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Die Buckelliese

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Vor langer, langer Zeit gerieten die Völker der Erde in Unruhe und die Menschen wanderten quer durch die Lande, um sich einen neuen Platz zu suchen.
Auch Vater und Mutter Immergrün zusammen mit ihren Kindern Hans und Anna sowie die Großeltern zogen mit ihrem Planwagen durch das Land.
Sie kamen aus der Eifel, wo der Vater für ein paar Dukaten als Landarbeiter schuften musste. Einiges vom Lohn konnte er sparen und bewahrte es in einem kleinen Säckchen auf, das er auf der Reise bei sich trug.
Die Familie fand eine Landschaft, von der sie begeistert waren, im Hintergrund waren bewaldete Berge zu sehen. Davor saftige Wiesen und fruchtbare Felder, mit tiefschwarzer Erde.
„Hier ist es fast noch schöner als bei uns in der Eifel“, meinte der Großvater, als sie ein kleines Tal entlang zogen.
„Auch der Boden sieht recht fruchtbar aus. Ein Stückchen weiter das Tal hinauf werden wir uns eine Bleibe suchen“, entschied Vater Immergrün.

Im nächsten Dorf hielten sie mit ihrem Wagen an. Der kleine Hans spannte die beiden Pferde aus und führte sie an einen schmalen Fluss, der durch den Ort floss. Dort ließ er sie von dem kühlen Wasser trinken. Danach band er die Tiere an einen Baum, damit sie das saftig grüne Gras fressen konnten. Es schien ihnen zu schmecken und Hans merkte, dass es auch den beiden Rössern in diesem schönen Land gefiel und sie sich wohlfühlten.
Großmama Immergrün hatte inzwischen Holz gesammelt und ihr Mann damit ein Feuer gemacht. Als es fast heruntergebrannt war, legte die Mutter für jeden zwei große Kartoffeln zum Garen in die Glut.

Danach machte sich Vater Immergrün auf den Weg ins Dorfinnere. Er suchte den Dorfschulzen auf, den Bürgermeister des Ortes. Die Bewohner waren dem Fremden freundschaftlich gesinnt und zeigten ihm den Weg.
Der Landarbeiter trug dem Dorfobersten sein Anliegen vor. Er wollte für das kleine Säckchen Dukaten im Dorf ein Stück Land kaufen. Der Schulze war ein freundlicher Mann. Er begrüßte es, dass Menschen aus einer anderen Gegend den Landstrich so schön fanden. Noch mehr freute er sich, dass sie im Dorf sesshaft werden wollten.
Er zeigte Vater Immergrün ein kleines Grundstück mit einem kleinen Haus, Garten und Stall, das zum Verkauf stand.
„Das kannst du für dein Säckchen Dukaten bekommen“, meinte er.
Der Landarbeiter wurde mit dem Dorfschulzen schnell einig und das Häuschen mit dem Grundstück ging in sein Eigentum über.

Dann kehrte er zurück zum Planwagen und berichtete alles seiner Familie. Hans und Anna holten sofort die Pferde und alle machten sich auf den Weg zu ihrem neuen Heim. Die Mutter konnte ihr Glück kaum fassen, dass sie sogar ein kleines Häuschen dazu bekommen hatten.

Doch, was der Dorfschulze nicht wusste, war, dass vor langer Zeit eine böse Kräuterhexe in diesem Häuschen gewohnt hatte. Sie wurde seinerzeit vom Dorfpfaffen gezwungen, das Tal zu verlassen. Am Tag ihres Auszugs hatte sie das Haus verwünscht. Es sollte sich nach ihr keiner mehr darin wohlfühlen. Dabei regte sie sich so sehr auf, dass sie verstarb, bevor sie ihr Heim verlassen hatte.

Dank ihrer Unwissenheit machten sich die Immergrüns frohen Mutes daran, ihr neues Heim wohnlich einzurichten. Vater und Großvater strichen noch am gleichen Tag die Wände mit weißer Farbe und Großpapa reparierte die Haustür.
„Welch Glück wir doch haben“, dachten zufrieden die Immergrüns, als sie müde vor der brennenden Feuerstelle saßen. Im Haus war für die ganze Familie genügend Platz, so dass auch jedes der Kinder ein eigenes Zimmer und die Großeltern einen separaten Raum bekamen.

Die erste Nacht im neuen Haus war wunderschön. Hans und Anna hatten beide so gut wie lange nicht mehr geschlafen. Als der kleine Junge erwachte, war irgendetwas anders in seinem Zimmer. Auch die Räume seiner Eltern und Großeltern waren verändert.
Vater Immergrün hatte doch gestern die Wände im ganzen Haus weiß gestrichen, aber heute hatten alle einen grässlichen dunkelgrünen Anstrich. In der Küche brannte schon der Herd und dicke Rauchwolken kamen aus dem Schornstein. Ein Kochtopf mit einer grünen Hexenbrühe brodelte vor sich hin. Und wer den Dampf einatmete, wurde ganz grün im Gesicht.

Vater Immergrün sagte zu seiner Frau: „Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu.“ Gleich darauf holte er den Dorfschulzen und zeigte ihm das Hexenwerk.
Nach kurzer Überlegung wusste dieser Rat.
„Wenn einer weiß, wie eure Wände dunkelgrün geworden sind, dann die Buckelliese. Doch sie ist sehr menschenscheu. Sie wird euch das Geheimnis um dieses Haus bestimmt nicht erzählen, vielleicht aber euren Kindern. Zu Kindern ist Lieselotte, so heißt sie mit bürgerlichem Namen, immer ganz nett.“
Anna und Hans sagten sogleich: „Wir gehen zur Buckelliese und fragen sie.“
So machten sich die beiden Kinder auf den Weg zum Haus der Kräuterfrau.
Sie klopften an die Tür und riefen: „Lieselotte! Lieselotte!“
Es dauerte einen Moment und sie hörten schlurfende Schritte. Gleich darauf öffnete eine kleine Frau. Ihren Rücken verunstaltete ein riesiger Höcker.
„Was wollt ihr von mir?“, brummte sie.
„Wir … wir brauchen Euren Rat“, begann Hans zaghaft. Da hellte sich das Gesicht der Alten etwas auf. So schöpfte der Junge Mut und erzählte von den unheimlichen Vorgängen im Haus seiner Eltern. „Unser Vater war beim Dorfschulzen, der uns das Haus verkauft hatte. Er hat uns an Euch verwiesen, da er sich auch keinen Rat wusste.“
Buckelliese wusste sofort Bescheid, um welches Haus es sich handeln musste. Sie bat die Kinder in die Küche und bot ihnen selbstgemachte Kräuterbonbons an.
Während es sich Anna und Hans schmecken ließen, begann Lieselotte zu erzählen: „In eurem Haus wohnte einst eine böse Kräuterhexe. Alle Dorfbewohner fürchteten sich vor ihr und ihren Untaten. Sie hatte kleine Kinder gefangen und für sich arbeiten lassen. Eines Tages gelang es mir, einen Jungen zu befreien. Das hat sie mir nie verziehen. Aus lauter Zorn hexte sie mir einen Buckel an. Kurz darauf beschlossen die Dorfältesten, sie aus dem Tal zu jagen, was sie natürlich nicht sehr erfreute. Besonders ärgerte sie, dass ich hier wohnen bleiben durfte. Doch sie verstarb, bevor sie das Dorf verlassen konnte. Vorher verzauberte sie noch meinen Wunschbaum im Garten.“
„Ihr habt einen Baum, der Wünsche erfüllt?“, unterbrach sie Hans.
„Erfüllt hat. Denn seit dieser Zeit werden keine Wünsche mehr wahr. Früher, wenn ein Geschwisterpaar den süßen Apfel aß und an den gleichen Wunsch dachte, ging dieser in Erfüllung. Heute trägt er nur noch saftige Früchte. Dort in der Schale sind noch einige Äpfel.“
Hans fragte Lieselotte: „Darf ich mir einen Apfel nehmen?“
Als die Alte bejahte, gab er auch seiner Schwester einen davon.
Hans biss in die Frucht. Während er kaute, wünschte er, Lieselotte würde nicht so hässlich aussehen, denn ihr Anblick erschreckte ihn immer noch.
Auch Anna biss in ihren Apfel und dachte das Gleiche.
Plötzlich erfüllte ein fürchterliches Geschrei die Küche und alles wurde von einer weißen Wolke eingehüllt. Als sich der Nebel verzogen hatte, stand an der Stelle der Buckelliese eine wunderhübsche Frau. Ungläubig schaute sie an sich herunter und lächelte dann wissend. „Ihr habt mich von dem bösen Zauber erlöst. Das Geschrei hat die böse Hexe ausgestoßen, weil der Zauber ab heute gebrochen ist. Die bösen Kräfte sind verwirkt und auch euer Haus ist jetzt frei von allem Spuk. Ihr seid Kinder und habt denselben Wunsch geäußert. Das hat den Bann gegen mich aufgehoben. Ich danke euch sehr dafür.“
Sie gab den beiden Kindern eine Tüte Äpfel mit und sagte: „Immer, wenn ihr einen Wunsch habt, esst einen Apfel, dann geht er in Erfüllung.“
Lieselotte, wie die Buckelliese jetzt im Dorf wieder genannt wurde, lebte noch lange Jahre im Tal und verschenkte ihre schönen Wunschäpfel an die Kinder des Dorfes.
Auch die Familie Immergrün lebte glücklich und zufrieden im Vorharz und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch dort.

Quelle: Friedrich Buchmann

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