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An dem großen Fluse, der eben von einem starken Regen geschwollen und übergetreten war, lag in seiner kleinen Hütte, müde von den Anstrengungen des Tages, der alte Fährmann und schlief. Mitten in der Nacht weckten ihn einige laute Stimmen. Er hörte, dass Reisende übergesetzt sein wollten.
Als er vor die Tür hinaus trat, sah er zwei große Irrlichter über dem angebundenen Kahne schweben, die ihm versicherten, dass sie große Eile hätten und schon an jenem Ufer zu sein wünschten. Der Alte säumte nicht, stieß ab und fuhr, mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit, quer über den Strom, indes die Fremden in einer unbekannten, sehr behänden Sprache gegeneinander zischten und mitunter in ein lautes Gelächter ausbrachen, indem sie bald auf den Rändern und Bänken, bald auf dem Boden des Kahns hin- und wiederhüpften.
„Der Kahn schwankt!“ rief der Alte, „und wenn Ihr so unruhig seid, kann er umschlagen. Setzt euch, Ihr Lichter!“
Sie brachen über diese Zumutung in ein großes Gelächter aus, verspotteten den alten und waren noch unruhiger als vorher. Er trug ihre Unarten mit Geduld, und stieß bald am jenseitigen Ufer an.
„Hier ist für Eure Mühe!“ riefen die Reisenden, und es fielen, indem sie sich schüttelten, viele glänzende Goldstücke in den feuchten Kahn. „Ums Himmels willen, was macht ihr?“ rief der Alte. „Ihr bringt mich ins größte Unglück! Wäre ein Goldstück ins Wasser gefallen, so würde der Strom, der dies Metall nicht leiden kann, sich in entsetzliche Wellen erhoben, das Schiff und mich verschlungen haben, und wer weiß, wie es euch gegangen sein würde! Nehmt euer Geld wieder zu euch!“
„Wir können nichts wieder zu uns nehmen, was wir abgeschüttelt haben“, versetzten jene.
„So macht ihr mir noch die Mühe“, sagte der Alte, indem er sich bückte und die Goldstücke in seine Mütze las, „dass ich sie zusammensuchen, ans Land tragen und vergraben muss.“
Die Irrlichter waren aus dem Kahne gesprungen, und der Alte rief: „Wo bleibt nun mein Lohn?“
„Wer kein Gold nimmt, mag umsonst arbeiten!“ riefen die Irrlichter. – „Ihr müßt wissen, dass man sich nur mit den Früchten der Erde bezahlen kann.“ – „Mit Früchten der Erde? Wir verschmähen sie, und haben sie nie genossen.“ – „Und doch kann ich euch nicht loslassen, bis ihr mir versprecht, dass ihr mir drei Kohlhäupter, drei Artischocken und drei große Zwiebeln liefert.“
Die Irrlichter wollten scherzend davon schlüpfen, allein sie fühlten sich auf eine unbegreifliche Weise an den Boden gefesselt; es war die unangenehmste Empfindung die sie jemals gehabt hatten. Sie versprachen seine Forderung nächstens zu befriedigen. Er entließ sie und stieß ab. Er war schon weit hinweg, als sie ihm nachriefen: „Alter! hört Alter! Wir haben das Wichtigste vergessen!“ Er war fort und hörte sie nicht. Er hatte sich an derselben Seite den Fluss hinab treiben lassen, wo er in einer gebirgigen Gegend, die das Wasser niemals erreichen konnte, das gefährliche Gold verscharren wollte. Dort fand er zwischen hohen Felsen eine ungeheure Kluft, schüttete es hinein und fuhr nach seiner Hütte zurück.
In dieser Kluft befand sich die schöne grüne Schlange, die durch die herabklingende Münze aus ihrem Schlaf geweckt wurde. Sie ersah die kaum die leuchtenden Scheiben, als sie solche auf der Stelle mit großer Begierde verschlang, und alle Stücke, die sich in dem Gebüsch uns zwischen den Felsritzen zerstreut hatten, sorgfältig aufsuchte.
Kaum waren sie verschlungen, so fühlte sie mit der angenehmsten Empfindung das Gold in ihren Eingeweiden schmelzen und sich durch ihren ganzen Körper ausbreiten, und zur größten Freude bemerkte sie, dass sie durchsichtig und leuchtend geworden war. Lange hatte man ihr schon versichert, dass diese Erscheinung möglich sei. Weil sie aber zweifelhaft war, ob dieses Licht lange dauern könne, so trieb sie die Neugierde und der Wunsch, sich für die Zukunft sicherzustellen, aus dem Felsen heraus, um zu untersuchen, wer das schöne Geld hereingestreut haben könnte. Sie fand niemanden. Desto angenehmer war es ihr, sich selbst, da sie zwischen Kräutern und Gesträuchen hinkroch, und ihr anmutiges Licht, das sie durch das frische Grün verbreitete, zu bewundern. Alle Blätter schienen von Smaragd, alle Blumen auf das herrlichste verklärt. Vergebens durchstrich sie die einsame Wildnis; desto mehr aber wuchs ihre Hoffnung, als sie auf die Fläche kam und von weitem einen Glanz, der dem ihrigen ähnlich war, erblickte. „Find‘ ich doch endlich meinesgleichen!“ rief sie aus und eilte nach der Gegend zu. Sie achtete nicht die Beschwerlichkeit durch Sumpf und Rohr zu kriechen; denn ob sie gleich auf trockenen Bergwiesen, in hohen Felsritzen am liebsten lebte, gewürzhafte Kräuter gerne genoss und mit zartem Tau und frischem Quellwasser ihren Durst gewöhnlich stillte, so hätte sie doch des lieben Goldes willen und in Hoffnung des herrlichen Lichtes alles unternommen, was man ihr auferlegte.
Sehr ermüdet gelangte sie endlich zu einem feuchten Ried, wo unsere beiden Irrlichter hin- und widerspiegelten. Sie schoss auf sie los, begrüßte sie, und freute sich so angenehme Herren von ihrer Verwandtschaft zu finden. Die Lichter strichen an ihr her, hüpften über sie weg und lachten nach ihrer Weise. „Frau Muhme“, sagten sie, „wenn Sie schon von der horizontalen Linie sind, so hat das doch nichts zu bedeuten. Freilich sind wir nur von Seiten des Scheins verwandt, denn sehen sie nur (hier machten beide Flammen indem sie ihre ganze Breite aufopferten, sich so lang und spitz als möglich) wie schön uns Herren von der vertikalen Linie diese schlanke Länge kleidet. Nehmen Sie’s uns nicht übel, meine Freundin, welche Familie kann sich des rühmen? So lang es Irrlichter gibt, hat noch keines weder gesessen noch gelegen.“
Die Schlange fühlte sich in der Gegenwart dieser Verwandten sehr unbehaglich, denn sie mochte den Kopf so hoch heben als sie wollte, so fühlte die doch, dass sie ihn wieder zur Erde biegen musste, um von der Stelle zu kommen, und hatte sie sich vorher im dunklen Hain außerordentlich wohlgefallen, so schien ihr Glanz in Gegenwart dieser Vettern sich jeden Augenblick zu vermindern, ja sie fürchtete, dass er endlich gar verlöschen werde. In dieser Verlegenheit fragte sie eilig, ob die Herren ihr nicht etwa Nachricht geben könnten, wo das glänzende Gold herkomme, das vor kurzem in die Felskluft gefallen sei. Sie vermute, es sei ein Goldregen, der unmittelbar vom Himmel träufle. Die Irrlichter lachten und schüttelten sich, und es sprangen eine große Menge Goldstücke um sie herum. Die Schlange fuhr schnell danach sie zu verschlingen. „Lasst es Euch schmecken, Frau Muhme“, sagten die artigen Herren, „wir können noch mit mehr aufwarten.“ Sie schüttelten sich noch einige Male mit großer Behändigkeit, so dass die Schlange kaum die kostbare Speise schnell genug hinunterbringen konnte. Sichtlich fing ihr Schein an zu wachsen, und sie leuchtete wirklich aufs herrlichste, indes die Irrlichter ziemlich mager und klein geworden waren, ohne jedoch von ihrer guten Laune das mindeste zu verlieren.
„Ich bin euch auf ewig verbunden“, sagte die Schlange, nachdem sie von ihrer Mahlzeit wieder zu Atem gekommen war, „fordert von mir was ihr wollt. Was in meinen Kräften ist, will ich euch leisten.“
„Recht schön!“ riefen die Irrlichter, „sage, wo wohnt die schöne Lilie? Führ uns so schnell als möglich zum Palaste und Garten der schönen Lilie, wir sterben vor Ungeduld, uns ihr zu Füßen zu werfen.“
„Diesen Dienst“, versetzte die Schlange mit einem tiefen Seufzer, „kann ich euch sogleich nicht leisten. Die schöne Lilie wohnt leider jenseits des Wassers.“ – „Jenseits des Wassers! Und wir lassen uns in dieser stürmischen Nacht übersetzen! Wie grausam ist der Fluss, der uns nun scheidet! Sollte es nicht möglich sein, den Alten wieder zu herrufen?“
Sie würden sich vergebens bemühen, versetzte die Schlange, denn wenn Sie ihn ach selbst an dem diesseitigen Ufer anträfen, so würde er Sie nicht einnehmen. Er darf jedermann herüber, niemand hinüber bringen. „Da haben wir uns schön gebettet! Gibt es denn kein anderes Mittel, über das Wasser zu kommen?“ – „Noch einige, nur nicht in diesem Augenblick. Ich selbst kann die Herren übersetzen, aber erst in der Mittagsstunde.“ – „Das ist eine Zeit, in der wir nicht gerne reisen.“ – „So können Sie abends auf dem Schatten des Riesen hinüberfahren.“ – „Wie geht das zu?“ – „Der große Riese, der nicht weit von hier wohnt, vermag mit seinem Körper nichts. Seine Hände heben keinen Strohhalm, seine Schultern würden kein Reisblatt tragen. Aber sein Schatten vermag viel, ja alles. Deswegen ist er beim Aufgang und Untergang der Sonne am mächtigsten, und so darf man sich abends nur auf den Nacken seines Schattens setzen, der Riese geht alsdann sachte gegen das Ufer zu und der Schatten bringt den Wanderer über das Wasser hinüber. Wollen Sie aber um Mittagszeit sich an jener Waldecke einfinden, wo das Gebüsch dicht ans Ufer stößt, so kann ich Sie übersetzen und der schönen Lilie vorstellen. Scheuen Sie hingegen die Mittagshitze, so dürfen Sie nur gegen Abend in jener Felsenbucht den Riesen aufsuchen, der sich gewiss recht gefällig zeigen wird.“
Mit einer leichten Verbeugung entfernten sich die jungen Herren, und die Schlange war zufrieden von ihnen loszukommen, teils um sich in ihrem eignen Lichte zu erfreuen, teils eine Neugierde zu befriedigen, von der die schon lange auf eine sonderbare Weise gequält wird.
In den Felsklüften, in denen sie oft hin- und wiederkroch, hatte sie an einem Orte eine seltsame Entdeckung gemacht. Denn ob sie gleich durch diese Abgründe ohne ein Licht zu kriechen genötigt war, so konnte sie doch durch Gefühl die Gegenstände recht wohl unterscheiden. Nur unregelmäßige Naturprodukte war sie gewohnt überall zu finden. Bald schlang sie sich zwischen den Zacken großer Kristalle hindurch, bald fühlte sie die Haken und Haare des gediegenen Silbers, und brachte ein und den anderen Edelstein mit ans Licht hervor. Doch hatte sie zu ihrer großen Verwunderung in einem ringsum verschlossenen Felsen Gegenstände gefühlt, welche die bildende Hand des Menschen verrieten. Glatte Wände, an denen sie nicht aufsteigen konnte, scharfe regelmäßige Kanten, wohlgebildete Säulen und, was ihr am sonderbarsten vorkam, menschliche Figuren, um die sie sich mehrmals geschlungen hatte, und die für Erz oder äußerst polierten Marmor halten musste. Alle diese Erfahrungen wünschte sie noch zuletzt durch den Sinn des Auges zusammenzufassen und das, was sie nur mutmaßte, zu bestätigen. Sie glaubte sich nun fähig durch ihr eigenes Licht dieses wunderbare unterirdische Gewölbe zu erleuchten und hoffe auf einmal mit diesen sonderbaren Gegenständen völlig bekannt zu werden. Sie eilte und fand auf dem gewohnten Weg bald die Ritze, durch sie in das Heiligtum zu schleichen pflegte.
Als sie sich am Orte befand, sah sie sich mit Neugier um, und obgleich ihr Schein alle Gegenstände der Rotonde nicht erleuchten konnte, so wurden ihr doch die nächsten deutlich genug. Mit Erstaunen und Ehrfurcht sah sie in eine glänzende Nische hinauf, in welcher das Bildnis eines ehrwürdigen Königs in lauterem Golde aufgestellt war. Dem Maß nach war die Bildsäule über Menschengröße, der Gestalt nach aber das Bildnis eher eines kleinen als eines großen Mannes. Sein wohlgebildeter Körper war mit einem einfachen Mantel umgeben, und ein Eichenkranz hielt seine Haare zusammen.
Kaum hatte die Schlange dieses ehrwürdige Bildnis angeblickt, als der König zu reden anfing und fragte: „Wo kommst du her?“ – „Aus den Klüften“, versetzte die Schlange, „in denen das Gold wohnt.“ – „Was ist herrlicher als Gold?“ fragte der König. – „Das Licht“, antwortete die Schlange. – „Was ist erquicklicher als Licht?“ fragte jener. – „Das Gespräch“, antwortete diese.
Sie hatte unter diesen Reden beiseite geschielt und in der nächsten Nische ein anderes herrliches Bild gesehen. In derselben saß ein silberner König, von langer und eher schmächtiger Gestalt. Sein Körper war mit einem verzierten Gewande überdeckt, Krone, Gürtel und Zepter mit Edelsteinen geschmückt. Er hatte die Heiterkeit des Stolzes in seinem Angesichte und schien eben reden zu wollen, als an der normalen Wand eine Ader, die dunkelfarbig hindurchlief, auf einmal hell ward und ein angenehmes Licht durch den ganzen Tempel verbreitete. Bei diesem Licht sah die Schlange den dritten König, der von Erz in mächtiger Gestalt dasaß, sich auf seine Keule lehnte, mit einem Lorbeerkranz geschmückt war, und eher einem Felsen als einem Menschen glich. Sie wollte sich nach dem vierten umsehen, der in der größten Entfernung vor ihr stand, aber die Mauer öffnete sich, indem die erleuchtete Ader wie ein Blitz zuckte und verschwand.
Ein Mann von mittlere Größe, der heraustrat, zog die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich. Er war als ein Bauer gekleidet und trug eine kleine Lampe in der Hand, in deren stille Flamme man gerne hineinsah, und die auf eine wundersame Weise, ohne auch nur einen Schatten zu werfen, den ganzen Dom erhellte.
„Warum kommst du, da wir Licht haben?“ fragte der goldene König. – „Ihr wisst, dass ich das Dunkle nicht erleuchten darf.“ – „Endigt sich mein Reich?“ fragte der silberne König. – „Spät oder nie“, versetzte der Alte.
Mit einer starken Stimme fing der ehernen König an zu fragen: „Wann werde ich aufstehen?“ – „Bald“, versetzte der Alte. – „Mit wem soll ich mich verbinden?“ fragte der König. – „Mit deinen älteren Brüdern“, sagte der Alte. – „Was wird aus dem jüngsten werden?“ fragte der König. – „Er wird sich setzen“, sagte der Alte.
„Ich bin nicht müde“, rief der vierte König mit einer rauen stotternden Stimme.
Die Schlange war, indessen jene redeten, in dem Tempel leise herumgeschlichen, hatte alles betrachtet und besah nunmehr den vierten König in der Nähe. Er stand an eine Säule gelehnt, und seine ansehnliche Gestalt war eher schwerfällig als schön. Allein das Metall, woraus er gegossen war, konnte man nicht leicht unterscheiden. Genau genommen war eine Mischung der drei Metalle, aus denen seine Brüder gebildet waren. Aber beim Gusse schienen diese Materien nicht recht zusammengeschmolzen zu sein; goldne und silberne Adern liefen unregelmäßig durch eine eherne Masse hindurch, und gaben dem ganzen ein unangenehmes Ansehen.
Indessen sagte der goldne König zum Manne: „Wie viel Geheimnis weißt du?“ – „Drei“, versetzte der Alte. – „Welches ist das wichtigste?“ fragte der silberne König. – „Das offenbare“, versetzte der Alte. – „Willst du es auch uns eröffnen?“ fragte der eherne. – „Sobald ich das vierte weiß“, sagte der Alte. – „Was kümmert es mich!“ murmelte der zusammengesetzte König vor sich hin.
„Ich weiß das vierte“, sagte die Schlange, näherte sich dem Alten und zischte ihm etwas ins Ohr. – „Es ist an der Zeit!“ rief der Alte mit gewaltiger Stimme. Der Tempel schallte wider, die metallenen Bildsäulen klangen, und in dem Augenblicke versank der Alte nach Westen und die Schlange nach Osten, und jedes durchstrich mit großer Schnelle die Klüfte der Felsen.
Alle Gänge, durch die der Alte hindurch wandelte, füllten sich hinter ihm sogleich mit Gold, denn seine Lampe hatte die wunderbare Eigenschaft, alle Steine in Gold, alles Holz in Silber, tote Tiere in Edelsteine zu verwandeln, und alle Metalle zu vernichten. Diese Wirkung zu äußern, musste sie aber ganz allein leuchten. Wenn ein ander Licht neben ihr war, wirkte sie nur einen schönen Schein, und alles Lebendigkeit ward immer durch sie erquickt.
Der Alte trat in seine Hütte, die an dem Berge angebauet war, und fand sein Weib in der größten Betrübnis. Sie saß am Feuer und weinte und konnte sich nicht zufrieden geben. „Wie unglücklich bin ich“, rief sie aus, „wollt‘ ich dich heute doch nicht fortlassen!“ – „Was gibt es denn?“ fragte der Alte ganz ruhig.
„Kaum bist du weg“, sagte sie mit Schluchzen, „so kommen zwei ungestüme Wanderer vor die Türe. Unvorsichtig lasse ich sie herein, es schienen ein paar artige rechtliche Leute. Sie waren in leichte Flammen gekleidet, man hätte sie für Irrlichter halten können: kaum sind sie im Hause, so fangen sie an, auf eine unverschämte Weise, mit Worten zu schmeicheln, und werden so zudringlich, dass ich mich schäme daran zu denken.“
„Nun“, versetzte der Mann lächelnd, „die Herren haben wohl gescherzt. Denn deinem Alter nach sollten sie es wohl bei der allgemeinen Höflichkeit gelassen haben.“
„Was Alter!“ rief die Frau. „Soll ich immer von meinem Alter hören? Wie alt bin ich denn? Gemeine Höflichkeit! Ich weiß doch was ich weiß. Und sieh dich nur um, wie die Wände aussehen. Sieh nur die alten Steine, die ich seit hundert Jahren nicht mehr gesehen habe. Alles Gold haben sie heruntergeleckt, du glaubst nicht mit welcher Behändigkeit, und sie versicherten immer, es schmecke viel besser als gemeines Gold. Als die Wände rein gefegt hatten, schienen sie sehr guten Mutes, und gewiss, sie waren auch in kurzer Zeit sehr viel größer, breiter und glänzender geworden. Nun fingen sie ihren Mutwillen von neuem an, streichelten mich wieder, hießen mich ihre Königin, schüttelten sich und eine Menge Goldstücke sprangen herum. Du siehst noch, wie sie dort unter der Bank leuchten. Aber welch ein Unglück! Unser Mops fraß einige davon und sieh, da liegt er am Kamine tot. Das arme Tier! Ich kann mich nicht zufrieden geben. Ich sah es erst, da sie fort waren, denn sonst hätte ich nicht versprochen, ihre Schuld beim Fährmann abzutragen.“ – „Was sind sie schuldig?“ fragte der Alte. – „Drei Kohlhäupter“, sagte die Frau, „drei Artischocken und drei Zwiebeln: wenn es Tag wird, habe ich versprochen, sie an den Fluss zu tragen.“
„Du kannst ihnen den Gefallen tun“, sagte der Alte. „Denn sie werden uns gelegentlich auch wieder dienen.“
„Ob sie uns dienen werden, weiß ich nicht, aber versprochen und beteuert haben sie es.“
Indessen war das Feuer im Kamine zusammengebrannt, der Alte überzog die Kohlen mit vieler Asche, schaffte die leuchtenden Goldstücke beiseite, und nun leuchtete sein Lämpchen wieder allein, in dem schönen Glanze, die Mauern überzogen sich mit Gold und der Mops war zu dem schönsten Onyx geworden, den man sich denken konnte. Die Abwechslung der braunen und schwarzen Farbe des kostbaren Gesteins machte ihn zum seltensten Kunstwerke.
„Nimm deinen Korb“, sagte der Alte, und stelle den Onyx hinein. „Alsdann nimm die drei Kohlhäupter, die drei Artischocken und die drei Zwiebeln, lege sie umher und trage sie zum Fluse. Gegen Mittag lass dich von der Schlange übersetzen und besuche die schöne Lilie, bring ihr den Onyx, sie wird ihn durch ihre Berührung lebendig machen, wie sie alles Lebendige durch ihre Berührung tötet. Sie wird einen treuen Gefährten an ihm haben. Sage ihr, sie solle nicht trauern, ihre Erlösung sei nahe, das größte Unglück könne sie als das größte Glück betrachten, denn es sei an der Zeit.“
Die Alte packte ihren Korb und machte sich, als es Tag war, auf den weg. Die aufgehende Sonne schien hell über den Fluss herüber, der in der Ferne glänzte. Das Weib ging mit langsamem Schritt, denn der Korb drückte sie aufs Haupt, und es war doch nicht der Onyx, der so lastete. Alles Tote was sie trug fühlte sie nicht, vielmehr hob sich alsdann der Korb in die Höhe und schwebte über ihrem Haupte. Aber ein frisches Gemüs oder ein kleines lebendiges Tier zu tragen, war ihr äußerst beschwerlich. Verdrießlich war sie eine Zeitlang hingegangen, als sie auf einmal, erschreckt, stille stand. Denn sie hätte beinahe auf den Schatten des Riesen getreten, der sich über die Ebene bis zu ihr hin erstreckte. Und nun sah sie erst den gewaltigen Riesen, der sich im Fluss gebadet hatte, aus dem Wasser heraussteigen, und sie wusste nicht, wie sie ihm ausweichen sollte. Sobald er sie gewahr war, fing er an sie scherzhaft zu begrüßen, und die Hände seines Schattens griffen sogleich in den Korb. Mit Leichtigkeit und Geschicklichkeit nahmen sie ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel heraus und brachten sie dem Riesen zum Munde, der sodann weiter den Fluss hinauf ging und dem Weibe den Weg frei ließ.
Sie bedachte, ob sie nicht lieber zurückgehen und die fehlenden Stücke aus ihrem Garten wieder ersetzen sollte, und ging unter diesen Zweifeln immer weiter vorwärts, so dass sie bald an dem Ufer des Flusses ankam. Lange saß sie in Erwartung des Fährmanns, den sie endlich mit einem sonderbaren Reisenden herüberschiffen sah. Ein junger, edler, schöner Mann, den sie nicht genug ansehen konnte, stieg aus dem Kahne.
„Was bringt ihr?“ rief der Alte. – „Es ist das Gemüse, das Euch die Irrlichter schuldig sind“, versetzte die Frau und wies ihre Ware hin. Als der Alte von jeder Sorte nur zwei fand, ward er verdrießlich und versicherte, dass er sie nicht annehmen könne. Die Frau bat ihn inständig, erzählte ihm, dass sie jetzt nicht nach Hause gehen könne und dass ihr die Last auf dem Wege, den sie vor sich habe, beschwerlich sei. Er blieb bei seiner abschlägigen Antwort, indem er ihr versicherte, dass es nicht einmal von ihm abhange. „Was mir gebührt, muss ich neun Stunden zusammen lassen, und ich darf nichts annehmen, bis ich dem Fluss ein Dritteil übergeben habe.“ Nach vielem Hinundwiderreden versetzte endlich der Alte: „Es ist noch ein Mittel. Wenn Ihr Euch gegen den Fluss verbürgt und Euch als Schuldnerin bekennen wollt, so nehme ich die sechs Stücke zu mir, es ist aber einige Gefahr dabei.“ – „Wenn ich mein Wort halte, so laufe ich doch keine Gefahr?“ – „Nicht die geringste. Steckt Eure Hand in den Fluss“, fuhr der Alte fort, „und versprecht, dass Ihr in vierundzwanzig Stunden die Schuld abtragen wollt.“
Die Alte tat’s, aber wie erschrak sie nicht, als sie ihre Hand kohlschwarz wieder aus dem Wasser zog. Sie schalt heftig auf den Alten, versicherte, dass ihre Hände immer das Schönste an ihr gewesen wären, und dass sie, ungeachtet der harten Arbeit, diese edlen Gemüter weiß und zierlich zu erhalten gewusst habe. Sie besah die Hand mit großem Verdrusse und rief verzweiflungsvoll aus: „Das ist noch schlimmer! Ich sehe, sie ist gar geschwunden, sie ist viel kleiner als die andere.“
„Jetzt scheint es nur so“, sagte der Alte. „Wenn ihr aber nicht Wort haltet, kann es wahr werden. Die Hand wird nach und nach schwinden und endlich ganz verschwinden, ohne dass ihr den Gebrauch derselben entbehrt. Ihr werdet alles damit verrichten können, nur dass sie niemand sehen wird.“ – „Ich wollte lieber, ich könnte sie nicht brauchen und man säh’s mir’s nicht an“, sagte die Alte. „Indessen hat das nichts zu bedeuten, ich werde mein Wort halten, um, diese schwarze Haut und diese Sorge bald los zu werden.“ Eilig nahm sie darauf den Korb, der sich von selbst über ihren Scheitel erhob und frei in die Höhe schwebte, und eilte dem jungen Manne nach, der sachte und in Gedanken am Ufer hinging. Seine herrliche Gestalt und sein sonderbarer Anzug hatten sich der Alten tief eingedruckt.
Seine Brust war mit einem glänzenden Harnisch bedeckt, durch den alle Teile seines schönen Leibes sich durchbewegten. Um seine Schultern hing ein Purpurmantel, um sein unbedecktes Haupt wallten braune Haare in schönen Locken. Sein holdes Gesicht war den Strahlen der Sonne ausgesetzt, so wie seine schön gebauten Füße. Mit nackten Sohlen ging er gelassen über den heißen Sand hin, und ein tiefer Schmerz schien alle äußeren Eindrücke abzustumpfen.
Die gesprächige Alte suchte ihn zu einer Unterredung zu bringen, allein er gab ihr mit kurzen Worten wenig Bescheid, so dass sie endlich, ungeachtet seiner schönen Augen, müde war ihn immer vergebens anzureden, von ihm Abschied nahm und sagte: „Ihr geht mir zu langsam, mein Herr, ich darf den Augenblick nicht versäumen, um über die grüne Schlange den Fluss zu passieren und der schönen Lilie das vortreffliche Geschenk von meinem Manne zu überbringen.“ Mit diesen Worten schritt sie eilends fort und ebenso schnell ermannte sich der schöne Jüngling und eilte ihr auf dem Fuße nach. „Ihr geht zur schönen Lilie!“ rief er aus, „Da gehen wir einen Weg. Was ist das für ein Geschenk, das ihr tragt?“
„Mein Herr“, versetzte die Frau dagegen, „es ist nicht billig, nachdem ihr meine Fragen so einsilbig abgelehnt habt, Euch mit solcher Lebhaftigkeit nach meinen Geheimnissen zu erkundigen. Wollt ihr aber einen Tausch eingehen und Eure Schicksale erzählen, so will ich Euch nicht verbergen, wie es mit mir und meinem Geschenke steht.“ Sie wurden bald einig. Die Frau vertraute ihm ihre Verhältnisse, die Geschichte des Hundes, und ließ ihn dabei das wundervolle Geschenk betrachten.
Er hob sogleich das natürliche Kunstwerk aus dem Korbe und nahm den Mops, der sanft zu ruhen schien, in seine Arme. „Glückliches Tier!“ rief er aus, „du wirst von ihren Händen berührt, du wirst von ihr belebt werden, anstatt dass Lebendige vor ihr fliehen, um nicht ein trauriges Schicksal zu erfahren. Doch was sage ich traurig! Ist es nicht viel betrübter und bänglicher durch ihre Gegenwart gelähmt zu werden, als es sein würde von ihrer Hand zu sterben!“ „Sieh mich an“, sagte er zu der Alten. „In meinen Jahren, welch eine elenden Zustand muss ich erdulden. Diesen Harnisch, den ich mit Ehren im Kriege getragen, diesen Purpur, den ich durch eine weise Regierung zu verdienen suchte, hat mir das Schicksal gelassen, jene als eine unnötige Last, diesen als eine unbedeutende Zierde. Krone, Zepter und Schwert sind hinweg, ich bin im übrigen so nackt und bedürftig, als jeder andere Erdensohn, denn so unselig wirken ihre schönen blauen Augen, dass sie allen lebendigen Wesen ihre Kraft nehmen, und dass diejenigen, die ihre berührende Hand nicht tötet, sich in den Zustand lebendig wandelnder Schatten versetzt fühlen.“
So fuhr er fort zu klagen und befriedigte die Neugierde der Alten keineswegs, welche nicht sowohl von seinem innern als von seinem äußern Zustande unterrichtet sein wollte. Sie erfuhr weder den Namen seines Vaters noch seines Königreiches. Er streichelte den harten Mops, den die Sonnenstrahlen und der warme Busen des Jünglings, als wenn er lebte, erwärmt hatten. Er fragte viel nach dem Mann mit der Lampe, nach den Wirkungen des heiligen Lichts und schien sich davon für seinen traurigen Zustand künftig viel Gutes zu versprechen.
Unter diesen Gesprächen sahen sie von ferne den majestätischen Bogen der Brücke, der von einem Ufer zum anderen hinüber reichte, im Glanz der Sonne auf das wunderbarste schimmern. Beide erstaunten, denn sie hatte dieses Gebäude noch nie so herrlich gesehen. „Wie!“ rief der Prinz, „war sie nicht schön genug, als sie vor unseren Augen wie von Jaspis und Prasem gebaut dastand? Muss man nicht fürchten, sie zu betreten, da sie aus Smaragd, Chrysopras und Chrysolith mit der anmutigsten Mannigfaltigkeit zusammengesetzt erscheint?“ Beide wussten nicht die Veränderung, die mit der Schlange vorgegangen war: denn die Schlange war es, die sich jeden Mittag über den Fluss hinüber bäumte und in Gestalt einer kühnen Brücke dastand. Die Wanderer betraten sie mit Ehrfurcht und gingen schweigend hinüber.
Sie waren kaum am jenseitigen Ufer, als die Brücke sich zu schwingen und zu bewegen anfing, in kurzem die Oberfläche des Wassers berührte und die grüne Schlange in ihrer eigentümlichen Gestalt den Wanderern auf dem Lande nachgleitete. Beide hatten kaum für die Erlaubnis auf ihrem Rücken über den Fluss zu setzen gedankt, als sie bemerkten, dass außer ihnen dreien noch mehrere Personen in der Gesellschaft sein müssten, die sie jedoch mit ihren Augen nicht erblicken konnten. Sie hörten neben sich ein Gezisch, dem die Schlange gleichfalls mit einem Gezisch antwortete. Sie horchten auf und konnten endlich folgendes vernehmen: „Wir werden“, sagten ein paar wechselnde Stimmen, „uns erst inkognito in dem Park der schönen Lilie umsehen, und ersuchen Euch, uns mit Anbruch der Nacht, sobald wir nur irgend präsentabel sind, der vollkommenen Schönheit vorzustellen. An dem Rande des großen Seen werdet Ihr uns antreffen.“ „Es bleibt dabei“, antwortete die Schlange, und ein zischender Laut verlor sich in der Luft.
Unsere drei Wanderer beredeten sich nunmehr, in welcher Ordnung sie bei der Schönen vortreten wollten, denn so viele Personen auch um sie sein konnten, so durften sie doch nur einzeln kommen und gehen, wenn sie nicht empfindliche Schmerzen erdulden sollten.
Das Weib mit dem verwandelten Hunde im Korbe nahte sich zuerst dem Garten und suchte ihre Gönnerin auf, die leicht zu finden war, weil sie eben zur Harfe sang. Die lieblichen Töne zeigten sich erst als Ringe auf der Oberfläche des stillen Sees, dann wie ein leichter Hauch setzten sie Gras und Büsche in Bewegung. Auf einem eingeschlossenen grünen Platze, in dem Schatten einer herrlichen Gruppe mannigfaltiger Bäume, saß sie und bezauberte beim ersten Anblick aufs neue die Augen, das Ohr und das Herz des Weibes, das sich ihr mit Entzücken näherte und bei sich selbst schwur, die Schöne sei während ihrer Abwesenheit nur immer schöner geworden. Schon von weitem rief die gute Frau dem liebenswürdigen Mädchen Gruß und Lob zu. „Welch ein Glück Euch anzusehen, welch einen Himmel verbreitet Eure Gegenwart um Euch her! Wie die Harfe so reizend in Eurem Schoße lehnt, wie Eure Arme sie so sanft umgeben, wie sie sich nach Eurer Brust zu sehnen scheint und wie sie unter der Berührung Eurer schlanken Finger so zärtlich klingt! Dreifach glücklicher Jüngling, der du ihren Platz einnehmen konntest!“
Unter diesen Worten war sie näher gekommen. Die schöne Lilie schlug die Augen auf, ließ die Hände sinken und versetzte: „Betrübe mich nicht durch ein unzeitiges Lob, ich empfinde nur desto stärker mein Unglück. Sieh, hier zu meinen Füßen liegt der arme Kanarienvogel tot, der sonst meine Lieder auf das angenehmste begleitete. Er war gewöhnt auf meiner Harfe zu sitzen, und sorgfältig abgerichtet mich nicht zu berühren. Heute, indem ich vom Schlaf erquickt, ein ruhiges Morgenlied anstimme, und mein kleiner Sänger munterer als jemals seine harmonischen Töne hören lässt, schießt ein Habicht über meinem Haupte hin. Das arme kleine Tier, erschrocken, flüchtet in meinen Busen und in dem Augenblick fühl‘ ich die letzten Zuckungen seines scheidenden Lebens. Zwar von meinem Blicke getroffen schleicht der Räuber dort ohnmächtig am Wasser hin, aber was kann mir seine Strafe helfen, mein Liebling ist tot, und sein Grab wird nur das traurige Gebüsch meines Gartens vermehren.“
„Ermannt Euch, schöne Lilie!“ rief die Frau, indem sie selbst eine Träne abtrocknete, welche ihr die Erzählung des unglücklichen Mädchens aus den Augen gelockt hatte, „nehmt Euch zusammen, mein Alter lässt Euch sagen, Ihr sollt Eure Träne mäßigen, das größte Unglück als Vorbote des größten Glücks ansehen; denn es sei an der Zeit.“ „Und wahrhaftig“, fuhr die Alte fort, „es geht bunt in der Welt zu. Seht nur meine Hand wie sie schwarz geworden ist! Wahrhaftig sie ist schon um vieles kleiner, ich muss eilen, eh‘ sie gar verschwindet! Warum musst‘ ich den Irrlichtern eine Gefälligkeit erzeigen, warum musst‘ ich dem Riesen begegnen und warum meine Hand in den Fluss tauchen? Könnt Ihr mir nicht ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel geben? So bring ich sie dem Fluse und meine Hand ist weiß wie vorher, so dass ich sie fast neben die Eurige halten könnte.“
„Kohlhäupter und Zwiebeln könntest du allenfalls noch finden: aber Artischocken suchest du vergebens. Alle Pflanzen in meinem großen Garten tragen weder Blüten noch Früchte. Aber jedes Reis, das ich breche und auf das Grab eines Lieblings pflanze, grünt sogleich und schießt hoch auf. Alle diese Gruppen, diese Büsche, diese Haine habe ich leider wachsen sehen. Die Schirme dieser Pinien, die Obelisken dieser Zypressen, die Kolosse von Eichen und Buchen, alles waren kleine Reiser, als ein trauriges Denkmal von meiner Hand in einen sonst unfruchtbaren Boden gepflanzt.“
Die Alte hatte auf diese Rede wenig acht gegeben und nur ihre Hand betrachtet, die in der Gegenwart der schönen Lilie immer schwärzer und von Minute zu Minute kleiner zu werden schien. Sie wollte ihren Korb nehmen und eben forteilen, als sie fühlte, dass sie das Beste vergessen hatte. Sie hub sogleich den verwandelten Hund heraus und setzte ihn nicht weit von der Schönen ins Gras. „Mein Mann“, sagte sie, „schickt Euch dieses Andenken. Ihr wisst, dass Ihr diesen Edelstein durch Eure Berührung beleben könnt. Das artige treue Tier wird Euch gewiss viel Freude machen, und die Betrübnis, dass ich ihn verliere, kann nur durch den Gedanken aufgeheitert werden, dass Ihr ihn besitzt.“
Die schöne Lilie sah das artige Tier mit Vergnügen und, wie es schien, mit Verwunderung an. „Es kommen viele Zeichen zusammen“, sagte sie, „die mir einige Hoffnung einflößen. Aber ach! Ist es nicht bloß ein Wahn unserer Natur, dass wir dann, wenn vieles Unglück zusammentrifft, uns vorbilden das Beste sei nah.“
„Was helfen mir die vielen guten Zeichen?
Des Vogels Tod, der Freundin schwarze Hand?
Der Mops von Edelstein, hat er wohl seinesgleichen?
Und hat ihn nicht die Lampe mir gesandt?
Entfernt vom süßen menschlichen Genusse,
Bin ich doch mit dem Jammer nur vertraut.
Ach! warum steht der Tempel nicht am Fluse!
Ach! warum ist die Brücke nicht gebaut!“Ungeduldig hatte die gute Frau diesem Gesange zugehört, den die schöne Lilie mit den angenehmen Tönen ihrer Harfe begleitete und er jeden anderen entzückt hätte. Eben wollte sie sich beurlauben, als sie durch die Ankunft der grünen Schlange abermals abgehalten wurde. Diese hatte die letzten Zeilen des Liedes gehört und sprach deshalb der schönen Lilie sogleich zuversichtlich Mut ein.
„Die Weissagung von der Brücke ist erfüllt!“ rief sie aus. „Fragt nur diese gute Frau wie herrlich der Bogen gegenwärtig erscheint. Was sonst undurchsichtiger Japsis, was nur eine Prasem war, durch den das Licht höchstens auf den Kanten durchschimmerte, ist nun durchsichtiger Edelstein geworden. Kein Beryll ist so klar und kein Smaragd so schönfarbig.“
„Ich wünsche Euch Glück dazu“, sagte die Lilie, „allein verzeihet mir, wenn ich die Weissagung noch nicht erfüllt glaube. Über den hohen Bogen Eurer Brücke können nur Fußgänger hinüber schreiten und es ist uns versprochen, dass Pferde und Wagen und Reisende aller Art zu gleicher Zeit über die Brücke herüber und hinüber wandern sollen. Ist nicht von den großen Pfeilern geweissagt, die aus dem Fluse selbst heraussteigen werden?“
Die Alte hatte ihre Augen immer auf die Hand geheftet, unterbrach hier das Gespräch und empfahl sich. „Verweilt noch einen Augenblick“, sagte die schöne Lilie, „und nehmt meinen armen Kanarienvogel mit. Bittet die Lampe, dass sie ihn in einen schönen Topas verwandle, ich will ihn durch meine Berührung beleben und er, mit Eurem guten Mops, soll mein bester Zeitvertreib sein. Aber eilt was ihr könnt, denn mit Sonnenuntergang ergreift unleidliche Fäulnis das arme Tier und zerreißt den schönen Zusammenhang seiner Gestalt auf ewig.“
Die Alte legte den kleinen Leichnam zwischen zarte Blätter in den Korb und eilte davon.
„Wie dem auch sei“, sagte die Schlange, indem sie das abgesprochene Gespräch fortsetzte, „der Tempel ist erbauet.“
„Er steht aber noch im Fluse“, versetzte die Schöne.
„Noch ruht er in den Tiefen der Erde“, sagte die Schlange. „Ich habe die Könige gesehen und gesprochen.“
„Aber wann werden sie aufstehen?“ fragte Lilie.
Die Schlange versetzte: „Ich hörte die großen Worte im Tempel ertönen: es ist an der Zeit.“
Eine angenehme Heiterkeit verbreitete sich über das Angesicht der Schönen. „Höre doch“, sagte sie, „die glücklichen Worte schon heute zum zweiten Mal. Wann wird der Tag kommen, an dem ich sie dreimal höre?“
Sie stand auf und sogleich trat ein reizendes Mädchen aus dem Gebüsch, das ihr die Harfe abnahm. Dieser folgte eine andre, die den elfenbeinernen geschnitzten Feldstuhl, worauf die Schöne gesessen hatte, zusammenschlug und das silberne Kissen unter den Arm nahm. Eine dritte, die einen großen, mit Perlen gestickten Sonnenschirm trug, zeigte sich darauf, erwartend, ob Lilie auf einem Spaziergange etwa ihrer bedürfe. Über allen Ausdruck schön und reizend waren diese drei Mädchen, und doch erhöhten sie nur die Schönheit der Lilie, indem sich jeder gestehen musste, dass sie mit ihr gar nicht verglichen werden konnten.
Mit Gefälligkeit hatte indes die schöne Lilie den wunderbaren Mops betrachtet. Sie beugte sich, berührte ihn und in dem Augenblick sprang er auf. Munter sah er sich um, lief hin und wider und eilte zuletzt seine Wohltäterin auf das freundlichste zu begrüßen. Sie nahm ihn auf die Arme und drückte ihn an sich. „So kalt du bist“, rief sie aus, „und obgleich nur ein halbes Leben in dir wirkt, bist du mir doch willkommen. Zärtlich will ich dich lieben, artig mit dir scherzen, freundlich dich streicheln, und fest dich an mein Herz drücken.“ Sie ließ ihn darauf los, jagte ihn von sich, rief ihn wieder, scherzte so artig mit ihm und trieb sich so munter und unschuldig mit ihm in dem Grase herum, dass man mit neuem Entzücken ihre Freude betrachten und teil daran nehmen musste, so wie kurz vorher ihre Trauerndes Herz zum Mitleid gestimmt hatte.
Diese Heiterkeit, diese anmutigen Scherze wurden durch die Ankunft des traurigen Jünglings unterbrochen. Er trat herein, wie wir ihn schon kennen, nur schien die Hitze des Tages ihn noch mehr abgemartert zu haben, und in der Gegenwart der Geliebten ward er mit jedem Augenblicke blässer. Er trug den Habicht auf seiner Hand, der wie eine Taube ruhig saß und die Flügel hängen ließ.
„Es ist nicht freundlich“, rief Lilie ihm entgegen, „dass du mir das verhasste Tier vor die Augen bringst, das Ungeheurer, das meinen kleinen Sänger heute getötet hat.“
„Schilt den unglücklichen Vogel nicht!“ versetzte darauf der Jüngling. „Klage vielmehr dich an und das Schicksal, und vergönne mir, dass ich mit dem Gefährten meines Elends Geschäfte mache.“
Indessen hörte der Mops nicht auf, die Schöne zu necken, und sie antwortete dem durchsichtigen Liebling mit dem freundlichen Betragen. Sie klatschte mit den Händen, um ihn zu verscheuchen. Dann lief sie, um ihn wieder nach sich zu ziehen. Sie suchte ihn zu haschen, wenn er floh, und jagte ihn von sich weg, wenn er sich an sie zu drängen versuchte. Der Jüngling sah stillschweigend und mit wachsendem Verdrusse zu. Aber endlich, da sie hässliche Tier, das ihm ganz abscheulich vorkam, auf den Arm nahm, an ihren weißen Busen drückte und die schwarze Schnauze mit ihren himmlischen Lippen küsste, verging ihm alle Geduld und er rief voller Verzweiflung aus: „Musste ich, der durch ein trauriges Geschick vor dir, vielleicht auf immer, in einer getrennten Gegenwart lebe, der ich durch dich alles, auch mich selbst, verloren habe, muss ich vor deinen Augen sehen, dass eine so widernatürliche Missgeburt dich zur Freude reizen, deine Neigung fesseln und deine Umarmung genießen kann! Soll ich noch länger nur so hin- und wiedergeben? und den traurigen Kreis den Fluss herüber und hinüber abmessen? Nein, es ruht noch ein Funke des alten Heldenmutes in meinem Busen. Er schlage in diesem Augenblick zur letzten Flamme auf! Wenn Steine an deinem Busen ruhen können, so möge ich zu Stein werden. Wenn deine Berührung tötet, so will ich in deinen Händen sterben.“
Mit diesen Worten machte er eine heftige Bewegung. Der Habicht flog von seiner Hand, er aber stürzte auf die Schöne los, sie streckte die Hände aus, ihn abzuhalten und berührte ihn nur desto früher. Das Bewusstsein verließ ihn, und mit Entsetzen fühlte sie die schöne Last an ihrem Busen. Mit einem Schrei trat sie zurück, und der holde Jüngling sank entseelt aus ihren Armen zur Erde.
Das Unglück war geschehen! Die süße Lilie stand unbeweglich und blickte starr nach dem entseelten Leichnam. Das Herz schien ihr im Busen zu stocken und ihre Augen waren ohne Tränen. Vergebens suchte der Mops ihr eine freundliche Bewegung abzugewinnen. Die ganze Welt war mit ihrem Freunde ausgestorben. Ihre stumme Verzweiflung sah sich nach Hülfe nicht um, denn sie kannte keine Hülfe.
Als er vor die Tür hinaus trat, sah er zwei große Irrlichter über dem angebundenen Kahne schweben, die ihm versicherten, dass sie große Eile hätten und schon an jenem Ufer zu sein wünschten. Der Alte säumte nicht, stieß ab und fuhr, mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit, quer über den Strom, indes die Fremden in einer unbekannten, sehr behänden Sprache gegeneinander zischten und mitunter in ein lautes Gelächter ausbrachen, indem sie bald auf den Rändern und Bänken, bald auf dem Boden des Kahns hin- und wiederhüpften.
„Der Kahn schwankt!“ rief der Alte, „und wenn Ihr so unruhig seid, kann er umschlagen. Setzt euch, Ihr Lichter!“
Sie brachen über diese Zumutung in ein großes Gelächter aus, verspotteten den alten und waren noch unruhiger als vorher. Er trug ihre Unarten mit Geduld, und stieß bald am jenseitigen Ufer an.
„Hier ist für Eure Mühe!“ riefen die Reisenden, und es fielen, indem sie sich schüttelten, viele glänzende Goldstücke in den feuchten Kahn. „Ums Himmels willen, was macht ihr?“ rief der Alte. „Ihr bringt mich ins größte Unglück! Wäre ein Goldstück ins Wasser gefallen, so würde der Strom, der dies Metall nicht leiden kann, sich in entsetzliche Wellen erhoben, das Schiff und mich verschlungen haben, und wer weiß, wie es euch gegangen sein würde! Nehmt euer Geld wieder zu euch!“
„Wir können nichts wieder zu uns nehmen, was wir abgeschüttelt haben“, versetzten jene.
„So macht ihr mir noch die Mühe“, sagte der Alte, indem er sich bückte und die Goldstücke in seine Mütze las, „dass ich sie zusammensuchen, ans Land tragen und vergraben muss.“
Die Irrlichter waren aus dem Kahne gesprungen, und der Alte rief: „Wo bleibt nun mein Lohn?“
„Wer kein Gold nimmt, mag umsonst arbeiten!“ riefen die Irrlichter. – „Ihr müßt wissen, dass man sich nur mit den Früchten der Erde bezahlen kann.“ – „Mit Früchten der Erde? Wir verschmähen sie, und haben sie nie genossen.“ – „Und doch kann ich euch nicht loslassen, bis ihr mir versprecht, dass ihr mir drei Kohlhäupter, drei Artischocken und drei große Zwiebeln liefert.“
Die Irrlichter wollten scherzend davon schlüpfen, allein sie fühlten sich auf eine unbegreifliche Weise an den Boden gefesselt; es war die unangenehmste Empfindung die sie jemals gehabt hatten. Sie versprachen seine Forderung nächstens zu befriedigen. Er entließ sie und stieß ab. Er war schon weit hinweg, als sie ihm nachriefen: „Alter! hört Alter! Wir haben das Wichtigste vergessen!“ Er war fort und hörte sie nicht. Er hatte sich an derselben Seite den Fluss hinab treiben lassen, wo er in einer gebirgigen Gegend, die das Wasser niemals erreichen konnte, das gefährliche Gold verscharren wollte. Dort fand er zwischen hohen Felsen eine ungeheure Kluft, schüttete es hinein und fuhr nach seiner Hütte zurück.
In dieser Kluft befand sich die schöne grüne Schlange, die durch die herabklingende Münze aus ihrem Schlaf geweckt wurde. Sie ersah die kaum die leuchtenden Scheiben, als sie solche auf der Stelle mit großer Begierde verschlang, und alle Stücke, die sich in dem Gebüsch uns zwischen den Felsritzen zerstreut hatten, sorgfältig aufsuchte.
Kaum waren sie verschlungen, so fühlte sie mit der angenehmsten Empfindung das Gold in ihren Eingeweiden schmelzen und sich durch ihren ganzen Körper ausbreiten, und zur größten Freude bemerkte sie, dass sie durchsichtig und leuchtend geworden war. Lange hatte man ihr schon versichert, dass diese Erscheinung möglich sei. Weil sie aber zweifelhaft war, ob dieses Licht lange dauern könne, so trieb sie die Neugierde und der Wunsch, sich für die Zukunft sicherzustellen, aus dem Felsen heraus, um zu untersuchen, wer das schöne Geld hereingestreut haben könnte. Sie fand niemanden. Desto angenehmer war es ihr, sich selbst, da sie zwischen Kräutern und Gesträuchen hinkroch, und ihr anmutiges Licht, das sie durch das frische Grün verbreitete, zu bewundern. Alle Blätter schienen von Smaragd, alle Blumen auf das herrlichste verklärt. Vergebens durchstrich sie die einsame Wildnis; desto mehr aber wuchs ihre Hoffnung, als sie auf die Fläche kam und von weitem einen Glanz, der dem ihrigen ähnlich war, erblickte. „Find‘ ich doch endlich meinesgleichen!“ rief sie aus und eilte nach der Gegend zu. Sie achtete nicht die Beschwerlichkeit durch Sumpf und Rohr zu kriechen; denn ob sie gleich auf trockenen Bergwiesen, in hohen Felsritzen am liebsten lebte, gewürzhafte Kräuter gerne genoss und mit zartem Tau und frischem Quellwasser ihren Durst gewöhnlich stillte, so hätte sie doch des lieben Goldes willen und in Hoffnung des herrlichen Lichtes alles unternommen, was man ihr auferlegte.
Sehr ermüdet gelangte sie endlich zu einem feuchten Ried, wo unsere beiden Irrlichter hin- und widerspiegelten. Sie schoss auf sie los, begrüßte sie, und freute sich so angenehme Herren von ihrer Verwandtschaft zu finden. Die Lichter strichen an ihr her, hüpften über sie weg und lachten nach ihrer Weise. „Frau Muhme“, sagten sie, „wenn Sie schon von der horizontalen Linie sind, so hat das doch nichts zu bedeuten. Freilich sind wir nur von Seiten des Scheins verwandt, denn sehen sie nur (hier machten beide Flammen indem sie ihre ganze Breite aufopferten, sich so lang und spitz als möglich) wie schön uns Herren von der vertikalen Linie diese schlanke Länge kleidet. Nehmen Sie’s uns nicht übel, meine Freundin, welche Familie kann sich des rühmen? So lang es Irrlichter gibt, hat noch keines weder gesessen noch gelegen.“
Die Schlange fühlte sich in der Gegenwart dieser Verwandten sehr unbehaglich, denn sie mochte den Kopf so hoch heben als sie wollte, so fühlte die doch, dass sie ihn wieder zur Erde biegen musste, um von der Stelle zu kommen, und hatte sie sich vorher im dunklen Hain außerordentlich wohlgefallen, so schien ihr Glanz in Gegenwart dieser Vettern sich jeden Augenblick zu vermindern, ja sie fürchtete, dass er endlich gar verlöschen werde. In dieser Verlegenheit fragte sie eilig, ob die Herren ihr nicht etwa Nachricht geben könnten, wo das glänzende Gold herkomme, das vor kurzem in die Felskluft gefallen sei. Sie vermute, es sei ein Goldregen, der unmittelbar vom Himmel träufle. Die Irrlichter lachten und schüttelten sich, und es sprangen eine große Menge Goldstücke um sie herum. Die Schlange fuhr schnell danach sie zu verschlingen. „Lasst es Euch schmecken, Frau Muhme“, sagten die artigen Herren, „wir können noch mit mehr aufwarten.“ Sie schüttelten sich noch einige Male mit großer Behändigkeit, so dass die Schlange kaum die kostbare Speise schnell genug hinunterbringen konnte. Sichtlich fing ihr Schein an zu wachsen, und sie leuchtete wirklich aufs herrlichste, indes die Irrlichter ziemlich mager und klein geworden waren, ohne jedoch von ihrer guten Laune das mindeste zu verlieren.
„Ich bin euch auf ewig verbunden“, sagte die Schlange, nachdem sie von ihrer Mahlzeit wieder zu Atem gekommen war, „fordert von mir was ihr wollt. Was in meinen Kräften ist, will ich euch leisten.“
„Recht schön!“ riefen die Irrlichter, „sage, wo wohnt die schöne Lilie? Führ uns so schnell als möglich zum Palaste und Garten der schönen Lilie, wir sterben vor Ungeduld, uns ihr zu Füßen zu werfen.“
„Diesen Dienst“, versetzte die Schlange mit einem tiefen Seufzer, „kann ich euch sogleich nicht leisten. Die schöne Lilie wohnt leider jenseits des Wassers.“ – „Jenseits des Wassers! Und wir lassen uns in dieser stürmischen Nacht übersetzen! Wie grausam ist der Fluss, der uns nun scheidet! Sollte es nicht möglich sein, den Alten wieder zu herrufen?“
Sie würden sich vergebens bemühen, versetzte die Schlange, denn wenn Sie ihn ach selbst an dem diesseitigen Ufer anträfen, so würde er Sie nicht einnehmen. Er darf jedermann herüber, niemand hinüber bringen. „Da haben wir uns schön gebettet! Gibt es denn kein anderes Mittel, über das Wasser zu kommen?“ – „Noch einige, nur nicht in diesem Augenblick. Ich selbst kann die Herren übersetzen, aber erst in der Mittagsstunde.“ – „Das ist eine Zeit, in der wir nicht gerne reisen.“ – „So können Sie abends auf dem Schatten des Riesen hinüberfahren.“ – „Wie geht das zu?“ – „Der große Riese, der nicht weit von hier wohnt, vermag mit seinem Körper nichts. Seine Hände heben keinen Strohhalm, seine Schultern würden kein Reisblatt tragen. Aber sein Schatten vermag viel, ja alles. Deswegen ist er beim Aufgang und Untergang der Sonne am mächtigsten, und so darf man sich abends nur auf den Nacken seines Schattens setzen, der Riese geht alsdann sachte gegen das Ufer zu und der Schatten bringt den Wanderer über das Wasser hinüber. Wollen Sie aber um Mittagszeit sich an jener Waldecke einfinden, wo das Gebüsch dicht ans Ufer stößt, so kann ich Sie übersetzen und der schönen Lilie vorstellen. Scheuen Sie hingegen die Mittagshitze, so dürfen Sie nur gegen Abend in jener Felsenbucht den Riesen aufsuchen, der sich gewiss recht gefällig zeigen wird.“
Mit einer leichten Verbeugung entfernten sich die jungen Herren, und die Schlange war zufrieden von ihnen loszukommen, teils um sich in ihrem eignen Lichte zu erfreuen, teils eine Neugierde zu befriedigen, von der die schon lange auf eine sonderbare Weise gequält wird.
In den Felsklüften, in denen sie oft hin- und wiederkroch, hatte sie an einem Orte eine seltsame Entdeckung gemacht. Denn ob sie gleich durch diese Abgründe ohne ein Licht zu kriechen genötigt war, so konnte sie doch durch Gefühl die Gegenstände recht wohl unterscheiden. Nur unregelmäßige Naturprodukte war sie gewohnt überall zu finden. Bald schlang sie sich zwischen den Zacken großer Kristalle hindurch, bald fühlte sie die Haken und Haare des gediegenen Silbers, und brachte ein und den anderen Edelstein mit ans Licht hervor. Doch hatte sie zu ihrer großen Verwunderung in einem ringsum verschlossenen Felsen Gegenstände gefühlt, welche die bildende Hand des Menschen verrieten. Glatte Wände, an denen sie nicht aufsteigen konnte, scharfe regelmäßige Kanten, wohlgebildete Säulen und, was ihr am sonderbarsten vorkam, menschliche Figuren, um die sie sich mehrmals geschlungen hatte, und die für Erz oder äußerst polierten Marmor halten musste. Alle diese Erfahrungen wünschte sie noch zuletzt durch den Sinn des Auges zusammenzufassen und das, was sie nur mutmaßte, zu bestätigen. Sie glaubte sich nun fähig durch ihr eigenes Licht dieses wunderbare unterirdische Gewölbe zu erleuchten und hoffe auf einmal mit diesen sonderbaren Gegenständen völlig bekannt zu werden. Sie eilte und fand auf dem gewohnten Weg bald die Ritze, durch sie in das Heiligtum zu schleichen pflegte.
Als sie sich am Orte befand, sah sie sich mit Neugier um, und obgleich ihr Schein alle Gegenstände der Rotonde nicht erleuchten konnte, so wurden ihr doch die nächsten deutlich genug. Mit Erstaunen und Ehrfurcht sah sie in eine glänzende Nische hinauf, in welcher das Bildnis eines ehrwürdigen Königs in lauterem Golde aufgestellt war. Dem Maß nach war die Bildsäule über Menschengröße, der Gestalt nach aber das Bildnis eher eines kleinen als eines großen Mannes. Sein wohlgebildeter Körper war mit einem einfachen Mantel umgeben, und ein Eichenkranz hielt seine Haare zusammen.
Kaum hatte die Schlange dieses ehrwürdige Bildnis angeblickt, als der König zu reden anfing und fragte: „Wo kommst du her?“ – „Aus den Klüften“, versetzte die Schlange, „in denen das Gold wohnt.“ – „Was ist herrlicher als Gold?“ fragte der König. – „Das Licht“, antwortete die Schlange. – „Was ist erquicklicher als Licht?“ fragte jener. – „Das Gespräch“, antwortete diese.
Sie hatte unter diesen Reden beiseite geschielt und in der nächsten Nische ein anderes herrliches Bild gesehen. In derselben saß ein silberner König, von langer und eher schmächtiger Gestalt. Sein Körper war mit einem verzierten Gewande überdeckt, Krone, Gürtel und Zepter mit Edelsteinen geschmückt. Er hatte die Heiterkeit des Stolzes in seinem Angesichte und schien eben reden zu wollen, als an der normalen Wand eine Ader, die dunkelfarbig hindurchlief, auf einmal hell ward und ein angenehmes Licht durch den ganzen Tempel verbreitete. Bei diesem Licht sah die Schlange den dritten König, der von Erz in mächtiger Gestalt dasaß, sich auf seine Keule lehnte, mit einem Lorbeerkranz geschmückt war, und eher einem Felsen als einem Menschen glich. Sie wollte sich nach dem vierten umsehen, der in der größten Entfernung vor ihr stand, aber die Mauer öffnete sich, indem die erleuchtete Ader wie ein Blitz zuckte und verschwand.
Ein Mann von mittlere Größe, der heraustrat, zog die Aufmerksamkeit der Schlange auf sich. Er war als ein Bauer gekleidet und trug eine kleine Lampe in der Hand, in deren stille Flamme man gerne hineinsah, und die auf eine wundersame Weise, ohne auch nur einen Schatten zu werfen, den ganzen Dom erhellte.
„Warum kommst du, da wir Licht haben?“ fragte der goldene König. – „Ihr wisst, dass ich das Dunkle nicht erleuchten darf.“ – „Endigt sich mein Reich?“ fragte der silberne König. – „Spät oder nie“, versetzte der Alte.
Mit einer starken Stimme fing der ehernen König an zu fragen: „Wann werde ich aufstehen?“ – „Bald“, versetzte der Alte. – „Mit wem soll ich mich verbinden?“ fragte der König. – „Mit deinen älteren Brüdern“, sagte der Alte. – „Was wird aus dem jüngsten werden?“ fragte der König. – „Er wird sich setzen“, sagte der Alte.
„Ich bin nicht müde“, rief der vierte König mit einer rauen stotternden Stimme.
Die Schlange war, indessen jene redeten, in dem Tempel leise herumgeschlichen, hatte alles betrachtet und besah nunmehr den vierten König in der Nähe. Er stand an eine Säule gelehnt, und seine ansehnliche Gestalt war eher schwerfällig als schön. Allein das Metall, woraus er gegossen war, konnte man nicht leicht unterscheiden. Genau genommen war eine Mischung der drei Metalle, aus denen seine Brüder gebildet waren. Aber beim Gusse schienen diese Materien nicht recht zusammengeschmolzen zu sein; goldne und silberne Adern liefen unregelmäßig durch eine eherne Masse hindurch, und gaben dem ganzen ein unangenehmes Ansehen.
Indessen sagte der goldne König zum Manne: „Wie viel Geheimnis weißt du?“ – „Drei“, versetzte der Alte. – „Welches ist das wichtigste?“ fragte der silberne König. – „Das offenbare“, versetzte der Alte. – „Willst du es auch uns eröffnen?“ fragte der eherne. – „Sobald ich das vierte weiß“, sagte der Alte. – „Was kümmert es mich!“ murmelte der zusammengesetzte König vor sich hin.
„Ich weiß das vierte“, sagte die Schlange, näherte sich dem Alten und zischte ihm etwas ins Ohr. – „Es ist an der Zeit!“ rief der Alte mit gewaltiger Stimme. Der Tempel schallte wider, die metallenen Bildsäulen klangen, und in dem Augenblicke versank der Alte nach Westen und die Schlange nach Osten, und jedes durchstrich mit großer Schnelle die Klüfte der Felsen.
Alle Gänge, durch die der Alte hindurch wandelte, füllten sich hinter ihm sogleich mit Gold, denn seine Lampe hatte die wunderbare Eigenschaft, alle Steine in Gold, alles Holz in Silber, tote Tiere in Edelsteine zu verwandeln, und alle Metalle zu vernichten. Diese Wirkung zu äußern, musste sie aber ganz allein leuchten. Wenn ein ander Licht neben ihr war, wirkte sie nur einen schönen Schein, und alles Lebendigkeit ward immer durch sie erquickt.
Der Alte trat in seine Hütte, die an dem Berge angebauet war, und fand sein Weib in der größten Betrübnis. Sie saß am Feuer und weinte und konnte sich nicht zufrieden geben. „Wie unglücklich bin ich“, rief sie aus, „wollt‘ ich dich heute doch nicht fortlassen!“ – „Was gibt es denn?“ fragte der Alte ganz ruhig.
„Kaum bist du weg“, sagte sie mit Schluchzen, „so kommen zwei ungestüme Wanderer vor die Türe. Unvorsichtig lasse ich sie herein, es schienen ein paar artige rechtliche Leute. Sie waren in leichte Flammen gekleidet, man hätte sie für Irrlichter halten können: kaum sind sie im Hause, so fangen sie an, auf eine unverschämte Weise, mit Worten zu schmeicheln, und werden so zudringlich, dass ich mich schäme daran zu denken.“
„Nun“, versetzte der Mann lächelnd, „die Herren haben wohl gescherzt. Denn deinem Alter nach sollten sie es wohl bei der allgemeinen Höflichkeit gelassen haben.“
„Was Alter!“ rief die Frau. „Soll ich immer von meinem Alter hören? Wie alt bin ich denn? Gemeine Höflichkeit! Ich weiß doch was ich weiß. Und sieh dich nur um, wie die Wände aussehen. Sieh nur die alten Steine, die ich seit hundert Jahren nicht mehr gesehen habe. Alles Gold haben sie heruntergeleckt, du glaubst nicht mit welcher Behändigkeit, und sie versicherten immer, es schmecke viel besser als gemeines Gold. Als die Wände rein gefegt hatten, schienen sie sehr guten Mutes, und gewiss, sie waren auch in kurzer Zeit sehr viel größer, breiter und glänzender geworden. Nun fingen sie ihren Mutwillen von neuem an, streichelten mich wieder, hießen mich ihre Königin, schüttelten sich und eine Menge Goldstücke sprangen herum. Du siehst noch, wie sie dort unter der Bank leuchten. Aber welch ein Unglück! Unser Mops fraß einige davon und sieh, da liegt er am Kamine tot. Das arme Tier! Ich kann mich nicht zufrieden geben. Ich sah es erst, da sie fort waren, denn sonst hätte ich nicht versprochen, ihre Schuld beim Fährmann abzutragen.“ – „Was sind sie schuldig?“ fragte der Alte. – „Drei Kohlhäupter“, sagte die Frau, „drei Artischocken und drei Zwiebeln: wenn es Tag wird, habe ich versprochen, sie an den Fluss zu tragen.“
„Du kannst ihnen den Gefallen tun“, sagte der Alte. „Denn sie werden uns gelegentlich auch wieder dienen.“
„Ob sie uns dienen werden, weiß ich nicht, aber versprochen und beteuert haben sie es.“
Indessen war das Feuer im Kamine zusammengebrannt, der Alte überzog die Kohlen mit vieler Asche, schaffte die leuchtenden Goldstücke beiseite, und nun leuchtete sein Lämpchen wieder allein, in dem schönen Glanze, die Mauern überzogen sich mit Gold und der Mops war zu dem schönsten Onyx geworden, den man sich denken konnte. Die Abwechslung der braunen und schwarzen Farbe des kostbaren Gesteins machte ihn zum seltensten Kunstwerke.
„Nimm deinen Korb“, sagte der Alte, und stelle den Onyx hinein. „Alsdann nimm die drei Kohlhäupter, die drei Artischocken und die drei Zwiebeln, lege sie umher und trage sie zum Fluse. Gegen Mittag lass dich von der Schlange übersetzen und besuche die schöne Lilie, bring ihr den Onyx, sie wird ihn durch ihre Berührung lebendig machen, wie sie alles Lebendige durch ihre Berührung tötet. Sie wird einen treuen Gefährten an ihm haben. Sage ihr, sie solle nicht trauern, ihre Erlösung sei nahe, das größte Unglück könne sie als das größte Glück betrachten, denn es sei an der Zeit.“
Die Alte packte ihren Korb und machte sich, als es Tag war, auf den weg. Die aufgehende Sonne schien hell über den Fluss herüber, der in der Ferne glänzte. Das Weib ging mit langsamem Schritt, denn der Korb drückte sie aufs Haupt, und es war doch nicht der Onyx, der so lastete. Alles Tote was sie trug fühlte sie nicht, vielmehr hob sich alsdann der Korb in die Höhe und schwebte über ihrem Haupte. Aber ein frisches Gemüs oder ein kleines lebendiges Tier zu tragen, war ihr äußerst beschwerlich. Verdrießlich war sie eine Zeitlang hingegangen, als sie auf einmal, erschreckt, stille stand. Denn sie hätte beinahe auf den Schatten des Riesen getreten, der sich über die Ebene bis zu ihr hin erstreckte. Und nun sah sie erst den gewaltigen Riesen, der sich im Fluss gebadet hatte, aus dem Wasser heraussteigen, und sie wusste nicht, wie sie ihm ausweichen sollte. Sobald er sie gewahr war, fing er an sie scherzhaft zu begrüßen, und die Hände seines Schattens griffen sogleich in den Korb. Mit Leichtigkeit und Geschicklichkeit nahmen sie ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel heraus und brachten sie dem Riesen zum Munde, der sodann weiter den Fluss hinauf ging und dem Weibe den Weg frei ließ.
Sie bedachte, ob sie nicht lieber zurückgehen und die fehlenden Stücke aus ihrem Garten wieder ersetzen sollte, und ging unter diesen Zweifeln immer weiter vorwärts, so dass sie bald an dem Ufer des Flusses ankam. Lange saß sie in Erwartung des Fährmanns, den sie endlich mit einem sonderbaren Reisenden herüberschiffen sah. Ein junger, edler, schöner Mann, den sie nicht genug ansehen konnte, stieg aus dem Kahne.
„Was bringt ihr?“ rief der Alte. – „Es ist das Gemüse, das Euch die Irrlichter schuldig sind“, versetzte die Frau und wies ihre Ware hin. Als der Alte von jeder Sorte nur zwei fand, ward er verdrießlich und versicherte, dass er sie nicht annehmen könne. Die Frau bat ihn inständig, erzählte ihm, dass sie jetzt nicht nach Hause gehen könne und dass ihr die Last auf dem Wege, den sie vor sich habe, beschwerlich sei. Er blieb bei seiner abschlägigen Antwort, indem er ihr versicherte, dass es nicht einmal von ihm abhange. „Was mir gebührt, muss ich neun Stunden zusammen lassen, und ich darf nichts annehmen, bis ich dem Fluss ein Dritteil übergeben habe.“ Nach vielem Hinundwiderreden versetzte endlich der Alte: „Es ist noch ein Mittel. Wenn Ihr Euch gegen den Fluss verbürgt und Euch als Schuldnerin bekennen wollt, so nehme ich die sechs Stücke zu mir, es ist aber einige Gefahr dabei.“ – „Wenn ich mein Wort halte, so laufe ich doch keine Gefahr?“ – „Nicht die geringste. Steckt Eure Hand in den Fluss“, fuhr der Alte fort, „und versprecht, dass Ihr in vierundzwanzig Stunden die Schuld abtragen wollt.“
Die Alte tat’s, aber wie erschrak sie nicht, als sie ihre Hand kohlschwarz wieder aus dem Wasser zog. Sie schalt heftig auf den Alten, versicherte, dass ihre Hände immer das Schönste an ihr gewesen wären, und dass sie, ungeachtet der harten Arbeit, diese edlen Gemüter weiß und zierlich zu erhalten gewusst habe. Sie besah die Hand mit großem Verdrusse und rief verzweiflungsvoll aus: „Das ist noch schlimmer! Ich sehe, sie ist gar geschwunden, sie ist viel kleiner als die andere.“
„Jetzt scheint es nur so“, sagte der Alte. „Wenn ihr aber nicht Wort haltet, kann es wahr werden. Die Hand wird nach und nach schwinden und endlich ganz verschwinden, ohne dass ihr den Gebrauch derselben entbehrt. Ihr werdet alles damit verrichten können, nur dass sie niemand sehen wird.“ – „Ich wollte lieber, ich könnte sie nicht brauchen und man säh’s mir’s nicht an“, sagte die Alte. „Indessen hat das nichts zu bedeuten, ich werde mein Wort halten, um, diese schwarze Haut und diese Sorge bald los zu werden.“ Eilig nahm sie darauf den Korb, der sich von selbst über ihren Scheitel erhob und frei in die Höhe schwebte, und eilte dem jungen Manne nach, der sachte und in Gedanken am Ufer hinging. Seine herrliche Gestalt und sein sonderbarer Anzug hatten sich der Alten tief eingedruckt.
Seine Brust war mit einem glänzenden Harnisch bedeckt, durch den alle Teile seines schönen Leibes sich durchbewegten. Um seine Schultern hing ein Purpurmantel, um sein unbedecktes Haupt wallten braune Haare in schönen Locken. Sein holdes Gesicht war den Strahlen der Sonne ausgesetzt, so wie seine schön gebauten Füße. Mit nackten Sohlen ging er gelassen über den heißen Sand hin, und ein tiefer Schmerz schien alle äußeren Eindrücke abzustumpfen.
Die gesprächige Alte suchte ihn zu einer Unterredung zu bringen, allein er gab ihr mit kurzen Worten wenig Bescheid, so dass sie endlich, ungeachtet seiner schönen Augen, müde war ihn immer vergebens anzureden, von ihm Abschied nahm und sagte: „Ihr geht mir zu langsam, mein Herr, ich darf den Augenblick nicht versäumen, um über die grüne Schlange den Fluss zu passieren und der schönen Lilie das vortreffliche Geschenk von meinem Manne zu überbringen.“ Mit diesen Worten schritt sie eilends fort und ebenso schnell ermannte sich der schöne Jüngling und eilte ihr auf dem Fuße nach. „Ihr geht zur schönen Lilie!“ rief er aus, „Da gehen wir einen Weg. Was ist das für ein Geschenk, das ihr tragt?“
„Mein Herr“, versetzte die Frau dagegen, „es ist nicht billig, nachdem ihr meine Fragen so einsilbig abgelehnt habt, Euch mit solcher Lebhaftigkeit nach meinen Geheimnissen zu erkundigen. Wollt ihr aber einen Tausch eingehen und Eure Schicksale erzählen, so will ich Euch nicht verbergen, wie es mit mir und meinem Geschenke steht.“ Sie wurden bald einig. Die Frau vertraute ihm ihre Verhältnisse, die Geschichte des Hundes, und ließ ihn dabei das wundervolle Geschenk betrachten.
Er hob sogleich das natürliche Kunstwerk aus dem Korbe und nahm den Mops, der sanft zu ruhen schien, in seine Arme. „Glückliches Tier!“ rief er aus, „du wirst von ihren Händen berührt, du wirst von ihr belebt werden, anstatt dass Lebendige vor ihr fliehen, um nicht ein trauriges Schicksal zu erfahren. Doch was sage ich traurig! Ist es nicht viel betrübter und bänglicher durch ihre Gegenwart gelähmt zu werden, als es sein würde von ihrer Hand zu sterben!“ „Sieh mich an“, sagte er zu der Alten. „In meinen Jahren, welch eine elenden Zustand muss ich erdulden. Diesen Harnisch, den ich mit Ehren im Kriege getragen, diesen Purpur, den ich durch eine weise Regierung zu verdienen suchte, hat mir das Schicksal gelassen, jene als eine unnötige Last, diesen als eine unbedeutende Zierde. Krone, Zepter und Schwert sind hinweg, ich bin im übrigen so nackt und bedürftig, als jeder andere Erdensohn, denn so unselig wirken ihre schönen blauen Augen, dass sie allen lebendigen Wesen ihre Kraft nehmen, und dass diejenigen, die ihre berührende Hand nicht tötet, sich in den Zustand lebendig wandelnder Schatten versetzt fühlen.“
So fuhr er fort zu klagen und befriedigte die Neugierde der Alten keineswegs, welche nicht sowohl von seinem innern als von seinem äußern Zustande unterrichtet sein wollte. Sie erfuhr weder den Namen seines Vaters noch seines Königreiches. Er streichelte den harten Mops, den die Sonnenstrahlen und der warme Busen des Jünglings, als wenn er lebte, erwärmt hatten. Er fragte viel nach dem Mann mit der Lampe, nach den Wirkungen des heiligen Lichts und schien sich davon für seinen traurigen Zustand künftig viel Gutes zu versprechen.
Unter diesen Gesprächen sahen sie von ferne den majestätischen Bogen der Brücke, der von einem Ufer zum anderen hinüber reichte, im Glanz der Sonne auf das wunderbarste schimmern. Beide erstaunten, denn sie hatte dieses Gebäude noch nie so herrlich gesehen. „Wie!“ rief der Prinz, „war sie nicht schön genug, als sie vor unseren Augen wie von Jaspis und Prasem gebaut dastand? Muss man nicht fürchten, sie zu betreten, da sie aus Smaragd, Chrysopras und Chrysolith mit der anmutigsten Mannigfaltigkeit zusammengesetzt erscheint?“ Beide wussten nicht die Veränderung, die mit der Schlange vorgegangen war: denn die Schlange war es, die sich jeden Mittag über den Fluss hinüber bäumte und in Gestalt einer kühnen Brücke dastand. Die Wanderer betraten sie mit Ehrfurcht und gingen schweigend hinüber.
Sie waren kaum am jenseitigen Ufer, als die Brücke sich zu schwingen und zu bewegen anfing, in kurzem die Oberfläche des Wassers berührte und die grüne Schlange in ihrer eigentümlichen Gestalt den Wanderern auf dem Lande nachgleitete. Beide hatten kaum für die Erlaubnis auf ihrem Rücken über den Fluss zu setzen gedankt, als sie bemerkten, dass außer ihnen dreien noch mehrere Personen in der Gesellschaft sein müssten, die sie jedoch mit ihren Augen nicht erblicken konnten. Sie hörten neben sich ein Gezisch, dem die Schlange gleichfalls mit einem Gezisch antwortete. Sie horchten auf und konnten endlich folgendes vernehmen: „Wir werden“, sagten ein paar wechselnde Stimmen, „uns erst inkognito in dem Park der schönen Lilie umsehen, und ersuchen Euch, uns mit Anbruch der Nacht, sobald wir nur irgend präsentabel sind, der vollkommenen Schönheit vorzustellen. An dem Rande des großen Seen werdet Ihr uns antreffen.“ „Es bleibt dabei“, antwortete die Schlange, und ein zischender Laut verlor sich in der Luft.
Unsere drei Wanderer beredeten sich nunmehr, in welcher Ordnung sie bei der Schönen vortreten wollten, denn so viele Personen auch um sie sein konnten, so durften sie doch nur einzeln kommen und gehen, wenn sie nicht empfindliche Schmerzen erdulden sollten.
Das Weib mit dem verwandelten Hunde im Korbe nahte sich zuerst dem Garten und suchte ihre Gönnerin auf, die leicht zu finden war, weil sie eben zur Harfe sang. Die lieblichen Töne zeigten sich erst als Ringe auf der Oberfläche des stillen Sees, dann wie ein leichter Hauch setzten sie Gras und Büsche in Bewegung. Auf einem eingeschlossenen grünen Platze, in dem Schatten einer herrlichen Gruppe mannigfaltiger Bäume, saß sie und bezauberte beim ersten Anblick aufs neue die Augen, das Ohr und das Herz des Weibes, das sich ihr mit Entzücken näherte und bei sich selbst schwur, die Schöne sei während ihrer Abwesenheit nur immer schöner geworden. Schon von weitem rief die gute Frau dem liebenswürdigen Mädchen Gruß und Lob zu. „Welch ein Glück Euch anzusehen, welch einen Himmel verbreitet Eure Gegenwart um Euch her! Wie die Harfe so reizend in Eurem Schoße lehnt, wie Eure Arme sie so sanft umgeben, wie sie sich nach Eurer Brust zu sehnen scheint und wie sie unter der Berührung Eurer schlanken Finger so zärtlich klingt! Dreifach glücklicher Jüngling, der du ihren Platz einnehmen konntest!“
Unter diesen Worten war sie näher gekommen. Die schöne Lilie schlug die Augen auf, ließ die Hände sinken und versetzte: „Betrübe mich nicht durch ein unzeitiges Lob, ich empfinde nur desto stärker mein Unglück. Sieh, hier zu meinen Füßen liegt der arme Kanarienvogel tot, der sonst meine Lieder auf das angenehmste begleitete. Er war gewöhnt auf meiner Harfe zu sitzen, und sorgfältig abgerichtet mich nicht zu berühren. Heute, indem ich vom Schlaf erquickt, ein ruhiges Morgenlied anstimme, und mein kleiner Sänger munterer als jemals seine harmonischen Töne hören lässt, schießt ein Habicht über meinem Haupte hin. Das arme kleine Tier, erschrocken, flüchtet in meinen Busen und in dem Augenblick fühl‘ ich die letzten Zuckungen seines scheidenden Lebens. Zwar von meinem Blicke getroffen schleicht der Räuber dort ohnmächtig am Wasser hin, aber was kann mir seine Strafe helfen, mein Liebling ist tot, und sein Grab wird nur das traurige Gebüsch meines Gartens vermehren.“
„Ermannt Euch, schöne Lilie!“ rief die Frau, indem sie selbst eine Träne abtrocknete, welche ihr die Erzählung des unglücklichen Mädchens aus den Augen gelockt hatte, „nehmt Euch zusammen, mein Alter lässt Euch sagen, Ihr sollt Eure Träne mäßigen, das größte Unglück als Vorbote des größten Glücks ansehen; denn es sei an der Zeit.“ „Und wahrhaftig“, fuhr die Alte fort, „es geht bunt in der Welt zu. Seht nur meine Hand wie sie schwarz geworden ist! Wahrhaftig sie ist schon um vieles kleiner, ich muss eilen, eh‘ sie gar verschwindet! Warum musst‘ ich den Irrlichtern eine Gefälligkeit erzeigen, warum musst‘ ich dem Riesen begegnen und warum meine Hand in den Fluss tauchen? Könnt Ihr mir nicht ein Kohlhaupt, eine Artischocke und eine Zwiebel geben? So bring ich sie dem Fluse und meine Hand ist weiß wie vorher, so dass ich sie fast neben die Eurige halten könnte.“
„Kohlhäupter und Zwiebeln könntest du allenfalls noch finden: aber Artischocken suchest du vergebens. Alle Pflanzen in meinem großen Garten tragen weder Blüten noch Früchte. Aber jedes Reis, das ich breche und auf das Grab eines Lieblings pflanze, grünt sogleich und schießt hoch auf. Alle diese Gruppen, diese Büsche, diese Haine habe ich leider wachsen sehen. Die Schirme dieser Pinien, die Obelisken dieser Zypressen, die Kolosse von Eichen und Buchen, alles waren kleine Reiser, als ein trauriges Denkmal von meiner Hand in einen sonst unfruchtbaren Boden gepflanzt.“
Die Alte hatte auf diese Rede wenig acht gegeben und nur ihre Hand betrachtet, die in der Gegenwart der schönen Lilie immer schwärzer und von Minute zu Minute kleiner zu werden schien. Sie wollte ihren Korb nehmen und eben forteilen, als sie fühlte, dass sie das Beste vergessen hatte. Sie hub sogleich den verwandelten Hund heraus und setzte ihn nicht weit von der Schönen ins Gras. „Mein Mann“, sagte sie, „schickt Euch dieses Andenken. Ihr wisst, dass Ihr diesen Edelstein durch Eure Berührung beleben könnt. Das artige treue Tier wird Euch gewiss viel Freude machen, und die Betrübnis, dass ich ihn verliere, kann nur durch den Gedanken aufgeheitert werden, dass Ihr ihn besitzt.“
Die schöne Lilie sah das artige Tier mit Vergnügen und, wie es schien, mit Verwunderung an. „Es kommen viele Zeichen zusammen“, sagte sie, „die mir einige Hoffnung einflößen. Aber ach! Ist es nicht bloß ein Wahn unserer Natur, dass wir dann, wenn vieles Unglück zusammentrifft, uns vorbilden das Beste sei nah.“
„Was helfen mir die vielen guten Zeichen?
Des Vogels Tod, der Freundin schwarze Hand?
Der Mops von Edelstein, hat er wohl seinesgleichen?
Und hat ihn nicht die Lampe mir gesandt?
Entfernt vom süßen menschlichen Genusse,
Bin ich doch mit dem Jammer nur vertraut.
Ach! warum steht der Tempel nicht am Fluse!
Ach! warum ist die Brücke nicht gebaut!“Ungeduldig hatte die gute Frau diesem Gesange zugehört, den die schöne Lilie mit den angenehmen Tönen ihrer Harfe begleitete und er jeden anderen entzückt hätte. Eben wollte sie sich beurlauben, als sie durch die Ankunft der grünen Schlange abermals abgehalten wurde. Diese hatte die letzten Zeilen des Liedes gehört und sprach deshalb der schönen Lilie sogleich zuversichtlich Mut ein.
„Die Weissagung von der Brücke ist erfüllt!“ rief sie aus. „Fragt nur diese gute Frau wie herrlich der Bogen gegenwärtig erscheint. Was sonst undurchsichtiger Japsis, was nur eine Prasem war, durch den das Licht höchstens auf den Kanten durchschimmerte, ist nun durchsichtiger Edelstein geworden. Kein Beryll ist so klar und kein Smaragd so schönfarbig.“
„Ich wünsche Euch Glück dazu“, sagte die Lilie, „allein verzeihet mir, wenn ich die Weissagung noch nicht erfüllt glaube. Über den hohen Bogen Eurer Brücke können nur Fußgänger hinüber schreiten und es ist uns versprochen, dass Pferde und Wagen und Reisende aller Art zu gleicher Zeit über die Brücke herüber und hinüber wandern sollen. Ist nicht von den großen Pfeilern geweissagt, die aus dem Fluse selbst heraussteigen werden?“
Die Alte hatte ihre Augen immer auf die Hand geheftet, unterbrach hier das Gespräch und empfahl sich. „Verweilt noch einen Augenblick“, sagte die schöne Lilie, „und nehmt meinen armen Kanarienvogel mit. Bittet die Lampe, dass sie ihn in einen schönen Topas verwandle, ich will ihn durch meine Berührung beleben und er, mit Eurem guten Mops, soll mein bester Zeitvertreib sein. Aber eilt was ihr könnt, denn mit Sonnenuntergang ergreift unleidliche Fäulnis das arme Tier und zerreißt den schönen Zusammenhang seiner Gestalt auf ewig.“
Die Alte legte den kleinen Leichnam zwischen zarte Blätter in den Korb und eilte davon.
„Wie dem auch sei“, sagte die Schlange, indem sie das abgesprochene Gespräch fortsetzte, „der Tempel ist erbauet.“
„Er steht aber noch im Fluse“, versetzte die Schöne.
„Noch ruht er in den Tiefen der Erde“, sagte die Schlange. „Ich habe die Könige gesehen und gesprochen.“
„Aber wann werden sie aufstehen?“ fragte Lilie.
Die Schlange versetzte: „Ich hörte die großen Worte im Tempel ertönen: es ist an der Zeit.“
Eine angenehme Heiterkeit verbreitete sich über das Angesicht der Schönen. „Höre doch“, sagte sie, „die glücklichen Worte schon heute zum zweiten Mal. Wann wird der Tag kommen, an dem ich sie dreimal höre?“
Sie stand auf und sogleich trat ein reizendes Mädchen aus dem Gebüsch, das ihr die Harfe abnahm. Dieser folgte eine andre, die den elfenbeinernen geschnitzten Feldstuhl, worauf die Schöne gesessen hatte, zusammenschlug und das silberne Kissen unter den Arm nahm. Eine dritte, die einen großen, mit Perlen gestickten Sonnenschirm trug, zeigte sich darauf, erwartend, ob Lilie auf einem Spaziergange etwa ihrer bedürfe. Über allen Ausdruck schön und reizend waren diese drei Mädchen, und doch erhöhten sie nur die Schönheit der Lilie, indem sich jeder gestehen musste, dass sie mit ihr gar nicht verglichen werden konnten.
Mit Gefälligkeit hatte indes die schöne Lilie den wunderbaren Mops betrachtet. Sie beugte sich, berührte ihn und in dem Augenblick sprang er auf. Munter sah er sich um, lief hin und wider und eilte zuletzt seine Wohltäterin auf das freundlichste zu begrüßen. Sie nahm ihn auf die Arme und drückte ihn an sich. „So kalt du bist“, rief sie aus, „und obgleich nur ein halbes Leben in dir wirkt, bist du mir doch willkommen. Zärtlich will ich dich lieben, artig mit dir scherzen, freundlich dich streicheln, und fest dich an mein Herz drücken.“ Sie ließ ihn darauf los, jagte ihn von sich, rief ihn wieder, scherzte so artig mit ihm und trieb sich so munter und unschuldig mit ihm in dem Grase herum, dass man mit neuem Entzücken ihre Freude betrachten und teil daran nehmen musste, so wie kurz vorher ihre Trauerndes Herz zum Mitleid gestimmt hatte.
Diese Heiterkeit, diese anmutigen Scherze wurden durch die Ankunft des traurigen Jünglings unterbrochen. Er trat herein, wie wir ihn schon kennen, nur schien die Hitze des Tages ihn noch mehr abgemartert zu haben, und in der Gegenwart der Geliebten ward er mit jedem Augenblicke blässer. Er trug den Habicht auf seiner Hand, der wie eine Taube ruhig saß und die Flügel hängen ließ.
„Es ist nicht freundlich“, rief Lilie ihm entgegen, „dass du mir das verhasste Tier vor die Augen bringst, das Ungeheurer, das meinen kleinen Sänger heute getötet hat.“
„Schilt den unglücklichen Vogel nicht!“ versetzte darauf der Jüngling. „Klage vielmehr dich an und das Schicksal, und vergönne mir, dass ich mit dem Gefährten meines Elends Geschäfte mache.“
Indessen hörte der Mops nicht auf, die Schöne zu necken, und sie antwortete dem durchsichtigen Liebling mit dem freundlichen Betragen. Sie klatschte mit den Händen, um ihn zu verscheuchen. Dann lief sie, um ihn wieder nach sich zu ziehen. Sie suchte ihn zu haschen, wenn er floh, und jagte ihn von sich weg, wenn er sich an sie zu drängen versuchte. Der Jüngling sah stillschweigend und mit wachsendem Verdrusse zu. Aber endlich, da sie hässliche Tier, das ihm ganz abscheulich vorkam, auf den Arm nahm, an ihren weißen Busen drückte und die schwarze Schnauze mit ihren himmlischen Lippen küsste, verging ihm alle Geduld und er rief voller Verzweiflung aus: „Musste ich, der durch ein trauriges Geschick vor dir, vielleicht auf immer, in einer getrennten Gegenwart lebe, der ich durch dich alles, auch mich selbst, verloren habe, muss ich vor deinen Augen sehen, dass eine so widernatürliche Missgeburt dich zur Freude reizen, deine Neigung fesseln und deine Umarmung genießen kann! Soll ich noch länger nur so hin- und wiedergeben? und den traurigen Kreis den Fluss herüber und hinüber abmessen? Nein, es ruht noch ein Funke des alten Heldenmutes in meinem Busen. Er schlage in diesem Augenblick zur letzten Flamme auf! Wenn Steine an deinem Busen ruhen können, so möge ich zu Stein werden. Wenn deine Berührung tötet, so will ich in deinen Händen sterben.“
Mit diesen Worten machte er eine heftige Bewegung. Der Habicht flog von seiner Hand, er aber stürzte auf die Schöne los, sie streckte die Hände aus, ihn abzuhalten und berührte ihn nur desto früher. Das Bewusstsein verließ ihn, und mit Entsetzen fühlte sie die schöne Last an ihrem Busen. Mit einem Schrei trat sie zurück, und der holde Jüngling sank entseelt aus ihren Armen zur Erde.
Das Unglück war geschehen! Die süße Lilie stand unbeweglich und blickte starr nach dem entseelten Leichnam. Das Herz schien ihr im Busen zu stocken und ihre Augen waren ohne Tränen. Vergebens suchte der Mops ihr eine freundliche Bewegung abzugewinnen. Die ganze Welt war mit ihrem Freunde ausgestorben. Ihre stumme Verzweiflung sah sich nach Hülfe nicht um, denn sie kannte keine Hülfe.