Der Rosenbusch hatte seine Mutter ihm gepflanzt; den Stein freilich hatte sie nicht beschaffen können. Aber Christoph hatte einen Freund gehabt; es war ein junger Musikus; der Sohn eines Trödlers, der in dem Hause ihnen gegenüber wohnte. Zuerst hatte er sich unter sein Fenster geschlichen, wenn der Musiker drinnen am Klavier saß, später hatte dieser ihn zuweilen in die Magdalenenkirche genommen, wo er sich nachmittags im Orgelspiel zu üben pflegte. – Da saß nun der blasse Knabe auf einem Schemelchen zu seinen Füßen, lehnte lauschend den Kopf an die Orgelbank und sah wie die Sonnenlichter durch die Kirchenfenster spielten. Wenn der junge Musikus dann, von der Verarbeitung seines Themas fortgerissen, die tiefen mächtigen Register durch die Gewölbe brausen ließ, oder wenn er mitunter den Tremulanten zog und die Töne wie zitternd vor der Majestät Gottes dahin fluteten, so konnte es wohl geschehen, dass der Knabe in stilles Schluchzen ausbrach und sein Freund ihn nur schwer zu beruhigen vermochte. Einmal auch sagte er bittend; „Es tut mir weh, Leberecht; spiele nicht so laut.“
Der Orgelspieler schob auch sogleich die großen Register wieder ein und nahm die Flöten – und andere sanfte Stimmen; und süß und ergreifend schwoll das Lieblingslied des Knaben durch die stille Kirche: „Befiehl du deine Wege.“ – „Leise mit seiner kränklichen Stimme hub er an mitzusingen. „Ich will auch spielen lernen“, sagte er, als die Orgel schwieg, „willst du mich es lehren, Leberecht?“ Der junge Mann ließ seine Hand auf den Kopf des Knaben fallen, und ihm das gelbe Haar streichelnd, erwiderte er: „Werde nur erst recht gesund, Christoph; denn ich will dich es gern lehren.“ – Aber Christoph war nicht gesund geworden. – Seinem kleinen Sarge folgte neben der Mutter auch der junge Orgelspieler. Sie sprachen hier zum erstenmal zusammen; und die Mutter ihm jenen geträumten Traum von dem kleinen Erbbecher. „Den Becher“, sagte Leberecht, „hätte ich Euch geben können; mein Vater, der ihn vor Jahren mit vielen anderen Dingen von Eurem Bruder erhandelte, hat mir das zierliche Stück einmal als Weihnachtsgeschenk gegeben.“ Die Frau brach in die bittersten Klagen aus. „Ach“, rief sie immer wieder, „er wäre ja gewiss gesund geworden!“ Der junge Mann ging eine Weile schweigend neben ihr her. „Den Becher soll unser Christoph dennoch haben“, sagte er endlich.
Und so geschah es. Nach einigen Tagen hatte er den Becher an einen Sammler solcher Pretiosen um einen guten Preis verhandelt; von dem Gelde aber ließ er den Denkstein für das Grab des kleinen Christoph machen. Er ließ eine Marmortafel darin einlegen, auf welcher das Bild des Bechers ausgemeißelt wurde. Darunter standen die Worte eingegraben:
„Zur Gesundheit!“ Noch viele Jahre hindurch, mochte der Schnee auf dem Grabe liegen oder mochte in der Junisonne der Busch mit Rosen überschüttet sein, kam oft eine blasse Frau und las andächtig und sinnend die beiden Worte auf dem Grabstein. – Dann eines Sommers ist sie nicht mehr gekommen, aber die Welt ging unbekümmert ihren Gang. Nur noch einmal, nach vielen Jahren, hat ein sehr alter Mann das Grab besucht, er hat sich den kleinen Denkstein angesehen und eine weiße Rose von dem alten Rosenstrauch gebrochen. Das ist der emeritierte Organist von St. Magdalenen gewesen.
Aber wir müssen das friedliche Kindergrab verlassen, und wenn zu Ende geführt werden soll, drüben in der Stadt noch einen Blick in das alte Erkerhaus in der Düsternstraße werfen. – Noch immer stand es schweigend und verschlossen. Während draußen das Leben unablässig daran vorbeiflutete, wucherte drinnen in den eingeschlossenen Räumen der Schwamm aus den Dielenritzen, löste sich der Gips an den Decken und stürzte herab, in einsamen Nächten ein unheimliches Echo über Flur und Stiege jagend. Die Kinder, welche an jenem Christabend auf der Straße gesungen hatten, wohnten jetzt als alte Leute in den Häusern, oder sie hatten ihr Leben schon abgetan und waren gestorben; die Menschen, die jetzt auf der Gasse gingen, trugen andere Gewänder, und draußen auf dem Vorstadtkirchhof war der schwarze Nummernpfahl auf Frau Ankens namenloses Grab schon längst verfault. Da schien eines Nachts wieder einmal, wie schon so oft, über das Nachbarhaus hinweg der Vollmond in das Erkerfenster des dritten Stockwerks und malte mit seinem bläulichen Lichte die kleinen runden Scheiben auf den Fußboden. Das Zimmer war leer; nur auf dem Kanapee zusammengekauert saß eine kleine Gestalt von der Größe eines jährigen Kindes; aber sein Gesicht war alt und bärtig und die magere Nase unverhältnismäßig groß; auch trug sie eine weit über die Ohren fallende Zipfelmütze und einen langen, augenscheinlich für einen ausgewachsenen Mann bestimmten Schlafrock, auf dessen Schoß sie die Füße heraufgezogen hatte. Diese Gestalt war Herr Bulemann. –
Der Hunger hatte ihn nicht getötet, aber durch den Mangel an Nahrung war sein Leib verdorrt und eingeschwunden, und so war er im Laufe der Jahre kleiner und kleiner geworden. Mitunter in Vollmondnächten, wie diese, war er erwacht und hatte, wenn auch mit immer schwächerer Kraft, seinen Wächtern zu entrinnen gesucht. War er von den vergeblichen Anstrengungen erschöpft aufs Kanapee gesunken, oder zuletzt hinaufgekrochen, und hatte dann der bleierne Schlaf ihn wieder befallen, so streckten Graps und Schnores sich draußen vor der Treppe hin, peitschten mit dem Schweif den Boden und horchten, ob Frau Ankens Schätze neue Wanderzüge von Mäusen in das Haus gelockt hätten. Heute war es anders, die Katzen waren weder im Zimmer noch draußen auf dem Flur. Als durch das Fenster fallende Mondlicht über den ganzen Fußboden weg und allmählich an der kleinen Gestalt hinaufrückte, begann sie sich zu regen; die großen runden Augen öffneten sich, und Herr Bulemann starrte in das leere Zimmer hinaus. Nach einer Weile rutschte er, die langen Ärmel mühsam zurückschlagend, von dem Kanapee herab und schritt langsam der Tür zu, während die breite Schleppe des Schlafrocks hinter ihm herfegte.
Auf den Fußspitzen nach der Klinke greifend, gelang es ihm, die Stubentür zu öffnen und draußen bis an das Geländer der Treppe vorzuschreiten. Eine Weile blieb er keuchend stehen; dann streckte er den Kopf vor und mühte sich zu rufen: „Frau Anken, Frau Anken!“ Aber seine Stimme war nur wie das Wispern eines kranken Kindes. „Frau Anken, mich hungert; so hören Sie doch.“
Alles blieb er still; nur die Mäuse quieksten jetzt heftig in den unteren Zimmern. Da wurde er zornig; „Hexe, verfluchte, was pfeift sie denn?“ Und der Schwall unverständlich geflüsterter Schimpfworte sprudelte aus seinem Munde, bis ein Stickhusten ihn befiel und seine Zunge lähmte.
Draußen, unten an der Haustür, wurde der schwere Messingklopfer angeschlagen, dass der Hall bis in die Spitze des Hauses hinaufdrang. Es mochte jener nächtlicher Geselle sein, von dem am Anfang dieser Geschichte die Rede gewesen ist. Herr Bulemann hatte sich wieder erholt. „So öffnen Sie doch!“ wisperte er, „es ist der Knabe, der Christoph, er will den Becher holen.“
Plötzlich wurden von unten herauf zwischen dem Pfeifen der Mäuse und die Sprünge und das Knurren der beiden großen Katzen vernehmbar. Er schien sich zu besinnen; zum erstenmal bei seinem Erwachen hatten sie das oberste Stockwerk verlassen und ließen ihn gewähren. – Hastig, den langen Schlafrock nach sich schleppend, stapfte er das Zimmer zurück. Draußen vor der Tür der Gasse hörte er den Wächter rufen. „Ein Mensch, ein Mensch!“ murmelte er; „die Nacht ist so lang, so vielmal bin ich aufgewacht, und noch immer scheint der Mond.“ Er kletterte auf den Polsterstuhl, der in dem Erkerfenster stand.
Emsig arbeitete er mit den kleinen dürren Händen an dem Fensterhaken; denn drunten auf der mondhellen Gasse hatte er den Wächter stehen sehen. Aber die Haspen waren festgerostet; er mühte sich vergebens sie zu öffnen. Da sah er den Mann, der eine Weile hinaufgestarrt hatte, in den Schatten der Häuser zurücktreten. Ein schwacher Schrei brach aus seinem Munde; zitternd mit geballten Fäusten schlug er gegen die Fensterscheiben; aber seine Kraft reichte nicht aus sie zu zertrümmern. Nun begann er Bitten und Versprechungen durcheinander zu wispern; allmählich, während die Gestalt des untengehenden Mannes sich immer mehr entfernte, wurde sein Flüstern zu einem erstickten Gekrächze; er wollte seine Schätze mit ihm teilen, wenn er nur hören wollte, er sollte alles haben, er selber wollte nichts, gar nichts für sich behalten; nur den Becher, der sei das Eigentum des kleinen Christoph. Aber der Mann ging unbekümmert seinen Gang und bald war er in einer Nebengasse verschwunden. – Von allen Worten, die Herr Bulemann in jener Nacht gesprochen, ist keines von einer Menschenseele gehört worden. Endlich nach aller vergeblichen Anstrengung kauerte sich die kleine Gestalt auf dem Polsterstuhl zusammen, rückte die Zipfelmütze zurecht und schaute, unverständliche Worte murmelnd, in den leeren Nachthimmel hinauf,
So sitzt er noch jetzt und erwartet die Barmherzigkeit Gottes.
Quelle: Theodor Storm