Jedesmal, wenn am Himmel ein Regenbogen erscheint, bewundern die Menschen seine bunten Farben und fragen nach dem Ursprung dieser seltsamen Schönheit. Aber nur die Indianer im Westen wissen eine uralte Sage darüber zu erzählen.
Zu jener Zeit herrschte eine unerträgliche Hitze. Die glühende Luft zitterte über der fast verdorrten Prärie. Flüsse und Seen waren bis auf den Grund ausgetrocknet, und die Menschen, die sich nur noch im Schatten aufenthalten konnten, jammerten: „
Das Jagdwild zieht den Regenwolken nach!“
„Die Fische schwimmen mit dem Strom mit!“
„Nichr einmal die Rosen geben uns ihre eßbaren Samen, weil sie vertrocknet sind!“
„Wir werden alle sterben müssen!“
Diese Klage der Menschen hatte eine kleine Schlange vernommen, Sie schlüpfte aus ihrem Versteck, und sagte zum namenlosen Erstaunen
der Indianer mit menschlicher Stimme: „Ich besitze eine große Macht, und die will ich dazu benutzen, um euch zu helfen. Ihr braucht dabei nichts anderes zu tun, als mich hoch in den Himmel zu werfen.“
„Du wirst herunterfallen und tot sein“, entgegnete der Zauberer, der sich als erster von dem Schreck erholt hatte.
„O nein, ich halte mich mit meinen Schuppen oben fest, und damit kann ich euch auch Regen und Schnee herunterkratzen, denn die blauen Himmelswiesen sind aus lauter bläulichem Eis.“
„Du bist viel zu klein“, widersprach der Schamane kopfschüttelnd.
„Ich kann mich so lang machen, daß ich den ganzen Horizont umspanne“, erwiderte die Schlange. „wirf mich ruhig hinauf, jehöher, desto bessrer.“ Da wagte der Zauberer keine Widerrede mehr, nahm die Schlange, die sich zu einem Knäuel zusammengeringelt hatte, hob den Arm und schleuderte sie mit aller Kraft in den wolkenlosen Himmel hinauf.
Oben angekommen, ringelte sich die Schlange wieder auf. Sie wurde länger und länger. Kopf und Schwanz sanken zur Erde, aber der Rücken wölbte sich unfaßbar hoch nach oben, und kratzte mit den Schuppen, das blaue Eis von der Himmelsdecke.
„Eine Regenbogenschlange! Seht nur – eine Regenbogenschlange!“ riefen die Indianer, denn der Schlangenleib leuchtete plötzlich rot, gelb, grün und violett. Das Eis am Himmel begann zu tauen, und nach langer, langer Zeit fielen endlich wieder Regentropfen zur Erde.
Das Land erwachte zu neuem Leben; die ausgetrockneten Flüsse und Seen füllten sich mit Wasser, das Wild kehrte in seine Jagdgründe zurück, die Rosen prangten in Büten.
Und die Indianer? Die hielten ihre Gesichter den erfrischenden Wassertropfen entgegen und tanzten zur Ehre der Schlange, die seither immer, wenn es bei Sonnenschein regnet, ihren geschmeidigen Leib wie ein farbiges Band über die Erde wölbt.
Shoshoni – Nordamerika