. Sie hoben ganz leise den heiligen Georg im Schlafe auf und schleuderten ihn in den Brunnen. Als er auf dem Grunde auffiel, erwachte er, erschrak, merkte aber gleich, daß ihm diesen Freundschaftsdienst seine Brüder angetan hatten. Zufällig war er auf den schwarzen Widder gefallen, und der brachte ihn in die Dunkelwelt. Dort herrschte ein Zar; alles war dort schwarz, die Menschen, die Tiere, auch der Zar selbst. Der heilige Georg fand dort auch schwarze Schafe und wurde Hirt wie vorher. Zu dem Palast des Zaren führte von weit her eine Wasserleitung, an deren Quelle war eine Lamia, die nährte sich nur von Menschenfleisch. Wenn sie einen Menschen verzehrt hatte, floß die Leitung einen Tag, wenn sie zwei gefressen hatte, zwei Tage. So fraß sie viele Menschen, und der Zar konnte keinen Menschen mehr finden, um ihn der Lamia zu überliefern und so das Wasser zum Fließen zu bringen, denn es war in der Dunkelwelt kein Wasser außer diesem. Der Zar suchte und suchte, konnte aber keinen finden, und so schickte er seine Tochter zu der Lamia.
Die Zarentochter ging zu der Quelle, setzte sich unter einen Baum, weinte und wartete, daß die Lamia komme und sie fresse. Der heilige Georg war aber in der Nähe, sah das Mädchen einsam unter dem Baume sitzen und weinen, trat zu ihr und fragte sie, warum sie weine. Das Mädchen erzählte ihm alles, der heilige Georg hatte Mitleid mit ihr und sagte ihr, sie möge keine Angst haben, er wolle ihr beistehen und sie erretten. Da bat ihn das Mädchen weinend, er möge nicht fortgehen, sondern bei ihr bleiben. Das tat er; da er aber schläfrig wurde, legte er seinen Kopf in ihren Schoß, um ein wenig zu schlafen und sagte, sie solle ihn wecken, sobald die Lamia erscheine.
So schlief der heilige Georg in ihrem Schoße ein, und bald darauf erschien die Lamia. Als die ihn sah, rief sie aus: „Ha! Ich wollte nur einen, jetzt kann ich zwei essen.“ Das Mädchen fing an zu weinen, wagte aber nicht, den heiligen Georg zu wecken, doch fiel eine Träne aus ihren Augen auf sein Gesicht, er sprang auf und sah die Lamia auf sie zukommen. Darauf schob er das Mädchen hinter sich, bot der Lamia sein Knie dar und sagte zu ihr: „Ich sehe, wir sind in deiner Hand, aber am besten fängst du vom Knie hier an zu fressen, denn sonst ist es für uns zu schrecklich.“ Da schnappte die Lamia nach dem Knie des heiligen Georg, er aber streckte mit aller Kraft das Bein aus und zerschmetterte ihr den Mund, so daß sie starb. Als das Mädchen sah, daß sie gerettet war, sagte sie zu dem heiligen Georg: „Du bist von jetzt an mein Bruder, ich gehe zu meinem Vater; der wird mich fragen, wie es zugegangen ist, daß ich am Leben geblieben bin, und ich werde ihm erzählen, wie du mich errettet hast; darauf wird er dich suchen lassen. Ich will dir aber vom Blut der Lamia ein Merkmal aufdrücken, daß ich dich wiedererkennen kann; denn mein Vater wird alle Leute seines Landes zusammenrufen, um dich herauszufinden.“ Damit benetzte sie ihre Handfläche mit dem Blut der Lamia und strich es ihm aufs Gewand. Dann ging sie fort, der Heilige machte sich ebenfalls auf und ging zu seinen Schafen.
Einmal setzte er sich unter eine sehr dicke Buche in den Schatten, um ein wenig auszuruhen. Da bemerkte er oben in dem Baum ein großes Nest, darin piepten junge Vögel. Das Nest aber war das eines riesigen Vogels, und so oft er Junge ausbrütete, fraß eine Schlange sie ihm auf, so daß er sie niemals großziehen konnte; denn da die Schlange gleich, wenn sie die Jungen gefressen hatte, sich zu verbergen pflegte, wußte er nicht, wer sie gefressen hatte. Als nun der heilige Georg unter dem Baume lag, sah er eine gewaltige Schlange an dem Baum zu dem Nest hinaufsteigen; auch die jungen Vögel sahen sie und piepten vor Angst. Da erhob der heilige Georg seinen Hirtenstab und traf die Schlange so, daß sie vom Baum fiel und tot war; er aber blieb unter dem Baume sitzen. Als nun der Vogel kam und ihn dort sitzen sah, wurde er wütend, – er glaubte nämlich, es wäre der heilige Georg, der ihm seine Jungen verzehrt hätte – wollte auf ihn niederfahren und ihn töten, aber gerade als er schon hinabstürzte, piepten die Jungen auf: pi, pi, pi! und erzählten ihm, daß der Mensch da sie gerettet habe, und wenn er die Schlange nicht erschlagen hätte, die sie aufgefressen hätte. Als die Vogelmutter nun erfahren hatte, wie sich die Sache verhielt, sagte sie zu dem heiligen Georg: „Ich habe so viele Jahre Junge ausgebrütet, und immer hat die Schlange sie mir aufgefressen; daß du nun gerade herkommst und mich und meine Kinder von ihr befreist, das kann ich dir mit nichts jemals vergelten; ich bitte dich aber, sage mir, was du von mir wünschest.“ Darauf antwortete der heilige Georg: „Ich wünsche nichts, als daß du mich zu der Lichtwelt hinausbringst, denn ich bin nicht aus diesem Lande.“ – „Gut, ich will dich hinbringen, aber die Lichtwelt ist sehr weit; darum backe Brot, soviel man in fünf Öfen backen kann, schlachte fünf gelte Kühe und fülle einen Schlauch mit Wasser; das bringe alles allein hierher, und ich bringe dich dann fort.“
Als die Zarentochter nach Hause kam und ihr Vater sie sah, wurde er ganz irre und fragte sie: „Wie kommt es, Tochter, daß du lebendig daherkommst, und daß die Wasserleitung läuft?“ Sie erzählte ihm alles, und der Zar schickte überallhin Leute aus, die alle seine Untertanen zu ihm führen sollten. Unter denen war auch der heilige Georg, und als der Zar alle in der Reihe aufgestellt hatte, erkannte die Tochter den Heiligen, sagte es ihrem Vater und zeigte ihm das Merkmal von dem Blute der Lamia, so daß er es glauben mußte. Da verneigte sich der Zar vor ihm und fragte ihn: „Wünsche jetzt, was du nur willst, und ich gebe es dir.“ Darauf antwortete der heilige Georg: „Ich will nichts, mir genügt das Gute, das ich getan habe, doch laß mir fünf Öfen voll Brot backen, fünf gelte Kühe braten und gib dazu einen Schlauch Wasser.“ Das tat der Zar, und bot ihm auch Geld an, aber das wollte der Heilige nicht nehmen. Er nahm nur das Brot, das Fleisch und das Wasser und ging damit unter den Baum, wo das Nest war. Da sagte ihm der Vogel: „Lade jetzt Brot, Fleisch und Wasser auf meinen Rücken, und steige dann selbst auf. Wenn ich dir sage: ein Stück Fleisch, dann gib mir von dem Fleisch zu essen; sage ich: ein Stück Brot, gib von dem Brot, und wenn ich einen Schluck Wasser will, gib mir, aber gib ja nicht mehr, denn wenn es nicht reicht, bis wir ankommen, dann ist es schlimm, denn hungrig können wir nicht bis zur Lichtwelt kommen.“ Der heilige Georg tat, wie ihm der Vogel befahl, und der flog zu den Wolken auf. Wochen und Monate vergingen, und er flog immer noch. Wenn er Fleisch wollte oder Brot oder Wasser, gab ihm der Heilige. Aber auf einmal war das Fleisch zu Ende, der Vogel wollte welches, und es war keins mehr da. Der heilige Georg bekam Angst, der Vogel möge stehen bleiben und nicht mehr fliegen können, schnitt sich aus der Mitte jeder Fußsohle ein Stück heraus und gab es ihm, damit er nicht hungere. Der Vogel merkte aber, daß es vom Körper des heiligen Georg war, verschlang es nicht, sondern behielt es im Munde und gab es wieder von sich, als sie in der Lichtwelt angekommen waren. Da verließ er den Heiligen und kehrte durch das Erdloch zurück. Darum sind von jener Zeit an die Fußsohlen der Menschen zwischen den Zehen und der Ferse wie kleine ausgehöhlte Tröge.
Der heilige Georg ging nun nach Hause und nahm seine Brüder mit in einen Wald, um Holz zu fällen. Er schlug eine alte große Buche von oben bis unten auseinander, so daß es einen langen Spalt gab und nötigte die Brüder, die Hände in den Spalt zu stecken, um den Baum ganz zu zerteilen, er selbst hielt die eine Hälfte. Als sie die Hände darin hatten, ließ der heilige Georg seine Hälfte los, die beiden Hälften der Buche fuhren wieder zusammen und drückten den Brüdern die Hände breit. Bis zu der Zeit, sagt man, waren die Hände der Menschen wie Fäuste, von da an aber wurden sie zu Handflächen, wie sie jetzt sind.
Quelle:
(Balkanmärchen aus Bulgarien)