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Märchenbasar

Die gewandte Prinzessin

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Augenlust, welcher seinem Bruder in den Umständen, darin er ihn sah, nichts in der Welt abschlagen konnte, tat ihm die schrecklichsten Schwüre, daß er alles tun wolle, was er verlangen würde. Hierauf umarmte der boshafte Kranke seinen Bruder und sagte: »Nun sterbe ich gern, weil mein Tod gerächt werden wird. Die Bitte, die ich an dich habe, ist, daß du gleich nach meinem Tode um Finettes Hand anhalten sollst. Sie wird dir nicht abgeschlagen werden, und sobald du sie in deiner Gewalt hast, so stich ihr einen Dolch in das Herz.«
Augenlust zitterte und entsetzte sich, da er diese Reden hörte, aber es war nicht mehr Zeit, sein Wort zurückzunehmen, und er wollte auch seinem Bruder nicht sagen, wie sehr ihn sein Versprechen reute. Dieser starb bald hernach. Der König Herzensgut grämte sich sehr über dessen Tod; was aber die Untertanen anlangt, so betrübten sich diese nicht im geringsten darüber, vielmehr freuten sie sich, daß nunmehr der Prinz Augenlust, dessen Tugenden und Vorzüge so beliebt waren, dereinst zur Regierung kommen würde.
Finette, da sie zum zweiten Male glücklich wieder zu ihren Schwestern gekommen war, erfuhr bald hernach, daß Fintrich gestorben war. Nach weniger Zeit kam auch der König, ihr Vater, von seinem Kreuzzuge nach Hause. Er eilte zu seinen Prinzessinnen in den Turm und fragte als erstes, wie es um die gläsernen Spinnrocken stünde. Nonchalante ging, holte Finettes Spinnrocken, zeigte ihn dem König, machte ihm hernach eine tiefe Reverenz und trug den Spinnrocken wieder dahin, wo sie ihn hergenommen hatte. Babillarde machte es ebenso, und Finette, da die Reihe an sie kam, brachte ihren Spinnrocken auch. Der König, welcher argwöhnisch war, wollte gern alle drei Spinnrocken beisammen sehen. Jetzt war Not vorhanden! Finette war die einzige, welche ihren Spinnrocken aufweisen konnte. Der König erzürnte sich dergestalt über die beiden älteren Prinzessinnen, daß er sie alsobald zur Fee, von welcher er die verräterischen Spinnrocken bekommen hatte, mit der Bitte bringen ließ, sie möchte sie beide, so lange als sie lebten, bei sich behalten und sie nach Verdienst bestrafen.
Dieses zu bewerkstelligen, führte die Fee die beiden Prinzessinnen in eine Galerie ihres verzauberten Palastes. Hier waren sehr viele Gemälde von vornehmen Frauenspersonen, welche durch ihre Tugenden und durch ihr arbeitsames Leben berühmt geworden waren. Durch ein Wunderwerk ihrer Zauberkunst waren alle diese Bilder vom Morgen an bis in die Nacht in ständiger Bewegung. Überall standen Ehrenmäler, Sinnbilder und Denksprüche zum Ruhme dieser tugendhaften Personen, und es war keine geringe Kränkung für die Prinzessinnen, wenn sie den Siegeszug dieser Heldinnen mit den verächtlichen Umständen verglichen, worein sie durch ihre abscheuliche Dummheit geraten waren. Um das Maß ihres Kummers voll zu machen, sagte die Fee ernst zu ihnen, daß sie nicht in solche Niederträchtigkeiten verfallen wären, wenn sie sich so beschäftigt hätten wie die Personen, deren Bildnisse sie vor sich sähen, aber der Müßiggang sei aller Laster Anfang und der Ursprung allen Unglückes. Damit sie also, fuhr sie fort, nicht aufs neue in solches Unglück gerieten und auch ihre verlorene Zeit wieder einbringen möchten, so wolle sie ihnen tüchtig zu arbeiten geben. Sie tat es, und die beiden Prinzessinnen mußten ohne Rücksicht auf ihre zarte Haut die gröbste und verächtlichste Arbeit treiben, zum Exempel Schoten und Bohnen im Garten pflücken und Unkraut ausjäten. Nonchalante konnte es nicht ausstehen, daß sie so wider ihres Herzens Neigung leben mußte, und starb, halb aus Ermüdung, halb aus Verdruß. Babillarde entlief der Fee des Nachts aus dem Schlosse, zerstieß sich aber im Finstern den Kopf an einem Baum und starb in einer Bauernhütte.
Finette betrübte sich aus ehrlichem Herzen sehr schmerzlich über das unglückliche Schicksal ihrer Schwestern. Indem sie noch um sie trauerte, erfuhr sie, daß der Prinz Augenlust bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten, welcher sie ihm hatte versprechen lassen, ohne sie darüber zu befragen, denn schon damals war die Neigung der Kinder das, was man beim Heiraten am wenigsten in Betracht zog. Finette zitterte, da sie diese Neuigkeit hörte, denn sie sorgte sich nicht ohne Ursache, es möchte der Haß, welchen Fintrich wider sie gehabt, einen Bruder, der ihn so blindlings geliebt hatte, angesteckt haben, so daß er sie vielleicht nur heiraten wolle, um dieses Bruders Tod an ihr zu rächen. In ihrer großen Bekümmernis ging sie zu der weisen Fee, welche Finette in ebendem Grad hochschätzte, als sie Nonchalante und Babillarde verachtet hatte, und fragte dieselbe um Rat, wie sie sich verhalten solle.
Die Fee fand es nicht für gut, ihr etwas zu weissagen, sondern sagte ihr nur dieses: »Prinzessin, Ihr seid klug und verständig. Ihr habt Euch bisher nur deswegen so klug aufgeführt, weil Ihr beständig die Regel vor Augen gehabt, daß das Mißtrauen eine Mutter der Sicherheit ist. Vergeßt keinen Augenblick die Wichtigkeit dieses Grundsatzes, so werdet Ihr glücklich werden, ohne meine Kunst nötig zu haben.« Eine andere Aufklärung konnte Finette nicht erlangen, und sie begab sich in größter Unruhe wieder nach Hause.
Etliche Tage hernach wurde Finette einem Abgesandten des Prinzen Augenlust anvertraut und mit großem Gefolge zu ihrem neuen Gemahl geführt. Mit nicht geringer Pracht hielt sie ihren Einzug in den zwei ersten Grenzstädten des Königs Herzensgut, und in der dritten Stadt, durch welche sie reiste, traf sie schon ihren Gemahl an, welcher sie allda auf Befehl seines Vaters einholen mußte. Jedermann wunderte sich, daß der Prinz so traurig war, da er doch diese Heirat so sehr gewünscht hatte. Selbst der König, sein Vater, tadelte ihn deswegen und schickte ihn, wider seinen Willen, der Prinzessin entgegen.
Als der Prinz Augenlust Finette zu sehen bekam, erstaunte er über ihre Schönheit, gab es ihr auch mit den artigsten Ausdrücken zu verstehen; aber er war dabei derart verstört, daß die Hofleute aus beiden Gefolgen, welche zugegen waren und wohl wußten, wie witzig und galant dieser Prinz war, nichts anderes meinten, als daß er aus großer Liebe seine Geistesgegenwart eingebüßt hätte. In der ganzen Stadt erscholl Freudengeschrei, und man hörte und sah überall nichts als Musik und Feuerwerk. Abends fand ein großes Hochzeitsmahl statt, und danach machte man Anstalten, das hohe Brautpaar ins Schlafzimmer zu führen.
Die Prinzessin behielt die gute Lehre, welche ihr die Fee aufs neue gegeben hatte, beständig im Gedächtnis und hatte ihre Anschläge danach eingerichtet. Sie hatte eine von ihren Kammerfrauen, welche den Schlüssel zur Brautkammer hatte, ins Vertrauen gezogen. Diese trug auf ihren Befehl eine Schütte Stroh, eine Blase mit dem Blute eines Hammels, auch Eingeweide von Tieren, die man beim Souper gespeist hatte, in dasselbe Zimmer. Ehe es noch Zeit war, schlafen zu gehen, begab sich Finette unter irgendeinem Verwande dahin. Sie machte eine weibliche Gestalt von Stroh, worein sie das Eingeweide und die mit Blut gefüllte Blase steckte, zog ihr hernach Nachtkleider an und setzte ihr eine Schlafhaube auf. Nachdem sie diese Puppe aufs beste angeputzt hatte, begab sie sich wieder zur Gesellschaft. Bald hernach führte man sie und ihren Bräutigam in die Kammer. Nachdem sie noch, so lange als es nötig war, am Nachttisch zugebracht hatte, nahm die ihr beigegebene Ehrendame die Lichter und zog sich zurück. Alsobald legte Finette die Strohjungfer ins Bett und versteckte sich selbst in einem Winkel des Zimmers.
Nachdem er zwei oder drei tiefe Seufzer ausgestoßen hatte, nahm der Prinz seinen Degen und stach ihn der vermeintlichen Braut mitten durch den Leib. Den Augenblick hörte er, wie das Blut lief und fühlte auch, daß keine Bewegung mehr in ihr war. »Ach!« schrie er, »was habe ich getan! Nachdem ich so lange mit mir selbst gekämpft und unschlüssig gewesen, ob ich meinen verbrecherischen Eid halten sollte, habe ich doch endlich die schöne Prinzessin, die ich gewiß herzlich geliebt haben würde, ums Leben gebracht! Sie gefiel mir den Augenblick, als ich sie sah, und dennoch habe ich einen Schwur gehalten, welchen mein rachgieriger Bruder so schändlich von mir zu erschleichen gewußt hat! O Himmel! ist eine Frauensperson strafwürdig, wenn sie allzu tugendhaft ist? Nun, Fintrich! ich habe deine ungerechte Rache vollzogen, aber jetzt will ich auch die unschuldige Finette durch meinen Tod rächen. Ja, du unglückliche Prinzessin! Ich will mich mit ebendem Degen …«
Bei diesen Worten hörte Finette, daß der Prinz den Degen, welchen er in der Erregung hatte fallen lassen, wiedersuchte und sich erstechen wollte. Sie rief also, damit er keine solche Torheit begehen möchte: »Prinz! ich bin nicht tot, ich bin frisch und gesund! Euer gutes Gemüt ließ mich vermuten, daß Ihr diese Tat bereuen würdet. Ich habe Euch also auf eine unschuldige Art betrogen und Euch vor einem entsetzlichen Verbrechen bewahrt.«
Hierauf erzählte sie dem Prinzen, was für eine Vorsorge sie mit dem Strohweibe getroffen hatte. Der Prinz freute sich unaussprechlich, daß sie noch lebte. Er bewunderte ihre Klugheit, die sie bei allen Gelegenheiten zeigte, und dankte es ihr tausendmal, daß sie ihn vor einer so grausamen Tat, an die er nicht ohne Entsetzen denken konnte, behütet hatte. Er konnte jetzt gar nicht begreifen, wie er die Schwachheit hatte haben können, nicht einzusehen, daß solche bösen Eidschwüre, zu welchen er noch dazu hinterlistigerweise genötigt worden war, nicht die geringste Verbindlichkeit hatten.
Wenn also Finette nicht stets bedacht hätte, daß ein kluges Mißtrauen die Mutter der Sicherheit ist, so wäre sie ermordet worden, und ihr Tod wäre zugleich schuld an ihres Bräutigams Tode gewesen, und hernach hätte man von den wunderlichen Gesinnungen dieses Prinzen viel zu schwatzen gewußt. Klugheit und Geistesgegenwart gehen über alles. Sie bewahrten diese jungen Eheleute vor schrecklichem Unheil und verhalfen ihnen zum süßesten Glück von der Welt. Der Prinz und die Prinzessin lebten lange Jahre höchst vergnügt und zärtlich beisammen, erwarben sich Ruhm und genossen eine vollkommene Glückseligkeit, die nur schwer zu beschreiben wäre.

[Klaus Hammer: Französische Feenmärchen des 18. Jahrhunderts]

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