Es war einmal in einem Land, in dem die Sonne nie unterging. Es gab keine Nacht, keine Dunkelheit und keine Schatten. Und es gab keine Träume. Waren die Menschen erschöpft von der Arbeit, so legten sie sich nieder und schlossen die Augen, doch Schlaf kannten sie nicht. Für eine Weile lagen sie still und warteten auf etwas, von dem sie nicht wussten, was es war. Irgendwann standen sie wieder auf und gingen an ihre Arbeit zurück.
Zugleich fehlte die Fröhlichkeit in diesem Land, die Menschen lachten nicht. Müde schleppten sie sich auf ihre Felder und müde schleppten sie sich nach Hause, müde kochten sie ihre Mahlzeiten und müde nahmen sie einander in die Arme, um sich gegenseitig Trost zu schenken.
Der König und die Königin des Landes schickten regelmäßig junge Burschen aus, andere Länder zu finden, in denen es, einer alten Sage nach, einenBruder der Sonne geben sollte, dem die Nacht gehörte. Indessen, die jungen Männer kehrten niemals heim.
„Papa“, die jüngste Tochter des Königs durchquerte den Thronsaal und ließ sich zu seinen Füßen nieder, leicht lehnte sie ihren Lockenkopf an die Knie des Vaters. „Wieder keine Nachricht? Auch nicht von Aaron?“
Sehnsucht trug ihre Stimme.
„Sueno“, das Gesicht des Königs glättete sich und seine Mundwinkel zuckten bei dem Versuch zu lächeln. Er schüttelte den Kopf und schob seine goldene Krone ein Stück aus der Stirn, das Gewicht bereitete ihm Kopfschmerzen.
„Mein Kind, du siehst müde aus.“ Zart strich er mit seinen Fingern über die dunklen Schatten unter den Bernsteinaugen seiner Tochter. „Warum ruhst du nicht ein wenig?“
„Mutter befahl mir aufzustehen, ich soll mich um den Mohngarten kümmern.“
Die Stirn des Königs legte sich in Furchen. „Wo sind deine Schwestern?“
„Sie sind ebenfalls auf den Weg in den Mohngarten.“ Sueno erhob sich und strich sich ihr bodenlanges kirschrotes Kleid glatt. Ihre schokoladenbraunen Haare wallten bis zur Taille und wurden durch ein glitzerndes Diadem auf ihrem Kopf zusammengehalten. Die Prinzessin küsste ihren Vater auf die Wange und verließ den Thronsaal.
„Was soll nur aus uns werden?“ Matt schloss der König seine Augen, doch keine wohltuende Dunkelheit schenkte ihm Erholung.
Im Mohngarten arbeiteten die fünf Schwestern schweigend. Gelegentlich strich die eine der anderen über den Rücken oder sie drückten einander für einen Moment die Hand. Der Garten umfasste nahezu das ganze Schloss, lediglich ein schmaler Weg führte von dem schmiedeeisernen Tor hinaus in die Umgebung. Bis zum Horizont wuchsen Mohnblumen, mit Blüten klein wie Marienkäfer und Blüten groß wie Honigmelonen. Sie streckten sich der Sonne entgegen, mal blutrot, mal feuerrot, mal schwarzrot. Sie blühten in allen Rottönen, die es heute noch gibt und solchen, die wir längst vergessen haben.
Die Königin rauschte in den Garten. Ihr Kleid schien aus Sonnenstrahlen gewebt, ihre Haare glänzten gleich glühendem Metall. Sie ließ ihren Blick über die Arbeit der Mädchen schweifen, wach und klar sog sie jedes Detail in sich auf.
„Sueno!“, rief die Königin. Das Mädchen zuckte zusammen und eilte zu ihrer Mutter. Diese zeigte auf eine daumengroße Mohnblume, die neben einer größeren stand. Sueno hob die Pflanze vorsichtig hoch und suchte einen sonnigen Platz für sie.
„Meine Mohnblumen brauchen Licht, sie brauchen die Sonne. Jede einzelne von ihnen!“, herrschte ihre Mutter die Prinzessinnen an. „Ich dulde keine Nachlässigkeit meinen Pflanzen gegenüber!“ Funken stoben
aus den Augen der Königin, ihre Glut brannte auf Suenos Haut.
„Ja, Mutter“, flüsterte eine Schwester nach der anderen.
Die Königin drückte jedem der Mädchen einen leeren Weidenkorb in die Hände und sprach: „Füllt mir den Korb mit einzelnen Blütenblättern, ich will ein Bad nehmen. Und wehe euch, wenn ein Blütenblatt einen Knick aufweist.“
Die Mädchen sahen sich traurig an, die Körbe glichen Wagenrädern. Es würde Stunden dauern, diese mit den Blüten zu füllen.
Sueno starrte ihrer Mutter hinterher. Ein Gedanke schwirrte in ihrem Kopf herum, den sie nicht fangen konnte.
„Ich kehre gleich zurück!“, rief sie ihren Schwestern zu und rannte in das Schloss zu den Gemächern
ihrer Mutter. Sie vergewisserte sich, dass die Königin außerhalb der Zimmer weilte und schlüpfte hinein. In einem der Räume hingen die Gemälde an den Wänden, die sie suchte. Die Prinzessin betrachtete eines
nach dem anderen. Alle Bilder zeigten die Königin, jeweils am Tag ihres Geburtstages gemalt. Die Kleider wechselten, dagegen blieb das Gesicht ihrer Mutter stets gleich, ebenmäßig, faltenfrei, jung. Die Prinzessin
strich sich eine Locke aus der Stirn und ging langsam zu ihren Schwestern zurück.
„Verschüttet mir keine Blüten!“, donnerte die Königin.
Gemeinsam verteilten die Schwestern die Mohnblüten in einem goldenen Badezuber, bis dieser gefüllt war und ein bequemes rotes Lager darbot. Mit den leeren Körben verschwanden die Prinzessinnen eilig aus dem Gemach. Sie wussten, sie waren hier nicht erwünscht. Allein Sueno blieb heimlich zurück und versteckte sich hinter einer Holztruhe.
Das Mädchen beobachtete, wie ihre Mutter die Fensterläden schloss und sich anschließend auf das Mohnblütenlager niederlegte. Trotz der geschlossenen Fenster blieb es hell in dem Gemach.
„Hier gibt es nichts zu sehen, ich sollte lieber meinen Schwestern helfen gehen“, murmelte die Prinzessin zu sich selbst und wollte sich erheben als etwas Ungewöhnliches geschah. Das Licht in dem Raum veränderte sich, es zerfiel zu Staub und wurde von den Mohnblüten aufgesogen. Dunkelheit breitete sich in dem Gemach aus. Suenos Herz klopfte in ihrer Brust und sie legte ihre Hände darauf, denn sie fürchtete, ihre Mutter könnte es hören. Die Königin regte sich nicht, gleichmäßig atmete sie ein und aus.
„Was geschieht hier?“, wunderte sich die Prinzessin und fühlte sich schwindlig, ihr fielen die Augen zu. Zum ersten Mal in ihrem Leben schlief Sueno ein.
Sie lief auf die Trauerweide zu, die am Rande des Mohngartens wuchs und schlüpfte durch die, bis zum Boden reichenden, Zweige hindurch.
„Aaron!“, rief sie und umarmte ihren Freund. „Du bist wieder da!“
Freudentränen rannen dem Mädchen aus den Augen. Der Bursche erwiderte ihre Umarmung und wiegte Sueno hin und her.
„Du und ich, wir stehen nicht wirklich hier“, murmelte Aaron. „Wir sehen uns in deinem Traum.“
Verwirrt sah die Prinzessin zu ihm auf. „Bei uns gibt es keine Träume, in unserem Land können wir nicht einmal schlafen, das weißt du doch.“
„Nicht alle bleiben wach. Die Königin schläft regelmäßig und für jeden Schlaf opfert sie einen von uns Burschen an die schwarze Hexe. Diese zwingt uns, ihr zu dienen, deswegen kehrte keiner von uns je heim.“
Die Prinzessin versuchte Aaron festzuhalten, der sich aufzulösen begann.
„Bleib!“, rief sie ihm zu. „Wo finde ich dich und die anderen?“
„Hilf uns Sueno …!“ Aaron verschwand und das Mädchen sank auf ihre Knie. Die Weide um sie herum löste sich auf und bald erwachte die Prinzessin hinter der hölzernen Truhe im Turmzimmer ihrer Mutter.
Geräuschlos erhob sich Sueno und betrachtete die schlafende Königin, dann schlich sie sich aus dem Gemach und rannte zu ihren Schwestern. Die Prinzessin wusste jetzt, was geschehen musste.
„In zwei Tagen verlässt unsere Mutter für einen Tag das Schloss, wie jeden Monat. Bis dahin müssen wir die Bewohner des Dorfes um Hilfe bitten. Zwei von uns werden hier im Mohngarten bleiben, um Mutter zu täuschen, wir wären alle hier. Drei von uns gehen heimlich ins Dorf.“ Sueno sah ihre Schwestern eine nach der anderen an. Es bedurfte nur weniger Worte, sie zu überzeugen. Die Mädchen richteten sich auf. Hoffnung hing wie kleine Bläschen zwischen ihnen. Fest nahmen sie einander bei den Händen.
„Lasst uns anfangen!“, gebot die älteste Prinzessin und ging mit Sueno und der jüngsten Schwester in das Dorf. Sie klopften an jede Tür und erzählten überall das gleiche. Es gab nicht eine Familie im Dorf, die ihnen nicht folgen wollte.
Nach zwei Tagen beendeten die Mädchen ihre Vorbereitungen. Die Königin bemerkte nichts von alledem, ließ ihren Hengst satteln und preschte durch die Mohnblumenfelder hinunter ins Tal.
Mit schmerzendem Rücken, zerzausten Locken und erdverkrustetem Gesicht arbeitete Sueno mit ihren Schwestern und den Dorfbewohnern. Eine Mohnpflanze nach der anderen gruben sie aus der Erde und legten sie auf Holzkarren, die mit Eseln zu den angrenzenden Feldern gezogen wurden. Dort verbrannten die Bauern die verhexten Blumen.
Als einzig eine Mohnpflanze noch auf dem Feld stand, brauste die Königin wie ein Gewittersturm heran. Sie
sprang von ihrem Pferd und schrie Sueno an, die soeben die Blume aus der Erde ziehen wollte.
„Was hast du getan! Du dummes Ding, wie konntest du es wagen! Du zerstörst meinen Pakt mit der schwarzen Hexe!“
Gleich einer fauchenden Löwin stürzte sich die Königin auf ihre Tochter, doch die Prinzessin griff schnell zu und mit einem letzten Ruck war das Mohnfeld kahl.
Die Königin blieb stehen und riss ihre Arme nach oben, sie legte ihren Kopf in den Nacken und schrie als stünde sie in Flammen.
Die Menschen rundherum nahmen sich bei den Händen und die fünf Schwestern rückten näher zusammen. Der König, der den Bauern auf den Feldern geholfen hatte, eilte herbei. In diesem Moment begann die Sonne sich dem Horizont zuzuneigen, ihre Strahlen verwandelten sich von gelb nach rot und waren bald hinter dem Schloss mit seinem langen Schatten verschwunden. Auf der anderen Seite stieg ein voller Mond empor und ließ die Königin in seinem weißen Licht erzittern. Tiefe Falten gruben sich in ihr Gesicht, ihr Haar ergraute und kräuselte sich. Sie sank in sich zusammen und war nun nichts weiter als eine alte Frau.
„Was hast du getan?“, fispelte sie mit brüchiger Stimme.
Sueno trat vor sie. „Ich habe getan, was das Leben mit jedem von uns tut. Du kannst das Altern nicht aufhalten. Wir alle haben das Recht auf unser Leben, auf die Tage und auf die Nächte.“
Die Prinzessin drehte sich um, hinter ihr erschollen vielfache Freudenschreie. Angestrengt schaute sie mit den anderen durch die fremde Dunkelheit. Aus der Asche der Mohnblüten erhoben sich die verloren geglaubten Burschen des Landes und rannten auf ihre Freunde und Familien zu.
Sueno sah nur den einen, Aaron. Er schlang seine Arme um sie und wirbelte sie durch dir Luft.
„Dieses Mal träume ich nicht“, lachte das Mädchen.
„Nein, dieses Mal halte ich dich echt und ich werde dich nie mehr verlassen.“ Aaron stellte Sueno zurück auf den Boden, neigte sich zu ihr und küsste die Prinzessin zärtlich auf den Mund
Räuspern neben ihnen beendete den Kuss, der König runzelte seine Stirn.
„Mein Kind, Aaron ist kein Prinz, er ist unser Gärtner.“
„Ach Papa“, schmeichelte das Mädchen, „dann mach ihn zu einem.“
„Prinz von Garten vielleicht?“, neckte der König.
„Wie wäre es mit Prinz von Aaron …“, sagte seine Tochter.
„… und Prinzessin von Sueno“, ergänzte der Prinz.
„Von mir aus“, schmunzelte der König, „ich habe ja jetzt genug Nächte, um darüber zu schlafen.“
Quelle: Nadin Hardwiger