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Tilanna blickte noch einmal zurück. War es wirklich gut, was sie tat? Langsam schweifte ihr Blick zu dem dunklen Wald, der sich weit hinten erstreckte. Man nannte ihn den Wald ohne Wiederkehr, den noch nie war ein Mensch lebend zurückgekommen, der ihn jemals betrat. Niemand wusste zu berichten was in den dunklen Tiefen des Waldes für Gefahren lauerten. Doch gerade dorthin wollte Tilanna, durch einen Traum aufgerufen. Wie waren gleich die Worte gewesen? Rasch rief das Mädchen sich die Zeilen ins Gedächtnis, die sie gesehen hatte. „In den Wald ohne Wiederkehr, aus einer Flamme werden zwei, ans Ende von Zeit und Raum, durch die Sümpfe der Ewigkeit, zum Diamanten des Lichts“, leise flüsterte Tilanna die Anweisungen, die sie erhalten hatte. Es war ihr, als würden ihr die Worte Mut geben und sie lief weiter. Fast lautlos huschte das Mädchen über die Felder und Wiesen, unaufhörlich dem finsteren Wald entgegen, der vor ihr aufragte. Endlich hatte Tilanna die Bäume erreicht. Wie urtümliche Riesen standen sie da, streckten ihre verkrümmten Zweige gen Himmel. Keine Vogel sang, kein Windhauch bewegte die schwarzen Blätter der Bäume. Es war als wäre tot. Tilanna schauderte. Rasch zog sie die Fackel, die sie mit gebracht hatte, heraus und entzündete. Eine winzige Flamme flackerte auf, wuchs und wurde größer, bis Tilanna ein Lichtkreis umgab. Das Mädchen atmete auf. Langsam ging sie in den Wald. In den Wald ohne Wiederkehr – die erste Aufgabe hatte Tilanna erfüllt. Doch was war mit den anderen? Was bedeutete „aus einer Flamme werden zwei“? Und wie sollte sie ans Ende von Raum und Zeit gelangen? So viele Fragen spukten Tilanna durch den Kopf. „Es wird sich alles zu seiner Zeit begeben.“, versuchte sie sich zu beruhigen. Bald hatten sie die Baumriesen eingeschlossen. Es war Tilanna, als würden die Stämme immer dicker und als wären die Baumkronen immer höher. Graue Flechten hingen von den Bäumen herab wie langes Haar. Spinnweben streiften das Mädchen, welches ängstlich weiter huschte. Immer tiefer drang Tilanna in den Wald ohne Wiederkehr ein. Dunkle Schatten schlichen an ihr vorbei – sie wollte gar nicht wissen, zu welchen Wesen sie gehörten. Lag da nicht eine Gestalt zusammengekauert unter jenem mächtigen Baum dort? Manchmal schien es Tilanna, als sei es nur eine Einbildung, doch je näher sie kam, desto deutlicher konnte sie die Umrisse eines schmächtigen Mädchens erkennen. Sie wusste nicht wieso, doch aus irgendeinem Grund fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Langsam, Schritt für Schritt näherte sich Tilanna der Gestalt. Zögernd streckte sie ihre Hand aus und strich dem Mädchen über sein langes, verfilztes Haar. Mit einem plötzlichen Ruck fuhr es hoch und starrte Tilanna mit großen Augen an. „Wer bist du und was willst du hier?“, fragte es ängstlich. „Tja, ich bin Tilanna, aber was ich hier mache kann ich dir auch nicht genau sagen … ich kam wegen eines Traumes her.“, antwortete Tilanna wahrheitsgetreu. Sie bemerkte, dass jenes Mädchen vor ihr, nicht sie, sondern bloß die Kerze anstarrte. „Das … das ist wunderschön“, meinte sie, wie gebannt von dem Licht, „was ist das?“ „Das ist Feuer – Licht.“, sagte Tilanna lächelnd. „Oh, Licht muss ein Geschenk des Himmels sein.“, sagte das Mädchen ehrfürchtig. Langsam zog sie eine Kerze aus ihrem zerlumpten Gewand. „Hier“, sagte sie schüchtern, „dieses Ding trage ich schon seit ich mich erinnern kann mit mir. Ich wusste nie was es war, doch ich ahnte, dass es etwas sehr Schönes sein muss, wenn man es richtig zu verwenden weiß. Es sieht genau aus wie dein Stock, auf dem du das Licht trägst.“ Tilanna lächelte, nahm dem Mädchen sanft die Kerze aus der Hand und entzündete sie an ihrer eigenen. „Hier!“ Die Kleine starrte eine Weile auf ihre Kerze, als könnte sie nicht glauben, was sie da sah. Dann begann sie freudig umher zu springen. „Vorsicht!“, warnte Tilanna, doch es war schon zu spät. Die Kerze fiel zu Boden und erlosch. Das Mädchen bückte sich und hob sie auf, doch sie war schon erloschen. Traurig starrte die Kleine auf den schwarzen Docht. Tränen rannen ihr über das Gesicht. „Ich … ich habe das Licht zerstört!“, schluchzte sie. „Aber nein!“, versuchte Tilanna sie zu trösten. „Sieh doch!“ Sie hielt ihre Kerze ganz nah an die des Mädchens und eine neue Flamme erwachte. Sie hielten die Kerzen nebeneinander und freuten sich über die beiden Flammen. „Das ist es!“, rief Tilanna auf einmal. „Was?“, fragte das Mädchen. „Aus einer Flamme werden zwei!“ „Ich verstehe noch immer nicht.“ „Ich hatte einen Traum und im Traum bekam ich Anweisungen was ich tun sollte. Pass auf: In den Wald ohne Wiederkehr, aus einer Flamme werden zwei, ans Ende von Raum und Zeit, durch die Sümpfe der Ewigkeit, zum Diamanten des Lichts.“ „Oh“, sagte das Mädchen, „ans Ende von Raum und Zeit?“ „Ja, aber ich weiß noch nicht wie ich das machen soll.“, meinte Tilanna. „Da kann ich dir helfen!“, rief das Mädchen voll Freude. „Ich weiß wo die Sümpfe der Ewigkeit liegen. Dort hört, wie man munkelt, Raum und Zeit auf. Komm mit!“ So zogen die beiden Mädchen gemeinsam los. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte Tilanna. Daraufhin senkte das Mädchen neben ihr beschämt den Blick. „Ich … ich weiß nicht. So lang ich mich erinnern kann bin ich schon in diesem Wald.“ „Du brauchst dringend einen Namen“, Tilanna überlegte, „wie wäre es denn mit Nori? So hieß eine Freundin von mir … sie verschwand eines Tages hier – im Nachtwald.“ „Das tut mir leid … aber Nori gefällt mir gut!“, meinte das Mädchen, das nun Nori hieß. So gingen sie weiter. Nach einem langen Marsch standen die Bäume immer lockerer und sie sahen, wie sich vor ihnen ein riesiger Sumpf ausbreitete. „Hier enden Raum und Zeit.“ „Wie ist das?“ Nori schüttelte nur bedauernd den Kopf. „Niemand weiß das.“ Die beiden Mädchen nahmen einander an den Händen und traten zwischen den Bäumen heraus. „Ist es eigentlich Tag oder Nacht?“, fragte Tilanna plötzlich. „Ich weiß nicht …“, Nori blickte zum hellen Himmel auf. Den beiden Mädchen war nämlich auf einmal, als wüssten sie nicht, wie lange sie schon zusammen waren, wie weit sie schon gewandert waren. „In den Nachtwald, aus einer Flamme werden zwei, ans Ende von Raum und Zeit, durch die Sümpfe der Ewigkeit, zum Diamanten des Lichts.“, murmelte Tilanna unentwegt vor sich hin. „Du, ich glaube wir müssen durch den Sumpf da.“, meinte sie plötzlich. „Ja, jetzt weiß ich wieder – zum Diamanten des Lichts!“, rief Nori. Langsam betrat Tilanna den Sumpf. Sofort sank sie ein. „Hilf mir, Nori!“ Nori sprang rasch herbei und zog ihre Freundin wieder auf den festen Boden. „Warte mal“, meinte Tilanna plötzlich, „ist dir was aufgefallen?“ „Nein.“, Nori schüttelte den Kopf, dass ihre langen Haare flogen. „Als du mich herausgezogen hast, konntest du auf dem Sumpf gehen!“ Nori stand auf und betrat langsam wieder den Sumpf der Ewigkeit. Ihre nackten Füße versanken zwar ein wenig im Schlick, doch sie konnte gehen, ohne einzusinken. „Es ist, weil du Barfuß läufst!“, rief Tilanna und streifte rasch ihre Schuhe ab. Dann folgte sie ihrer Freundin. So durchquerten die Mädchen den Sumpf der Ewigkeit. Als sie eine kleine Insel in der Mitte erreicht hatten, meinte Tilanna: „Hier muss irgendwo der Diamant des Lichts sein!“ „Pass auf!“, schrie Nori auf einmal. Hinter Tilanna war eine riesige, schwarze Schlange aufgetaucht. Tilanna schlug mit ihrer Kerze nach ihr. Nori kam ihr zu Hilfe. Gemeinsam stießen sie das Ungetüm in den Sumpf hinab. Sie hatten es geschafft, doch beide Kerzen waren dabei erlosch und so standen die Mädchen in völliger Dunkelheit. „Nori? Bist du da?“ „Ja.“ Sie tasteten nach einander und fasten sich bei den Händen. Auf einmal erstrahlte der Sumpf der Ewigkeit. Ein silbernes Licht hüllte die beiden ein. Von fern her sang ein Vogel, es war als würde der Wald ohne Wiederkehr in dem Licht zum Leben erwachen. Die Blätter nahmen eine zartgrüne Farbe an, Tiere huschten vorbei. All das Licht kam von einem riesigen Stein auf der Insel, der bisher grau gewesen war. Tilanna und Nori hatten die Schlange besiegt, die den Diamanten des Lichts bewachte. Menschen kamen auf die Mädchen zu gelaufen. Sie hatten das Erstrahlen des Walds ohne Wiederkehr beobachtet und waren hineingelaufen. Tilannas Eltern schlossen ihre Tochter glücklich in die Arme. Als sie das Mädchen wieder losließen, zog Nori Tilanna etwas zu Seite. „Tilanna, weißt du, während ich das so beobachtete, wie du deine Eltern umarmtest ist … ist mir etwas eingefallen. Ich erinnerte mich an die Zeit bevor ich in den Wald ohne Wiederkehr kam und mein Gedächtnis verlor.“ Auf einmal erkannte Tilanna nun auch ihre alte Freundin wieder. „Ach, Nori! Ich hätte mir nie träumen lassen, dass du meine Freundin bist, die im Wald ohne Wiederkehr verschollen ist!“ Die beiden schlossen sich glücklich in die Arme. Langsam setzte sich der Tross der Menschen in Bewegung, alle liefe glücklich lachend und schwätzend nach Hause. Auch Nori und Tilanna folgten. Doch bevor sie gingen warfen sie noch einen letzten Blick auf den Wald hinter ihnen. „Wir werden wiederkommen.“, sagte Nori. „Ja!“, lachte Tilanna.
Quelle: Ineya 2006 – 11 Jahre