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Märchenbasar

Der goldene Zweig

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In einem Lande, das an das Reich der Feen grenzet, war einmal ein König, dessen finstre und übellaunige Sinnesart alle Herzen von ihm abwendig machte. Er war gewalttätig, argwöhnisch und grausam, gab alle Tage neue Gesetze, damit er nur immer viel zu strafen hätte, ärgerte sich, wenn er die Leute fröhlich sah, und tat sein möglichstes, alle Freuden aus seinem Reiche zu verbannen. Weil er immer die Stirne runzelte, so nannte man ihn den König Runzelwig. Dieser König hatte einen Sohn, der von allem diesem gerade das Gegenteil war. Er war offen, leutselig, großmütig und tapfer, hatte einen durchdringenden Verstand und fand großes Belieben an Künsten und Wissenschaften; kurz, er wäre der liebenswürdigste Prinz von der Welt gewesen, wenn die Ungestaltheit seines Körpers nicht alles wieder verdorben hätte. Von dieser Seite hätte ihm die Natur unmöglich ärger mitspielen können. Er hatte krumme Beine, einen Höcker wie ein Kamel, schiefe Augen, einen Mund, der von einem Ohr zum andern reichte, und eine Nase, die einem Schweinsrüssel ähnlich sah; mit einem Worte: er war ein zweiter Äsop, und man konnte ihn nicht ansehen, ohne sich zu ärgern, daß eine so schöne Seele in einem so häßlichen Gehäuse stecken sollte. Der arme Prinz durfte sich’s mit einer solchen Figur nicht verdrießen lassen, daß man ihn «Krummbuckel» nannte, wiewohl sein wahrer Name Alazin war; aber trotz seinem Spottnamen und seiner Gestalt hatte er die Gabe, sich beliebt zu machen; und sein Verstand und seine angenehme Gemütsart erwarben ihm gar bald die Herzen wieder, die sein erster Anblick zurückschreckte.

Der König Runzelwig, dem seine Vergrößerungsprojekte näher am Herzen lagen als das Glück seines Sohnes, warf seine Augen auf ein benachbartes Königreich, das er schon lange gern mit guter Art seinen Staaten einverleibt hätte; denn er war ein großer Liebhaber von dem, was man in der politischen Kunstsprache arrondieren nennt. Ein Heuratstraktat zwischen seinem Sohne und der Erbin dieses Landes schien ihm hiezu das schicklichste Mittel zu sein; und er war, ohne den ersten zu fragen, schon so weit damit gekommen, daß nichts mehr daran fehlte als die Hochzeit. Die Partie schien ihm um so schicklicher, weil man schwerlich in allen fünf Weltteilen eine Prinzessin hätte finden können, welcher es weniger geziemt hätte, sich über die Mißgestalt des Prinzen Krummbuckels aufzuhalten, als diese. Denn, um ihr Bild mit einem Zuge zu machen, sie war an Seele und Leib das wahre Seitenstück des Prinzen: ebenso abscheulich von außen und ebenso liebenswürdig von innen. Sie war so zusammengewachsen, daß man, ohne etwas, das einem Kopfe (wiewohl eher von einem Affen als von einem Menschen) ähnlich sah, gar nicht gewußt hätte, was man aus ihrer Figur machen sollte. Dafür aber hatte sie Verstand wie ein Engel, und wenn es erlaubt gewesen wäre, sich die Augen verbinden zu lassen, wenn man Audienz bei ihr hatte oder in ihrer Gesellschaft war, so würde man ganz bezaubert von ihr weggegangen sein.

Sobald der König Runzelwig das Bildnis der Prinzessin Marmotte (denn so nannte man sie, wiewohl ihr wahrer Name Klaremonde war) für seinen Sohn erhalten und es unter den Thronhimmel in seinem Audienzsaal aufgestellt hatte, ließ er den Prinzen rufen und sagte ihm in einem gebieterischen Tone, er müßte nun seine Augen daran gewöhnen, in diesem Bildnisse die Prinzessin zu sehen, die ihm zur Gemahlin bestimmt sei. Krummbuckel warf einen Blick auf das Bildnis (welches der Maler gleichwohl, wie man sich vorstellen kann, soviel möglich zu verschönern gesucht hatte) und fand es so abscheulich, daß er sogleich die Augen davon wegwandte. «Sie gefällt dir also nicht?» sagte der König. «Nein, Herr Vater», antwortete der Prinz, «und ich will nicht hoffen, daß Sie mir zumuten werden, einen Wechselbalg zu heuraten.» – «Wahrhaftig», rief Runzelwig, indem er Stirne und Nase zugleich rümpfte, «dir steht es auch wohl an, eine Prinzessin, die ich selbst für dich ausgesucht habe, nicht schön genug zu finden, da du doch selbst ein kleines Scheusal bist, wovor man davonlaufen möchte!» – «Eben darum will ich mich mit keinem andern Scheusale vermählen», sagte Krummbuckel; «ich habe genug zu tun, mich selbst zu ertragen; wie ginge mir’s erst, wenn ich noch eine solche Gesellschafterin hätte?» – «Ich verstehe», erwiderte der König in einem beleidigenden Tone; «du besorgest, eine neue Zucht Affen in die Welt zu setzen? Aber sei darum unbekümmert! Du sollst sie heuraten; gern oder ungern, gilt mir gleich; genug, daß ich es so haben will!» Der Prinz antwortete nichts, machte eine tiefe Verbeugung und begab sich weg.

Runzelwig, der nie den geringsten Widerstand hatte leiden können, ward über die Widerspenstigkeit seines Sohnes so aufgebracht, daß er ihn alsbald in einen Turm einsperren ließ, der vor alters für rebellische Prinzen erbaut worden war. Weil sich seit ein paar hundert Jahren keine dergleichen gefunden hatten, so war alles darin in ziemlich schlechtem Stande. Zimmer und Möbeln schienen von undenklichen Zeiten her zu sein. Der Prinz verlangte zu seiner Unterhaltung Bücher: man erlaubte ihm, deren soviel er wollte aus der Bibliothek des Turms zu nehmen; aber da er sie lesen wollte, fand er die Sprache so alt, daß er nichts davon verstehen konnte. Er ließ sie liegen, nahm sie über eine Weile wieder vor, und da er nicht nachließ, bis er endlich hier und da einen Sinn herausbrachte, so halfen sie ihm wenigstens die Zeit in seiner Einsamkeit zu kürzen.

Inzwischen hatte der König Runzelwig durch Abgesandte bei seinem Nachbar förmlich um Marmotten anhalten lassen. Das Bildnis des Prinzen Krummbuckel wurde in einer prächtigen Galerie aufgestellt und die Prinzessin herbeigeholt, um ihren künftigen Gemahl in Augenschein zu nehmen. Da sie den feinsten Geschmack und eine nicht gemeine Zärtlichkeit der Empfindung besaß, so kann man sich einbilden, wie ihr dabei zumute ward. Die arme Prinzessin fühlte auf den ersten Blick die ganze Grausamkeit ihres Schicksals; sie schlug die Augen nieder und weinte bitterlich. Der König, ihr Vater, ungehalten über ein solches Betragen, das nach seiner Vorstellungsart äußerst albern und unschicklich war, nahm einen Spiegel, hielt ihn seiner Tochter vor die Nase und sagte in einem unfreundlichen Tone: «Da ist auch wohl noch viel zu weinen! Schau einmal hieher und bekenne, daß du dich nichts zu beklagen hast!» «Wenn mir’s so not um einen Mann wäre, gnädiger Herr», antwortete sie, «so hätte ich vielleicht unrecht, so delikat zu sein; aber ich wünsche und verlange ja nichts anders, als mein Schicksal allein zu tragen, ohne den Verdruß, mich zu sehen, mit jemand teilen zu wollen. Man lasse mich doch die unglückliche Prinzessin Marmotte bleiben, so will ich wohl zufrieden sein oder mich doch wenigstens über nichts beklagen!» Die arme Prinzessin hatte keine Mutter mehr, die sich ihrer hätte annehmen können; der König, ihr Vater, dessen Fehler die Weichherzigkeit nie gewesen war, blieb bei ihren Vorstellungen und Tränen ungerührt, und sie mußte mit den Gesandten des Königs Runzelwig abreisen.

Während nun alles dies vorging, hatte Prinz Krummbuckel schlimme Zeit in seinem Turme. Kein Mensch durfte ein Wort mit ihm reden; er hatte außer seinen alten Büchern nicht den geringsten Zeitvertreib; man gab ihm schlecht zu essen, und seine Hüter hatten Befehl, ihn durch alle Arten von übler Begegnung mürbe zu machen. König Runzelwig war ein Mann, der sich Gehorsam zu verschaffen wußte; aber gleichwohl hatten die Leute den Prinzen so lieb, daß die Befehle seines hartherzigen Vaters eben nicht aufs strengste vollzogen wurden.

Eines Tages, da er in einer großen Galerie auf und ab ging und den Gedanken über sein trauriges Schicksal nachhing, das ihn so häßlich und mißgeschaffen hatte geboren werden lassen und ihm nun mit aller Gewalt auch noch ein Scheusal von einer Gemahlin aufdringen wollte, warf er die Augen von ungefehr auf die Fensterscheiben, die er mit Gemälden von trefflicher Zeichnung und von den lebhaftesten Farben bemalt sah. Weil er ein großer Liebhaber der Kunst war, so verweilte er sich mit desto mehr Vergnügen bei dieser Glasmalerei; aber was die darauf vorgestellten Historien bedeuten sollten, konnte er nicht herausbringen. Seine Verwunderung nahm nicht wenig zu, da er auf einem dieser Gemälde einen Menschen erblickte, der ihm so ähnlich sah, als ob es sein Bildnis gewesen wäre. Dieser Mensch befand sich in dem obersten Geschosse des Turmes und suchte in der Mauer, wo er einen goldenen Kugelzieher fand, mit welchem er ein Kabinett aufschloß. Es war noch viel anderes, das ihm sonderbar vorkam; aber das allersonderbarste däuchte ihm doch, daß er beinahe auf allen Scheiben sein Bildnis antraf. Unter anderm sah er auch eine wunderschöne junge Dame von so feiner und geistreicher Gesichtsbildung, daß er sich gar nicht satt an ihr sehen konnte. Sein Herz schien ihm etwas bei diesem Bilde zu sagen, das es ihm noch nie gesagt hatte, und er verweilte sich so lange dabei, bis die Nacht einbrach und er nichts mehr unterscheiden konnte.

Wie er wieder in sein Zimmer zurückkam, nahm er das erste alte Manuskript vor, das ihm in die Hände fiel. Die Blätter waren von Pergament mit zierlich bemalten Rändern, und die Deckel, in die es geheftet war, von Gold, mit verschlungnen Namensbuchstaben von blauem Schmelz. Aber wie groß war sein Erstaunen, da er es aufschlug und die nehmlichen Personen und Geschichten darin gemalt fand, die er auf den Fensterscheiben gesehen hatte! Es war auch etwas darunter geschrieben; aber er konnte, mit aller Mühe, die er sich gab, nicht herausbringen, was es bedeutete. Indem er so herumblätterte, fand er ein Blatt, worauf ein Chor Musikanten gemalt war, die sich sogleich zu beleben schienen und zu musizieren anfingen. Er kehrte das Blatt um und fand ein anderes, wo Ball gegeben wurde; die Damen waren alle sehr schön und prächtig geputzt, und alles fing zu tanzen und zu springen an. Er kehrte noch ein Blatt um, und ihm kam der Geruch eines herrlichen Gastmahls entgegen: eine Menge kleiner Figuren saßen um eine lange Tafel und ließen sich’s schmecken. Eine davon wandte sich an ihn. «Auf deine Gesundheit, Prinz Krummbuckel», sagte sie; «laß dir’s angelegen sein, uns unsre Königin wiederzugeben; wenn du es tust, so wird es dein Schade nicht sein; tust du es nicht, so wird dir’s übel bekommen.»

Bei diesen Worten überfiel den Prinzen, wie natürlich, eine solche Furcht, daß er das Buch aus der Hand fallen ließ und mit einem Schrei in Ohnmacht sank. Seine Hüter liefen herbei und ließen nicht nach, bis sie ihn wieder zu sich selbst brachten. Wie er wieder reden konnte, fragten sie ihn, was ihm denn begegnet wäre. Er antwortete ihnen: Man gebe ihm so schlecht und wenig zu essen, daß er ganz schwach davon würde und tausend seltsame Einbildungen ihm durch den Kopf liefen; und so wäre es ihm vorgekommen, er sehe und höre in diesem Buche so erstaunliche Dinge, daß er vor Entsetzen die Besinnung verloren habe. Seine Hüter betrübten sich darüber und brachten ihm sogleich was Besseres zu essen, wiewohl es ihnen scharf verboten war. Als er gegessen hatte, nahm er das Buch in ihrer Gegenwart wieder vor, und da er von allem dem, was er vorhin gesehen zu haben glaubte, nichts mehr fand, so zweifelte er nicht mehr, daß es bloße Einbildungen gewesen sein müßten.

Am folgenden Tage ging er wieder in die Galerie und sah alles wieder, was er gestern auf den gemalten Fensterscheiben gesehen hatte; auch sah er die schöne junge Person wieder, die einen Abdruck ihres Bildes in seinem Herzen zurückgelassen hatte. Überall fand er sich selbst, in einer eben solchen Kleidung wie die seinige; und immer stieg diese Figur in das oberste Geschoß des Turmes und fand einen goldenen Kugelzieher in der Mauer. «Dahinter muß ein sonderbares Geheimnis stecken», sprach er zu sich selbst; «diesmal habe ich gut gegessen; es kann keine Einbildung sein. Vielleicht finde ich im obersten Geschoß etwas, das mir Licht in der Sache gibt.» Er stieg hinauf, schlug mit einem Hammer gegen die Mauer, glaubte, eine Stelle, welche hohl schallte, zu bemerken, schlug ein Loch hinein und fand einen zierlich gearbeiteten goldenen Kugelzieher. Indem er sich bedachte, wozu er ihn wohl gebrauchen könnte, ward er in einem Winkel eines alten Schrankes von schlechtem Holze gewahr. Er sah sich überall daran nach einem Schlosse um, aber vergebens; er konnte nirgends finden, wie er aufzumachen wäre. Endlich bemerkte er ein kleines Loch; und da ihm sogleich einfiel, daß ihm sein Kugelzieher hier dienlich sein könnte, so steckte er ihn hinein, zog hierauf mit aller Gewalt, und der Schrank ging auf. Nun fand sich’s, daß er von innen so schön war, als er von außen alt und schlecht geschienen hatte. Alle Schubladen waren von zierlich ausgestochenem Ambra oder Bergkristall; und wenn man eine herauszog, fand man oben, unten und zu beiden Seiten wieder kleinere, die mit Deckeln von Perlenmutter voneinander abgesondert und mit einer unendlichen Menge seltner und kostbarer Sachen angefüllt waren. Der Prinz fand darin die schönsten Waffen von der Welt, reiche Kronen, schöne Bildnisse, herrliche Juwelen und andre Dinge, die ihm großes Vergnügen machten. Er zog immer heraus, ohne müde zu werden und ohne daß es ein Ende nehmen wollte. Endlich fand er auch einen kleinen Schlüssel, der aus einem einzigen Smaragd geschnitten war und womit er eine kleine Türe am Boden des Schrankes aufmachte. Als sie aufging, wurde er von dem Glanz eines Karfunkels ganz verblendet, der den Deckel einer aus dem nehmlichen kostbarn Steine gearbeiteten großen Schale ausmachte. Er hob ihn ab; aber wie wurde ihm zumute, als er sie mit Blut angefüllt und eine abgehauene Manneshand darin sah, die ein reich besetztes Bildnis zwischen den Fingern hielt! Er fuhr bei diesem Anblick zusammen, seine Haare richteten sich empor, seine Knie schlugen gegeneinander, und er konnte sich kaum auf seinen Füßen erhalten. Er setzte sich auf den Boden und hielt die Schale immer noch mit weggewandten Augen in der Hand, unschlüssig, ob er sie wieder hinlegen, wo er sie gefunden, oder was er mit ihr anfangen sollte. Daß irgendein großes Geheimnis unter allem dem, was ihm in diesem Turme begegnet war, verborgen sein müsse, schien ihm nicht zweifelhaft. Die Worte, welche die kleine Figur in dem wundervollen Buche zu ihm gesprochen hatte, kamen ihm wieder in den Sinn. Sein Glück oder Unglück konnte davon abhangen, wie er sich in diesem Augenblicke benehmen würde; und diese außerordentlichen Dinge schienen ihn auch zu außerordentlicher Entschlossenheit aufzufordern. Kurz, er rief allen seinen Mut zusammen, tat sich Gewalt an, die Augen auf diese in Blute badende Hand zu heften, und: «O du unglückliche Hand», sprach er, «wenn du mich durch irgendein Zeichen von deinem Schicksale benachrichtigen kannst und ich fähig bin, dir zu dienen, so sei gewiß, daß ich ein Herz habe, alles für dich zu tun.»

Bei diesen Worten schien die Hand sich auf einmal zu beleben, sie bewegte ihre Finger und sprach mit ihm durch Zeichen, die er, weil er diese Art von Sprache ehmals gelernt hatte und viele Fertigkeit darin besaß, so gut verstund, als ob jemand in seiner Muttersprache mit ihm gesprochen hätte. «Wisse», sagte sie ihm, «daß du alles für denjenigen tun kannst, von welchem die Wut eines Eifersüchtigen mich abgesondert hat. Du siehst in diesem Bilde die Anbetenswürdige, die meines Unglücks Ursache ist. Gehe unverzüglich in die Galerie und gib acht auf die Stelle, die von den einfallenden Sonnenstrahlen am stärksten vergüldet wird; dort suche, und du wirst meinen Schatz finden.» Hier hörte die Hand auf zu reden, wiewohl der Prinz noch verschiedene Fragen an sie tat. Endlich fragte er, wo er sie hintun sollte, und sie antwortete ihm wieder durch Zeichen, er sollte sie wieder in den Schrank legen. Er gehorchte, schloß alles wieder zu, verbarg den Kugelzieher in der Mauer, wo er ihn gefunden hatte, und stieg, voll Ungeduld nach dem weitern Erfolg, wieder in die Galerie hinab.

Bei seinem Eintritt fingen die Fensterscheiben außerordentlich an zu zittern und zu klirren; er sah umher, um zu bemerken, wohin die Sonnenstrahlen fielen, und sah, daß es auf das Bildnis eines jungen Menschen war, dessen Schönheit und große Miene ihn ganz bezauberte. Er rückte dieses Gemälde weg und fand nichts als ein Getäfel von Ebenholz mit goldenen Leisten wie an den übrigen Wänden der Galerie; aber da er seine Fensterscheiben zu Rate zog, sah er, daß es sich aufschieben ließ. Er schob es also auf und befand sich nun am Eingang eines Vorsaals von Porphyr, der mit schönen Bildsäulen geziert war und zu einer breiten Treppe von Agat führte, deren Seitenlehnen mit Gold eingelegt waren. Er stieg hinauf, kam in einen Saal, wo die Wände mit spiegelhellem Lasur überzogen waren, und aus diesem in eine lange Reihe herrlicher Zimmer, deren immer eines das andere an Pracht und Glanz und Schönheit der Malereien und Kostbarkeit der Möblierung übertraf, bis er sich endlich in einem Kabinett befand, wo er auf einem prächtigen Ruhebette eine Dame von außerordentlicher Schönheit erblickte, die zu schlafen schien. Indem er so leise als möglich hinzutrat, glaubte er zu sehen, daß sie vollkommen dem Bildnis gleiche, welches ihm die abgehauene Hand gezeigt hatte. Ihr Schlummer schien unruhig zu sein, und ihr reizendes Gesicht schien etwas Schmachtendes und die Spuren eines langwierigen Grams zu verraten.

Der Prinz betrachtete sie noch mit großer Aufmerksamkeit und Rührung, indem er, aus Furcht, sie aufzuwecken, den Atem zurückhielt, als sie im Schlafe zu sprechen anfing und in diese von Seufzern halb erstickte Worte ausbrach: «Denkst du, Treuloser, daß ich dich jemals lieben könne, nachdem du mich von meinem Alzindor entfernt hast? Du, der vor meinen Augen sich unterstund, eine so liebe Hand von einem Arme zu trennen, der dir ewig furchtbar bleiben muß! Denkst du mir auf solche Art deine Ehrerbietung und Zärtlichkeit zu beweisen? O Alzindor, mein Geliebter! soll ich dich denn niemals wiedersehen?» Der Prinz sah mit äußerster Bewegung, wie die Tränen bei diesen Worten unter ihren geschloßnen Augenlidern hervorzudringen suchten und über ihre blassen Wangen, wie die Tränen der Aurora an sinkenden Lilien, herunterrollten. Er stund noch am Fuße des Ruhebettes, ungewiß, ob er sie wecken oder noch länger in einem so traurigen Schlummer lassen sollte, als ihn auf einmal eine liebliche Musik, wie von einer Menge zusammenstimmender Nachtigallen und Distelfinken, stutzen machte; und gleich darauf kam ein Adler von ungewöhnlicher Größe herangezogen, der einen goldenen Zweig voller kirschenförmigen Rubinen in seinen Klauen hielt. Er heftete seine Augen unverwandt auf die schlafende Schöne, als ob er in die Sonne sähe; dann entfaltete er plötzlich seine Flügel, um mit einer brünstigen Sehnsucht, die in allen seinen Federn und Schwingen zitterte, auf sie zuzufliegen; aber eine unsichtbare Gewalt schien einen magischen Kreis um sie gezogen zu haben, den er nicht durchdringen konnte. Itzt betrachtete er den Prinzen mit großer Aufmerksamkeit, näherte sich ihm und gab ihm den goldenen Zweig. In diesem Augenblick erhoben die Vögel, die ihn begleiteten, ein melodisches, aber so durchdringendes Getöne, daß es in allen Gewölben des Palastes widerhallte.

Der Prinz, dessen Verstand nicht müßig war, alle diese Ereignisse miteinander zu vergleichen, schloß daraus, daß diese Dame ohne Zweifel bezaubert und die Ehre, sie zu befreien, ihm vorbehalten sei. Er näherte sich ihr, setzte ein Knie auf den Boden und berührte sie mit dem goldnen Zweige. Alsbald erwachte die schöne Dame, erblickte den entziehenden Adler und rief ihm mit ausgebreiteten Armen nach: «Bleibe, mein Geliebter, bleibe!» Aber der königliche Vogel stieß einen traurigen und durchdringenden Laut aus und flog mit allen seinen befiederten Sängern aus ihrem Gesichte.

Die Dame wandte sich sogleich gegen den Prinzen: «Verzeihe», sprach sie, «daß eine Empfindung, welche stärker ist als ich, der Dankbarkeit zuvorgekommen ist. Ich weiß, was ich dir schuldig bin: du hast mich an das Licht zurückgerufen, das ich seit zweihundert Jahren nicht gesehen habe; du allein konntest es; und der Zauberer, dessen verhaßte Liebe die Ursache alles meines Unglückes ist, vermochte nicht zu verhindern, was das Schicksal durch dich zu bewürken beschlossen hatte. Es steht in meiner Macht, dir meine Dankbarkeit zu beweisen, und ich brenne vor Verlangen, sie auszuüben. Sage mir, was du wünschest: ich bin eine Fee und will meine ganze Macht anwenden, dich glücklich zu machen.» – «Große Frau», antwortete Krummbuckel, «wenn Eure Wissenschaft bis ins Innere der Herzen eindringen kann, so müßt Ihr sehen, daß ich mit allem, was ich mein Unglück nennen muß, weniger zu beklagen bin als jemand anders.» – «Dies ist eine Würkung deines guten Verstandes», versetzte die Fee; «aber gleichwohl kann ich den Gedanken nicht ertragen, deine Schuldnerin zu bleiben. Was wünschest du? Rede!» – «Ich wünsche, Euch den schönen Alzindor wiederzugeben», sagte der Prinz. Die Fee heftete einen Blick auf ihn, worin Bewunderung und Freundschaft sich auf eine Art ausdrückten, die über alle Worte ist. «Ich fühle den Wert dieser Großmut», sprach sie; «aber was du wünschest, muß durch eine andere Person zustande gebracht werden, die dir nicht gleichgültig ist. Dies ist alles, was ich davon sagen kann. Laß mich also nicht länger vergebens bitten! Verlange etwas, das dich selbst angeht!» – «Schöne Fee», antwortete der Prinz, «ihr sehet, wie mich die Natur mißhandelt hat; zum Spotte nennt man mich Krummbuckel. Ich verlange kein Adonis zu sein, aber wenn ich nur nicht lächerlich aussähe.» – «Du verdienest mehr als dies», sagte die Fee, indem sie ihn dreimal mit dem goldnen Zweige berührte; «gehe und sei so schön von außen, als du es von ihnen bist!»

Mit diesen Worten verschwand die Fee aus seinen Augen; der Palast und alle die Wunderdinge, die der Prinz darin gesehen hatte, verschwanden mit ihr, und er befand sich in einem dicken Walde, mehr als hundert Meilen von dem Turme, worein ihn der König Runzelwig hatte setzen lassen.

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