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Märchenbasar

Der goldene Zweig

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Während sich dieses mit dem Prinzen zutrug, gerieten seine Wächter in die entsetzlichste Verlegenheit, wie sie ihn um die Zeit des Abendessens nicht in seinem Zimmer fanden. Sie suchten ihn überall im ganzen Turme und fielen schier in Verzweiflung, da nirgends die geringste Spur, was aus ihm geworden sein könnte, zu sehen war. Dem Könige die Wahrheit von der Sache zu hinterbringen, war keine Möglichkeit: er würde ihnen nicht geglaubt, sie für Mitschuldige an der Flucht seines Sohnes gehalten und sie dafür aufs grausamste bestraft haben. Nach langem Beratschlagen fanden sie keine bessere Auskunft, als den kleinsten aus ihrem Mittel mit einem großen Buckel auszustaffieren, ihn, als ob es der Prinz wäre, bei gezogenen Vorhängen in Krummbuckels Bette zu legen und dem Könige die Nachricht zu bringen, daß sein Sohn sehr unpäßlich sei. Dieser Anschlag wurde ungesäumt ins Werk gesetzt. Runzelwig, der sich einbildete, der Prinz stelle sich nur krank, um ihn zu erweichen und seine Freiheit wiederzuerhalten, würdigte die Nachricht von seiner vorgegebenen Krankheit keiner Aufmerksamkeit; je gefährlicher sie die Sache machten, je gleichgültiger zeigte sich der König dabei, und dies war es eben, was die Hüter gehofft hatten.

Immittelst war die Prinzessin Marmotte, in eine Sänfte bestmöglich eingepackt, am Hofe Königs Runzelwigs glücklich angelangt. Der König ging ihr entgegen; aber wie man sie, nicht ohne viele Mühe, aus ihrer Maschine herausgehoben hatte und er sie so verwachsen, krüppelhaft und mißgeschaffen fand, daß sie kaum einer menschlichen Figur ähnlich sah, konnte er sich nicht entbrechen, ihr ein Kompliment zu machen, das für eine Schwiegertochter und zum Willkomm eben nicht sehr verbindlich war. «Ei, zum Henker, Prinzessin Marmotte», sagte er, «es steht Ihnen auch wohl an, meinen Krummbuckel zu verachten! Ich läugne es nicht, er ist ein häßliches Tier; aber, wahrhaftig, er ist es noch bei weitem nicht so sehr als Sie.» «Gnädiger Herr», antwortete die Prinzessin, «ich gefalle mir selbst nicht wohl genug, um über die Unhöflichkeiten, so Sie mir sagen, empfindlich zu werden; indessen weiß ich nicht, ob Sie es für ein Mittel halten, mich desto eher zur Liebe Ihres reizenden Krummbuckels zu verführen. Aber dieses erkläre ich hiermit, daß ich ihn, ungeachtet meiner armseligen Gestalt, nicht heuraten werde und lieber ewig die Prinzessin Marmotte als die Königin Krummbuckel heißen will.» Der König Runzelwig entrüstete sich nicht wenig über diese Antwort. «Sie irren sich stark», versetzte er, «wenn Sie damit loszukommen denken. Da ich mich einmal in die Sache eingelassen habe, so muß sie zustande kommen, das können Sie versichert sein. Ich mute Ihnen nicht zu, daß Sie meinen Sohn lieben sollen; aber, bei Gott! Sie sollen ihn heuraten, Prinzessin, und wenn Sie an ihm ersticken müßten! Ihr Herr Vater, der über Sie zu befehlen hat, hat mir sein Recht abgetreten, indem er Sie in meine Hände geliefert hat, und ich werde es geltend zu machen wissen.» – «Es gibt Fälle», erwiderte die Prinzessin, «wo uns das Recht zu wählen zusteht. Man hat mich wider meinen Willen hiehergebracht, und ich werde Sie als meinen tödlichen Feind ansehen, wenn Sie Gewalt gegen mich gebrauchen.» Der König, den diese Rede noch mehr aufbrachte, entfernte sich, ohne ihr weiter zu antworten, ließ sie in die Zimmer des Palastes bringen, die er für sie hatte zurechte machen lassen, und gab ihr einige Hofdamen, die den Auftrag hatten, alles zu versuchen, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Diese Damen taten ihr möglichstes, sich bei ihr in Gunst zu setzen. Sie fanden bald Ursache genug, die Prinzessin wegen der Vorzüge ihres Geistes zu bewundern, und ihre ungemeine Leutseligkeit kam ihnen, indem sie sich um ihr Vertrauen bewarben, auf halbem Wege entgegen; aber sobald sie die Saite, deren Ton der Prinzessin so zuwider war, berühren wollten, hörte ihre Gefälligkeit auf, und sie mußten alle Hoffnung aufgeben, über diesen Punkt etwas bei ihr auszurichten.

Bald hernach kamen die Hüter des Prinzen, welchen bange ward, daß der König ihre List und die Flucht seines Sohnes auf die eine oder andere Art entdecken möchte, und kündigten ihm in großer Bestürzung an, daß er gestorben sei. Runzelwig, so hartherzig er vorher gewesen war, kam bei dieser Nachricht schier von Sinnen; er heulte und tobte wechselweise; und weil er sonst niemand fand, über den er seine Wut mit einigem Schein rechtens hätte auslassen können, so mußte es die Prinzessin Marmotte entgelten, und er ließ sie unverzüglich statt des Verstorbenen in den Turm einsperren.

Die arme Prinzessin wußte nicht, wie ihr geschah, da sie sich auf einmal so übel behandelt sehen mußte; und da es ihr nicht an Herz fehlte, so sprach sie, wie es ihr zustund, gegen ein so ungebührliches Verfahren. Sie glaubte, man würde es dem Könige hinterbringen, aber es unterstund sich niemand, ihm davon zu sprechen. Sie schrieb auch an ihren Vater, wie übel man mit ihr umginge, und lebte immer der Hoffnung, daß er bald Mittel finden würde, sie wieder in Freiheit zu setzen. Aber sie hoffte vergebens: alle ihre Briefe wurden aufgefangen und dem Könige gebracht.

Inzwischen suchte sie sich ihre Gefangenschaft so gut sie konnte zu erleichtern und ging alle Tage in die Galerie, um die Gemälde auf den Fensterscheiben zu betrachten. Nichts kam ihr sonderbarer vor als die Menge außerordentlicher Dinge, die sie darauf vorgestellt sah, und daß sie überall sich selbst vorgestellt fand. «Es muß», dachte sie, «seit ich in diesem Lande bin, die Maler eine seltsame Krankheit überfallen haben, daß sie so viel Vergnügen daran finden, mich zu malen, als ob es sonst keine lächerlichen Figuren gäbe als die meinige. Oder ist ihre Absicht nur, die Schönheit dieser reizenden jungen Schäferin durch den Kontrast noch mehr zu erheben?» Gleich darauf fiel ihr auch ein junger Schäfer in die Augen, dessen ungemeine Schönheit sie nicht gleichgültig betrachtete. «Wie sehr ist man zu bedauren», sagte sie, «wenn man von der Natur so unmütterlich behandelt worden ist wie ich! Wie glücklich müssen sich diese schönen Leute fühlen!» Bei diesen Worten traten ihr die Tränen in die Augen. Sie warf einen Blick in einen Spiegel und fand sich so abscheulich, daß sie sich nicht schnell genug wieder umdrehen konnte. Indem sah sie, nicht ohne Entsetzen, ein kleines altes Weibchen vor sich stehen, die noch weit häßlicher war als sie selbst; ihre Gestalt und schlechte Kleidung, welche völlig so waren, wie man in den Märchen die Feen zuweilen erscheinen sieht, und diese plötzliche Art, auf einmal dazusein, brachte die Prinzessin sogleich auf die Vermutung, daß sie eines dieser wundervollen Wesen sein müsse.

«Prinzessin», sprach das alte Mütterchen zu ihr, «wie du mich hier siehest, bin ich mächtig genug, dir das zu geben, dessen Ermangelung dir so schmerzlich ist. Wähle zwischen Schönheit und Tugend! Willst du schön sein, du sollst es werden; aber sobald du schön bist, wirst du eitel, einbildisch, kokett und – noch etwas Ärgers werden; willst du bleiben, wie du bist, so wirst du gut, verständig und bescheiden bleiben. Wähle!» «Da ist nichts zu wählen», antwortete Marmotte, indem sie der Fee in die Augen sah; «aber ist denn die Schönheit mit der Tugend so unverträglich?» – «Nicht schlechterdings», antwortete die Alte; «aber wenn sie nun gerade bei dir unverträglich sind?» – «Nun», rief die Prinzessin in entschloßnem Tone, «so will ich ewig häßlich bleiben!» «Bedenke dich wohl, Marmotte», sprach die Fee; «ich will dir nichts Unangenehmes sagen, aber es ist doch was Seltsames, daß jemand lieber Grausen erwecken als gefallen wollen kann.» – «Lieber alles Unglück in der Welt», erwiderte die Prinzessin, «als einen Augenblick aufhören, edel und gut zu sein.» – «Ich hatte bloß für dich meinen weiß und gelben Muff mitgebracht», fuhr die Alte fort; «hättest du am gelben Ende hineingeblasen, so würdest du auf der Stelle so schön geworden sein wie diese Schäferin, die du so sehr bewundert hast, und du würdest den schönen Hirten, dessen Bild deine Augen mehr als einmal auf sich zog, zum Liebhaber bekommen haben. Hauchest du hingegen am weißen Ende hinein, so wirst du bleiben, wie du bist, aber immer fester auf dem Wege der Tugend fortschreiten, den du schon so mutig betreten hast.» – «O mein liebes Mütterchen», rief die Prinzessin, «versagt mir diese Wohltat nicht; sie wird hinlänglich sein, um mich über die Verachtung der Welt hinwegsetzen zu können.» Die Fee gab ihr den Muff, und Marmotte vergriff sich nicht: sie hauchte in das weiße Ende, und die Fee nahm ihren Muff wieder und verschwand.

Wir müssen aufrichtig sein: es gab Augenblicke, wo die gute Prinzessin – nicht ihre Wahl bereuete, aber wo sie doch sehr lebhaft den Wert des Opfers fühlte, das sie der Tugend gebracht hatte. Indessen fehlte es ihr, auch in solchen Augenblicken, nicht an guten Gedanken, die sie nicht nur bald wieder mit sich selbst zufrieden machten, sondern ihre Seele noch mit einem Licht und einem Wonnegefühl erfüllten, das nur das innige Bewußtsein unsers innern Wertes und daß wir gedacht und gehandelt haben, wie wir sollen, gewähren kann.

Inzwischen hoffte sie noch immer, daß ihre Briefe an ihren Vater nicht ohne Würkung bleiben und daß er, wenn Runzelwig in Güte nicht zu bewegen wäre, an der Spitze eines Kriegsheeres kommen würde, seine einzige Tochter zu befreien. Sie erwartete diesen Augenblick mit Schmerzen und hätte gar zu gern in das oberste Geschoß des Turmes hinaufsteigen mögen; aber mit einer Figur wie die ihrige schien es eine völlige Unmöglichkeit. Doch was ist dem Entschloßnen und Geduldigen unmöglich? Genug, sie versuchte es, und wiewohl sie mehr als zwanzigmal absetzen und ausruhen mußte und beinahe einen halben Tag darüber zubrachte, so erkroch sie doch endlich mit unsäglicher Mühe die oberste Stufe. Ihr erstes war, durchs Fenster ins Feld hinauszusehen. Da sie aber immer nichts kommen sah, entfernte sie sich vom Fenster, um ein wenig auszuruhen; und indem sie sich an die Mauer anlehnte, welche Prinz Krummbuckel aufgerissen und ziemlich schlecht wieder zugeflickt hatte, ging ein Stückchen Pflaster los, und der goldene Kugelzieher fiel klingelnd auf den Boden vor sie hin. Sie hob ihn auf und bedachte sich, wozu er wohl dienen könnte; und da sie an dem Schranke kein Schloß, sondern nur eine Öffnung sah, in welche der Kugelzieher paßte, so fiel ihr sogleich ein, zu versuchen, ob sich der Schrank nicht mit Hülfe desselben öffnen lassen würde. Es gelang ihr auch, wiewohl mit vieler Mühe, und sie war nicht weniger als der Prinz über alle die schönen und seltnen Sachen entzückt, womit die unzähligen Schubladen angefüllt waren. Endlich fand sie auch das goldene Türchen, die Schale von Karfunkel und die im Blut schwimmende Hand. Sie fuhr über ihrem Anblick zusammen und würde das Gefäß vor Entsetzen haben fallen lassen, wenn eine unsichtbare Gewalt sie nicht gehalten hätte. Indem hörte sie eine liebliche Stimme, die zu ihr sagte: «Fasse Mut, Prinzessin, deine Glückseligkeit hängt an diesem Abenteuer.» – «Ach Gott!» sprach sie zitternd, «was vermag ich zu tun?» – «Du mußt», sprach die Stimme, «diese Hand mit dir in dein Zimmer nehmen und sie unter deinem Hauptpfühle verbergen; und wenn du einen Adler an dein Fenster kommen siehst, so öffne ihm das Fenster und gib sie ihm.»

Es sind wohl wenig Dinge, vor denen die weibliche Natur mit solchem Grauen zurückschaudert wie vor dem, was die Stimme der Prinzessin zumutete. Das Herz kehrte sich ihr bei dem bloßen Gedanken im Leibe um. Aber auf der andern Seite war es augenscheinlich, daß höhere Mächte hier im Spiele waren, und sie fühlte sich aufgefordert, in einer so außerordentlichen Gelegenheit auch außerordentlichen Mut zu äußern, denn ohne Zweifel hing irgendeine große Entwicklung von ihrer Entschließung in diesem Augenblicke ab. Sie nahm also alle ihre Herzhaftigkeit zusammen, ergriff schaudernd die abgehauene Hand, die einem Körper von großer Schönheit und Stärke angehört zu haben schien, und erstaunte nicht wenig, sie, sobald sie aus dem Gefäße herausgenommen war, so rein zu sehen, als ob sie aus dem weißesten Wachse gebildet wäre. Sie hüllte sie in ein reines Tuch, das sie bei sich hatte, und verbarg sie in ihrem Rocke, schob hierauf alle Schubladen wieder hinein, schloß den Schrank zu und verbarg den goldenen Kugelzieher, so gut sie konnte, wo sie ihn gefunden hatte. Bald darauf kamen ihre Aufwärterinnen, die über ihr ungewöhnliches Verschwinden in große Unruhe geraten waren und sie überall im ganzen Turme gesucht hatten, bis es ihnen endlich einfiel, sie unter dem Dache zu suchen. Sie konnten nicht begreifen, wie Marmotte ohne ein Wunderwerk habe heraufkommen können, und trugen sie wieder herunter, ohne daß sie ihnen etwas von den außerordentlichen Dingen, die ihr begegnet waren, verraten hätte.

Es vergingen zwei Tage, ohne daß sich etwas Ungewöhnliches sehen ließ; aber in der dritten Nacht hörte sie ein Geräusche an ihren Fenstern. Sie zog ihren Vorhang und erblickte beim Mondschein einen großen Adler, der mit seinen Flügeln an das Fenster schlug. Sie kroch, so gut sie konnte, aus ihrem Bette heraus, rutschte ans Fenster und öffnete es, um den Adler hereinzulassen, der durch das Getöse, so er mit seinen Flügeln machte, ihr seine Freude und Dankbarkeit bezeugen zu wollen schien. Sie säumte nicht, ihm die Hand darzureichen. Er nahm sie in seine Klauen und verschwand; und wenig Augenblicke darauf sah sie den schönsten Jüngling vor sich stehen, den sie jemals gesehen hatte. Er war von mehr als gewöhnlicher Größe; seine Gesichtsbildung hatte etwas unbeschreiblich Edles und Anmutsvolles; ein reiches Diadem funkelte um seine Stirne, und in seinem ganzen Ansehen war etwas Blendendes, das ein Wesen von höherer Ordnung anzukünden schien. «Prinzessin», sagte er, «eine höhere Macht waltet über mein Schicksal wie über das deinige; sie bediente sich deiner, um mich in meinen natürlichen Stand wiederherzustellen; du hast ein Recht an meine wärmste Dankbarkeit.» Bei diesen Worten berührte er die Prinzessin mit dem Bilde der Fee, das er in der Hand hatte, und verschwand.

In dem nehmlichen Augenblicke sank die Prinzessin wie in eine angenehme Ohnmacht. Sie kam aber bald wieder zu sich selbst und war nicht wenig erstaunt, sich, ohne zu wissen, wie es zugegangen, am Ufer eines Bachs, der von hohen Gebüschen überschattet war, in der anmutigsten Gegend von der Welt zu finden. Aber wie groß war erst ihr Erstaunen, da sie die Veränderung, welche während ihrer kurzen Ohnmacht mit ihrer Person vorgegangen, inne wurde und bei einem Blick in das ruhige spiegelhelle Wasser erkannte, daß sie eben diese Schäferin war, deren Bild auf den Fensterscheiben der Galerie ihr so bezaubernd geschienen hatte. Sie mußte aller ihrer Vernunft aufbieten, und kaum reichte sie zu, um sich zu überreden, daß ihr Selbst noch das nehmliche sei. Bald besorgte sie, den Verstand verloren zu haben, bald, daß alles nur Täuschung sei und daß sie unversehens wieder in die vorige Marmotte zusammensinken würde. In der Tat hätte die Veränderung, wiewohl sie nur das Äußerliche betraf, nicht wohl größer sein können, denn aus der elendesten und grauenhaftesten Menschenfigur, die jemals gewesen war, sah sie sich in die schönste liebreizendste Person verwandelt. Ihr Wuchs hätte zu einer Diane oder Aurore und ihre Gesichtsbildung und jugendliche Blüte zu einer Hebe oder Psyche das Modell abgeben können. Sie trug (wie die Schäferin, von welcher sie nun das Original war) einen weißen, mit den feinsten Spitzen garnierten Anzug; ein Gürtel von kleinen Rosen und Jasminen, die feinste Schmelzarbeit hielt ihr Gewand um die schmalen Weichen zusammen; ihre schönen halbaufgebundnen Haare waren mit frischen Blumen durchwunden, und zierliche Halbstiefel von weißem Leder bekleideten den schönsten Fuß, der jemals den Samt eines kurzbewachsnen Grasbodens betreten hatte. Sie fand einen vergoldeten Schäferstab und einen mit Bändern und Blumen gezierten Hut neben sich im Grase, nebst einer Herde Schafe, die längs dem Ufer weideten und auf ihre Stimme ebenso folgsam hörten als der neben ihnen wachende Hund, der sie zu kennen schien und ihr liebkosete.

Welch eine wundervolle Verwandlung! und wie viele Betrachtungen hatte sie darüber anzustellen! Vorher war sie das häßlichste aller Geschöpfe gewesen, aber eine Prinzessin; jetzt das schönste Mädchen, das die Sonne jemals beschienen hatte, aber dafür auch nichts als eine Schäferin. Hatte sie beim Tausche gewonnen oder verloren? «Gewonnen, ohne allen Zweifel», wenigstens sagte sie es sich selbst mit der lebhaftesten Freude; aber es gab doch auch Augenblicke, wo ihr der Verlust ihres hohen Rangs nicht ganz gleichgültig war. Da die Sonne noch sehr hoch stand und nur schwache Lüftchen, die unter dem Laubgewölbe, wo sie sich befand, zu wohnen schienen, die Hitze des Tages milderten, so schlummerte sie unter diesen Betrachtungen unvermerkt ein – und wir benutzen diese Gelegenheit, um zu sehen, was indessen aus dem Prinzen Alazin (wie wir ihn künftig nennen wollen) geworden ist.

Wir verließen ihn, bei Verschwindung der Fee und des Zauberpalastes, wo ihm so wunderbare Dinge begegnet waren, hundert Meilen von seinem Turme, in einem ihm unbekannten Walde, wo er, sobald er zu sich selbst kommen konnte, über die Verwandlung, die mit ihm vorgegangen war, nicht weniger als die Prinzessin Marmotte über die ihrige, in die angenehmste Bestürzung geriet. Die Veränderung, welche das Berühren mit dem goldnen Zweige in seiner Figur hervorgebracht hatte, war so groß, daß Alazin den vormaligen Krummbuckel gar nicht mehr erkannte. Es brauchte einige Zeit, bis er das fortdauernde Gefühl, daß er die nehmliche Person sei, die er kaum gewesen war, mit seiner jetzigen Gestalt, die ein ganz neues Wesen aus ihm zu machen schien, in den gehörigen Einklang stimmen konnte. Er kam inzwischen unvermerkt an einen von hohen Erlen beschatteten Teich, wo sein Erstaunen aufs höchste stieg, indem er die Entdeckung machte, daß er Zug vor Zug dem schönen Schäfer glich, den er so vielmals, nicht ohne eine schmerzliche Vergleichung mit seiner damaligen Mißgestalt, auf den bemalten Fensterscheiben betrachtet hatte. Die Ähnlichkeit erstreckte sich bis auf die Kleidung; auch fand sich, damit ihm nichts zu einem Schäfer nach der Weise der Asträa oder der Hirten des Geßnerischen Arkadiens abginge, unvermerkt eine Herde schöner Schafe bei ihm ein, die ihn für ihren Herrn und Führer erkannte. Sogar für eine Hütte hatte die dankbare Fee gesorgt: Alazin fand sie, mit allem Zugehör einer schäferischen Haushaltung, am Ende des Waldes in einem anmutigen Tale, durch welches sich ein Bach schlängelte, an dessen Ufern zu beiden Seiten hie und da verschiedene Schäferwohnungen zwischen fruchtbaren Bäumen oder aus halbverdeckenden Gebüschen hervorragten. Das süße Gefühl der Freiheit und das Vergnügen, eines verhaßten Namens mit einer noch verhaßtern Gestalt los zu sein, ließen ihn eine gute Weile nicht daran denken, daß er mit dieser Figur und diesem Rahmen auch sein Königreich verloren hatte und daß der Sohn und Erbe eines Königs sich nun gefallen lassen mußte, seinem Szepter nichts als eine Herde Schafe und einen getreuen Hylas untertan zu sehen. Aber endlich dachte er doch daran; und seine Betrachtungen darüber würden vielleicht nicht die angenehmsten gewesen sein, wenn sein guter Verstand ihn nicht fähig gemacht hätte, sich seinem Schicksale mit guter Art zu unterwerfen; zumal, da er aus allem, was ihm begegnet war, augenscheinlich erkennen mußte, daß es von einer wohltätigen Macht geleitet werde.

Alazin hatte schon einige Zeit in diesem Hirtenlande gelebt, wo ihm seine Gestalt und sein gefälliges Betragen in wenig Tagen die Herzen der rohen, aber gutartigen Einwohner gewonnen hatte, als ihn ein geheimer Zug, den er für Zufall hielt, an den Ort führte, wo die schöne Schäferin schlummerte. Kaum war er nahe genug hinzugetreten, um sie genau zu betrachten, Himmel! wie wurde ihm zumute, da er das Original eben dieser reizenden Schäferin in ihr erkannte, die er auf den Fensterscheiben der Galerie so vielmals abgebildet gefunden und niemals ohne die zärtlichste Regung hatte ansehen können! Er würde, wofern er sich nicht gleich an einen Baum angehalten hätte, von der heftigen Würkung, die diese Überraschung auf sein ganzes Wesen machte, der Länge nach hingestürzt sein. Aber er erholte sich bald wieder, um sie aufs neue anzuschauen, oder vielmehr, das unbeschreibliche Vergnügen, das er beim Anschauen eines so vollkommnen Gegenstandes – einer Schönheit, die er bloß für den glücklichen Traum eines gefühlvollen Künstlers gehalten hätte – empfand, war die beste Stärkung seiner vom ersten Anblick betäubten Sinnen. Er ließ sich vor ihr auf die Knie nieder; sein Auge, sein Herz, sein ganzes Wesen schien in eine einzige von ihr ausgefüllte Empfindung zusammengezogen, und er würde bis in die Nacht in diesem wonnevollen Anschauen unverwandt beharret haben, wenn sie nicht von selbst erwachet wäre. Klaremonde (denn wir werden ihr nun, wie billig, ihren eigenen Namen wiedergeben) hatte kaum die Augen aufgeschlagen, als sie in dem schönen Schäfer, den sie in der ehrerbietigsten Stellung vor sich knien sah, eben denjenigen erkannte, dessen Bild ihr in der Galerie öfters vorgekommen war. Dieser Umstand, der ihn gewissermaßen zu einer alten Bekanntschaft machte, milderte bei ihr die Verlegenheit, in welcher sie sich befunden hätte, wenn er ihr ganz fremde gewesen wäre. Ihre Augen waren schon mit seiner Schönheit bekannt, und ihr Herz, an eine gewisse zärtliche Regung bei seinem Anblick ebenso gewöhnt, war bereits zu sehr dazu gestimmt, gut von ihm zu denken, als daß es ihr hätte einfallen können, einiges Mißtrauen in ihn zu setzen. Zwei so vollkommene Personen, wie sie beide waren und deren Inneres so schön und rein zusammengestimmt ist, können einander nicht ansehen, ohne daß jedes das andere seiner würdig finde; sie verstehen einander in der ersten Minute besser als gemeine Menschen nach einem jahrelangen Umgang. Das erste, was sie für einander fühlen, ist Wohlwollen, und dieses Wohlwollen ist Freundschaft, und diese Freundschaft ist, bei einem jungen Schäfer und einer jungen Schäferin, Liebe. Hiezu kommt noch, daß Klaremonde, mit ihrer Verwandlung aus einem mißgeschaffnen Murmeltiere in das schönste aller Mädchen, zugleich aus einer Prinzessin in eine Schäferin verwandelt worden war. Zwar nicht so, daß sie die Erinnerung an ihre Geburt und an die Vorrechte ihres vorigen Standes ganz darüber verloren hätte; aber bei einer Person von ihrem Geiste und Herzen mußten diese Vorrechte in ihrem neuen Stande viel von ihrem anscheinenden Werte verlieren. Der Rang einer Prinzessin hat seine Ungemächlichkeiten, der niedrige Stand einer Schäferin seine Vorteile. Überdies, was für Ursache hätte die Schäferin Klaremonde haben können, ihren ehmaligen Stand noch immer geltend machen zu wollen? Was für Hoffnung konnte sie sich machen, wofern sie auch den Weg in die Staaten ihres Vaters gefunden hätte, jemals für die Prinzessin Marmotte erkannt zu werden? Sie hätte die Geschichte ihrer Umgestaltung noch so lebhaft erzählen mögen, wer würde sie geglaubt haben?

Mit dem schönen Alazin hatte es vollkommen die nehmliche Bewandtnis. Wir können also versichern, daß alles, was die Geschichtschreiberin der Begebenheiten dieses wundervollen Paares, die Gräfin d’Aulnoy, von dem strengen Betragen der Prinzessin Brillante (wie sie ihre verwandelte Marmotte nennen läßt) gegen den schönen Schäfer erzählt, aus verfälschten Urkunden gezogen sein muß; daß der Schäfer und die Schäferin kein Wort von allem, was diese Dame sie sprechen läßt, miteinander gesprochen haben; und daß beide viel zuviel Verstand und Geschmack besaßen, um die Verse gemacht zu haben, die sie ihnen in den Mund legt. Da wir berechtigt sind, unsre Nachrichten für die zuverlässigern zu halten, so fahren wir fort, ihnen in unsrer Erzählung zu folgen, und sagen demnach, daß Klaremonde und Alazin, bei aller der Verwunderung, womit sie einander in der ersten Überraschung ansahen, ein Zutrauen gegen einander zeigten, welches uns zu beweisen scheint, daß ihre Herzen schon einverstanden waren, ehe sie Zeit hatten, sich gegen einander zu erklären.

«Ist’s möglich?» rief Alazin, «Sie sind es selbst?» – «Eben diese Frage schwebt auch auf meinen Lippen», sagte Klaremonde. «Es sind nur wenige Wochen, seit ich Ihr Bild auf den gemalten Glasscheiben eines alten Turmes gesehen habe, worin ich gefangengehalten wurde», sagte der schöne Schäfer. «Es sind nur wenige Stunden, seit mir eben das mit dem Ihrigen geschehen ist», sprach die schöne Schäferin. «Meine Geschichte ist seltsam: Sie würden sie unglaublich finden, wenn ich sie Ihnen erzählte», sagte der Schäfer. «Eben das würde Ihnen mit der meinigen begegnen», sagte die Schäferin. «Ich wurde von meinem Vater in einen alten Turm gesperrt, weil ich eine gewisse Prinzessin nicht heuraten wollte, die selbst in ihrem Bildnisse, wiewohl ihr der Maler unfehlbar geschmeichelt hatte, so häßlich aussah, daß es keine Möglichkeit war, sie zu heuraten.» – «Und ich wurde von meinem Schwiegervater eingesperrt, weil ich nicht die Gemahlin seines Sohnes werden wollte, den ich zwar selbst nie gesehen habe, aber vor dessen bloßem Bildnis das Herz sich mir im Leibe umkehrte.» «Ich war damals nicht, was ich jetzt bin», fuhr der Schäfer fort; «und wie häßlich auch derjenige sein mochte, den man Ihnen zum Gemahl aufdringen wollte, so konnt‘ er’s doch gewiß nicht mehr sein als ich.» – «Ich war damals auch nicht, was ich jetzt scheinen mag», versetzte die Schäferin; «aufrichtig zu reden: meine Figur war so krüppelhaft, daß mich niemand ohne Jammer ansehen konnte, und doch so lächerlich dabei, daß man sich in die Lippen beißen mußte, um mir nicht ins Gesicht zu lachen.» – «Man nannte mich aus Verspottung Krummbuckel», sagte der Schäfer. «Und mich aus eben der Ursache Marmotte», sagte die Schäferin. «Himmel!» riefen beide zu gleicher Zeit, «so sind wir ja eben die, die man zwingen wollte, einander zu heuraten! Wie unglücklich», fuhr der schöne Schäfer fort, «daß die wundertätigen Mächte, deren Werk unsre Verwandlung ist, es nicht einige Wochen früher vorgenommen haben!» – «Oder daß sie uns nicht ließen, wo sie uns fanden!» setzte die schöne Schäferin hinzu. «Doch nein, nicht unglücklich», sagte jener, «wenn meine liebenswürdige Schäferin von den Empfindungen gerührt werden könnte, die mir ihr Bildnis beim ersten Anblick einflößte.» Klaremonde errötete und schlug die Augen nieder, und Alazin war so bescheiden, auf keine deutlichere Antwort zu dringen.

Sie erzählten einander darauf ihre Begebenheiten mit allen Umständen; und wiewohl der schöne Schäfer ein zu zartes Gefühl hatte, um die schon einmal berührte Saite so bald wieder anzuschlagen, so schienen doch beide in dem Gedanken, was sie einander sein könnten, überflüssige Ursache zu finden, mit ihrem Schicksale zufrieden zu sein. Wie es gegen Abend ging, ersuchte Klaremonde ihren neuen Freund, der in dieser Gegend schon wohlbekannt war, sie zu einer anständigen Person ihres Geschlechtes zu führen, unter deren Aufsicht sie leben könnte, da es für eine junge Person in ihrer Lage doch nicht wohl schicklich wäre, unter einem unbekannten Volke ganz allein zu wohnen. Er führte sie in eine der geräumigsten und reinlichsten Hütten dieses Tales, wo sie, auf seine Empfehlung (wiewohl ihr bloßes Ansehen schon Empfehlung genug war), von einem guten alten Mütterchen aufs freundlichste empfangen und bewirtet wurde. Sie brauchte nur sehr wenig Zeit, um das ganze Herz der Alten zu gewinnen, die sich nicht wenig darauf zugut tat, eine so liebenswürdige Pflegetochter zu bekommen. Daß der Prinz-Schäfer und die Prinzessin-Schäferin von dieser Zeit an, die Nacht ausgenommen, sich selten lange voneinander trennten, ist leicht zu erraten. Verschiedene Wochen kamen ihnen auf diese Weise wie einzelne Tage vorüber. Aber da sie einander auch alle Tage lieber wurden, so gerieten sie zuletzt ganz natürlich auf die Frage, was das Schicksal wohl über sie beschlossen haben möchte, und diese Frage schien sich aus dem Wege, den es mit ihnen gegangen, von selbst auf eine sehr entscheidende Art zu beantworten. Der Rückweg in ihren angebornen Stand schien ihnen auf immer abgeschnitten zu sein, und ihr neuer, niedriger, der Welt verborgener, aber glücklicher Zustand bekam alle Tage neuen Reiz für sie. Ohne Zweifel hatte das Schicksal ihre Vereinigung beschlossen, die in ihren vormaligen Umständen unmöglich gewesen war oder, wenn sie endlich auch erzwungen worden wäre, ihr beiderseitiges Elend nur vergrößert hätte. Kurz, sie mochten sich als Königskinder oder als Hirten betrachten, so stand dem, was nun der einzige Wunsch ihrer Herzen war, nichts im Wege. Sie vereinigten sich also, und der Tag ihrer Vermählung war ein Fest für dieses ganze Hirtenland.

Alazin hatte sich, da er noch der Prinz Krummbuckel hieß, mit besonderen Fleiße auf verschiedene Teile der Naturwissenschaft gelegt. In seinem Hirtenstande machte er die Zucht der eßbaren und heilsamen Pflanzen und der fruchtbaren Bäume zu seiner Hauptbeschäftigung, und er wurde dem Hirtenvolke dadurch auf mehr als eine Art nützlich. Die schöne Klaremonde lehrte die jungen Schäferinnen die Pflege der Seidenwürmer und die Zubereitung ihres kostbaren Gespinstes. Beide trugen nicht wenig dazu bei, das Leben dieser gutartigen Naturmenschen zu verschönern und ihren Wohlstand zu vermehren, ohne die Unschuld ihrer Sitten zu verderben. Eine Reihe schöner Kinder, wie sie von solchen Eltern kommen mußten, vervielfältigten die Arbeit und die süßen Sorgen ihres häuslichen Standes, indem sie ihre Glückseligkeit vollkommen machten. Die Fee und der Genie Alzindor waren mit ihrem Werke zufrieden. Die Frau d’Aulnoy versichert uns zwar, sie wären unserm glücklichen Paare wieder erschienen und hätten es mit einem Palaste von Diamanten und mit einem Garten beschenkt, worin alle Bäume von Golde, alle Blätter von Smaragd und alle Blumen und Früchte von gewachsnen Rubinen, Saphiren, Türkisen, Amethysten und Chrysolithen gewesen seien. Aber wir können versichern, daß kein wahres Wort daran ist. Um was hätte ein solches Haus und ein solcher Garten die Glücklichen glücklicher machen können?

Quelle:
(Christoph Martin Wieland Dschinnistan oder Auserlesene Feen- und Geistermärchen)

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