In jener Zeit, als Sonne und Mond noch den Tageslauf der Menschen bestimmten, gehörte das große Land zwischen Nebel und Wasser dem mächtigen König Eitelmund. Er war hartherzig gegen jedermann und ließ ohne Mitleid alle zu Tode bringen, die nicht nach seinem Willen taten. Das ganze Volk fürchtete sich vor ihm, und nicht ein einziger wagte es, sich gegen ihn aufzulehnen. Seinen Namen Eitelmund trug er wahrlich zu Recht, denn es gab weit und breit keinen Menschen, der so in sich selbst verliebt war. Jeden Morgen musste sein Kammerdiener Jonathan ihm einen mannshohen Spiegel bringen, in dem er sich dann von Kopf bis Fuß bewunderte, ob seines wahrhaft königlichen Aussehens und seiner wallenden Haarpracht. Dass er in Wahrheit eine Perücke trug, um sein eigenes spärliches Haar zu verstecken, wusste nicht einmal Jonathan.
An diesen Königshof wurde nun eines Tages der Geschichtenschreiber und Versereimer Heinrich vom Wiesengrund als Hofdichter berufen.
Nachdem er sich mit Frau und Kind in den zwei Zimmerchen neben der Knechtekammer, so gut es eben ging, eingerichtet hatte, ließ ihn der König zu sich rufen. „Willkommen an meinem Hof, lieber Poet“, gab sich Eitelmund außergewöhnlich freundlich. „Ich habe dich kommen lassen, um dir zu sagen, welches deine Aufgaben an meinem Hofe sind. Zum ersten: Einmal im Jahr zum Erntefest sollst du Liedertexte verfassen, die das Geschehen des ablaufenden Jahres in wohlklingende Worte fassen. Zum zweiten: Zukünftig sollen meine Herolde die Befehle ihres Königs in eingängigen Versen unter das Volk bringen. Wohlgereimt müssen diese Verse sein, damit meine Untertanen wissen, dass des Herrschers Wort Gesetz ist.
Aber nun komme ich zu deiner wichtigsten Aufgabe als Hofdichter: Damit ich wohlgemut jeden Morgen mein schweres Tagwerk beginnen kann, wirst du allmorgendlich nach dem Frühstück bei mir erscheinen mit einem neu geschriebenen Loblied auf die edle Person deines Herrschers. Solltest du deiner letztgenannten Aufgabe einmal nicht nachkommen, bist du und deine Familie des Lebens nicht mehr sicher.“ Mit diesen Worten entließ der König den Dichter, und Heinrich vom Wiesengrund machte sich sofort ans Werk.
Er fasste erst einmal die Befehle des Königs in Verse und schickte damit die Herolde über Land. Die anliegenden Liedertexte für das bevorstehende Erntefest machten keine große Mühe und waren bald erledigt. Für das sechszeilige Morgenlied auf seinen Gebieter benötigte er jedoch fast den ganzen Nachmittag: denn wie sollte er ein Loblied auf einen König dichten, der eigentlich nur grausam und eitel war? Heinrich dachte an Frau und Kind und an die Gefahr, in der sie alle schwebten, und endlich fielen ihm einige Zeilen ein.
Wie befohlen fand der Dichter sich am nächsten Morgen beim König ein, und während Eitelmund sich wie ein Pfau vor dem Spiegel drehte, trug Heinrich ihm das Loblied vor:
Oh großer König Eitelmund,
so schön dein Haar,
so schön dein Mund.
Dein Umhang glänzt
in edlem Gold,
sei deinen Untertanen hold!
„ Ja, ja“, nickte der König seinem Hofdichter zu, wie Recht du mit deinem Gedicht hast. Mein Mund und meine Haare sind wirklich schön.“ Mit einer kurzen Handbewegung war Heinrich entlassen.
So gingen die Monate ins Land und der Geburtstag des Königs nahte. Aus diesem Anlass war ein großes Fest geplant und Eitelmund hatte alle Nachbarkönige, Fürsten und Grafen, nebst Gefolge, auf sein Schloss geladen.
Drei Tage vor Festbeginn befahl der König seinen Hofdichter zu sich.
„Höre zu, Hofdichter“, sagte er, während er die üppigen Festtagskleider und Umhänge betrachtete, die der Hofschneider ihm gebracht hatte. „Mein Geburtstagsball wird der größte und prächtigste, den die Welt je gesehen hat! Deine Aufgabe ist es, das längste und schmückenste Gedicht auf deinen Herrscher zu schreiben, das man je in allen Landen und an allen Höfen vernommen hat. Bewundernd und neiderfüllt sollen meine Nachbarn auf den König Eitelmund blicken. Besonders meine Großherzigkeit und mein Edelmut sollen in höchsten Tönen gepriesen werden. Sollte dir das nicht gelingen oder irgendetwas an deiner Hymne nicht meine Zufriedenheit finden, wirst du sterben und mit dir Frau und Kind.“
Heinrich machte sich sofort an die Arbeit. Er zog sich in seine Kammer zurück und nahm Feder und Papier zur Hand und begann zu schreiben; Allerlauchtigste Majestät, Euer Hochwohlgeboren, Eure Hoheit, Edler vom Schloss…, aber nichts reimte sich.
Den ganzen Tag und die ganze Nacht brütete er vor sich hin, bekam vor lauter Nachdenken sogar einen puterroten Kopf – doch nicht ein Vers stand auf seinem Papier. Der Hofdichter wurde immer verzweifelter. Endlich sprang er auf und lief an den Ställen vorbei zur großen Wiese. Hier hatte er noch immer gute Gedanken gefunden und Reime kamen hier von ganz alleine. Jedoch die große Wiese war von einer riesigen Schar von Wildgänsen besetzt, die aufgeregt schnatternd umherliefen, als suchten sie etwas.
Langsam und mit viel Angst im Herzen ging Heinrich zu den Ställen zurück und setzte sich erschöpft auf eine kleine Holzkiste, die direkt neben der großen Scheune stand.
Er war tiefbetrübt und Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er daran dachte, dass nicht nur sein Leben verwirkt war, sondern auch das von Frau und Kind.
Und während er noch vor sich hin seufzte, meinte er plötzlich aus dem Innern der Kiste, auf der er saß, ein leises Pochen zu vernehmen.
Er stand auf und, da die Kiste unverschlossen war, hob er vorsichtig den schweren Holzdeckel an. Er traute seinen Augen nicht, in der Kiste saß eine Wildgans, so eng von den festen Wänden umschlossen, dass sie nicht einmal eine Feder bewegen konnte. Nur den Hals konnte sie ein wenig strecken und während sie den Kopf ein wenig anhob schaute sie ihm mit verzweifeltem Blick direkt ins Gesicht.
„Ach du arme Gans“, sagte der Hofdichter, „mich dauert dein Geschick. Du wirst wohl ebenso des Todes sein, wie ich. Wenn ich dir nur helfen könnte. Und dann traute Heinrich seinen Ohren nicht, denn die Gans konnte sprechen und antwortete ihm. „Du hast ein gutes Herz, lieber Dichter“, sprach die Gans mit heiserer Stimme. „Ich bin der Ganter Rauschrei und der Führer der Wildgänse, wenn sie nach Norden fliegen. Ohne mich kann mein Volk die alten Wege nicht finden, denn sie folgen nur meinem Schrei.
Vor zwei Tagen nun hielt ich am Rande der großen Wiese ein Nickerchen, um Kraft zu sammeln für den langen Flug nach Norden. Da haben mich die Jäger des Königs überwältigt und in diese Kiste gesperrt. Ich soll als Braten auf der Geburtstagstafel des Königs landen. Was mich aber am meisten quält sind die verzweifelten Rufe meines Volkes nach mir, das auf der großen Wiese herumirrt und ohne mich verloren ist.
Großes Mitleid erfüllte den Dichter Heinrich, als er die Geschichte Rauhschreis hörte. „Wenigstens einer von uns soll leben“, dachte er bei sich und unter großer Mühe befreite er den Ganter aus der Kiste und gab ihm die Freiheit wieder.
Rauschrei schüttelte ausgiebig sein Federkleid auf und putzte sich. Dabei riss er sich eine prächtige Flügelfeder mit seinem scharfen Schnabel aus und hielt sie Heinrich entgegen. Verwundert nahm dieser die Feder an aber wusste nichts Rechtes damit anzufangen.
„Diese Feder“, schnatterte Rauschrei, „ist mein Dank an dich, weil du mir so selbstlos geholfen hast. Sie ist eine Zauberfeder und schreibt und dichtet von alleine. Du musst ihr nur die Dinge vorgeben, über die sie schreiben soll. Aber eines musst du beachten, wenn du diese Feder nutzt; sie schreibt niemals Lügen sondern nur die Wahrheit nieder. Und nun wird es Zeit, dass ich dich verlasse. Meine Brüder und Schwestern warten auf mich. Also lebe wohl, mein Retter.“
Kurze Zeit später hörte man mächtiges Flügelrauschen, und mit heiserem Schrei sah man eine vielköpfige Gänseschar nach Norden fliegen.
Heinrich aber lief, so schnell ihn seine Füße trugen, in seine Kammer zurück. Dort holte er eine große Rolle Büttenpapier aus der Schublade und legte diese neben die Zauberfeder auf den Tisch. „Was soll’s“, dachte er, „schaden kann es nicht. Wenn es sich mit der Feder so verhält, wie der Ganter gesagt hat, wird sie unser aller Leben retten.“ Nun schaute er die Feder an und bat: „Liebe Zauberfeder, schreibe nun diese Büttenrolle voll über den König Eitelmund. Schreibe bis morgen Abend, denn es muss das längste Gedicht werden, das die Welt je sah. Bedenke aber, dass die Worte großherzig und Edelmut unbedingt darin vorkommen müssen.“
Sofort stellte sich die Feder auf, rollte ein Stück Papier ab und begann zu schreiben.
Nun gab es für den Dichter kein Halten mehr, und er lief zu Frau und Kind, um ihnen von der glücklichen Wendung zu berichten. Erschöpft von den Aufregungen des Tages fand man die drei bald zufrieden schlafend in ihren Betten.
Sobald Heinrich vom Wiesengrund am Morgen des Festes erwachte, lief er sofort in die Kammer nebenan und sah die Feder, die immer noch schrieb und schrieb, wie von Zauberhand geführt. „Es war also kein Traum“, dachte er bei sich und dankte im Stillen noch einmal dem Ganter Rauschrei.
Frohgelaunt kleidete er sich in das beste Wams, das er besaß, rief Frau und Kind zu sich und ging mit ihnen zum Hofschneider. Dort erwarb er für beide ein neues Sonntagskleid, denn wenn er am Abend das Gedicht auf den König vortrug, durfte auch das Gesinde in den Saal und zuhören.
Der Abend des Balls war gekommen, und alle geladenen Gäste saßen an der Tafel und genossen die Speisen und den ausgezeichneten Wein. König Eitelmund saß am Kopfende der riesigen Tafel und nahm huldvoll lächelnd die Ehrenbezeugungen und Hochrufe entgegen, die ihm immer wieder von allen Seiten entgegen schallten. Dann stand er auf, und der Haushofmeister bat um Ruhe für eine Ansprache des Herrschers. „Liebe Gäste“, begann dieser nun und blickte voll Begeisterung auf seine neuen diamantenverzierten Handschuhe. „Wie ihr nun alle sehen könnt ist in meinem Reich alles am besten, schönsten und prächtigsten. Welcher König, außer mir, trägt wohl solche Gewänder, und welch anderer nennt solche Haarpracht sein eigen?“ Dabei traf sein geringschätziger Blick den König vom Unterland, seinen direkten Nachbarn, dessen ergrautes Haar schon etwas spärlich wirkte. „Damit ihr aber nun seht, wie das Volk über seinen König denkt, wird der beste aller Hofdichter das längste aller Gedichte über den großmütigsten aller Herrscher vortragen.“
Sich bescheiden verbeugend trat Heinrich vom Wiesengrund vor und begann das Büttenpapier zu entrollen. Ein Staunen und Raunen ging durch die Gäste- und Gesindeschar ob der Länge des Papiers. Atemlose Stille herrschte, als er zu lesen begann, – und dann-, er konnte nicht anders, zwang die Feder ihn das zu lesen, was dort auf Bütten geschrieben stand:
Oh schrecklich böser Eitelmund,
dein Kopf ist hohl,
dein Bauch ist rund.
Großherzig bist du sicher nicht,
nur Eitelkeit ziert dein Gesicht.
Der Edelmut ist dir gar fremd,
und Pickel hast du unterm Hemd.
Doch eins ist wirklich sonderbar,
du trägst nicht mal dein eignes Haar…
„Halt! Schluss! Sofort aufhören!“ schrie der König wutentbrannt, und sein Gesicht hatte sich vor lauter Zorn dunkelviolett verfärbt. Unter den Gästen hatte sich bei den Zeilen allerdings Wispern und Kichern breit gemacht.“
„Wache, Wache!“ König Eitelmunds Stimme kippte fast hintenüber. „Verhaftet den erbärmlichen Schreiber und schlagt ihm sofort den Kopf ab.“
Doch da erhob sich der König vom Unterland, forderte mit gebieterischer Stimme Ruhe ein und sagte: „Jeder Angeklagte hat das Recht auf Verteidigung. Also Dichter sprich, sag uns, wie du zu so einer Spottschrift gekommen bist.“
Nun erzählte Heinrich vom Wiesengrund, wie sich alles zugetragen hatte und schloss mit den Worten: „Ich verstehe nur die letzten Zeilen nicht, die die Zauberfeder geschrieben hat.“ Und langsam las er noch einmal den Vers vor…doch eins ist wirklich sonderbar, du trägst nicht mal dein eignes Haar… Da fuhr plötzlich ein Windstoß durch den Raum, riss Eitelmund die Perücke vom Kopf und trug sie davon. Vor den Gästen stand nun ein fast kahlköpfiger König. Und als wäre das nicht genug, lösten sich jetzt auch noch die Fäden des Hemdes auf, und zum Vorschein kam ein dicker, mit Pickeln besetzter Bauch.
Spott und Gelächter brandete auf, wie es die Wände des Schlosses in all den Jahren nicht gehört hatten. Sogar der Kammerdiener Jonathan lachte das erste Mal seit dreißig Jahren und rief immer wieder: „Wie seid Ihr doch lächerlich! Mein König, der lächerliche Eitelmund!“ Eitelmund aber konnte all den Spott und Hohn nicht länger ertragen. So wie er war floh er aus seinem eigenen Schloss und ward nie mehr gesehen.
Der König vom Unterland, jedoch, hatte die Weisheit der Feder erkannt. Er nahm Heinrich vom Wiesengrund auf Lebenszeit in seine Dienste. Er ließ ihn und seine Familie bei sich im Schloss wohnen und nutzte von nun an die Zauberfeder, um beim großen Gerichtstag, einmal im Jahr, ein gerechtes Urteil für jedermann zu finden.
Quelle: nicht angegeben