Die Bäume wogten im stürmischen Wind und der Regen fiel in dicken Tropfen auf das dichte Blätterdach des Finsterwaldes. Bo Kauk, der kleine Koboldjunge, starrte gedankenverloren auf die Wiese vor seinem Elternhaus. Er vermisste seine Schwester Flana, die schon seit über einem Jahr fort war. Angefangen hatte sie ganze Geschichte mit einem geheimnisvollen silbernen Spiegel, den Flana auf dem Markt auf der Bärenlichtung erstanden hatte. Mit diesem Zauberspiegel wollte seine Schwester ihren Vater Mo von seinem Fluch befreien.
Vater war immer bei Vollmond verschwunden gewesen. Warum, wusste Bo bis heute noch nicht. Mo ging es wieder gut, davon abgesehen, dass er sich ebenfalls Tag für Tag grämte, wo seine Tochter Flana abgeblieben ist. Rina, seiner Mutter, erging es dabei nicht besser. Bo überlegte schon seit geraumer Weile, was er tun könnte, um diese überaus missliche Situation zu ändern. Er wollte, dass seine Schwester wieder bei ihm war, mit ihm spielte und ihm bei den Hausaufgaben half. Und er wollte, dass seine Eltern wieder so fröhlich wie früher waren. Er musste einfach etwas unternehmen
Eine Woche später stand Bo schon vor seinen Eltern auf, holte ein herabgefallenes Blatt aus dem Garten und schrieb mit Mutters Elbenkreide eine Botschaft darauf. Da er noch nicht sonderlich gut schreiben konnte, fasste er sich kurz:
Mach euch keine Sorge. Ich bin nur zur Bärenwise. Will Markt besuchen. Bin bal wider da.
Dann nahm er seinen kleinen Rucksack, in den er schon am Vortag ein Stück Brot und einen Strauch Brombeeren gepackt hatte, zog seine dicke Jacke und seine festen Stiefel an und verließ leise das Haus.
Er wusste genau wie er gehen musste, um zur Bärenwiese zu gelangen. Zuerst den Fuchsstieg entlang, den Wolfsanger überqueren und schließlich den Einhornpfad bis zur Bärenlichtung nehmen. Das war einfach. So dachte Bo jedenfalls. Doch nachdem er schon eine Stunde unterwegs war und den Wolfsanger immer noch nicht gefunden hatte, fragte er sich das erste Mal, ob es nicht doch besser gewesen wäre, noch einmal mit Ma oder Pap über den Weg zum Markt zu sprechen. Bos Idee war gewesen, den Markt zu besuchen und die fremde Frau zu finden, die Flana damals den silbernen Spiegel verkauft hatte. Vielleicht wusste sie, wenn sie schon zauberkräftige Dinge feilbot, wo Flana sein könnte. Ihren Namen hatte sich Bo gemerkt. Sie hieß Mira Keel. Und wenn er auch nicht wusste, wie sie aussah, so hätte er nach einer Frau mit diesem Namen fragen können. Aber dazu musste er natürlich den Markt auch erreichen.
Plötzlich raschelte das Gebüsch auf der linken Seite des Stieges und ein buschiger, rotbepelzter Schwanz wurde sichtbar. Bo blieb erschrocken stehen. Doch dann erkannte er den Besitzer des Schwanzes. Es war Pelun, der Fuchs.
„Pelun“, sagte Bo. „Was machst du denn hier?“
Der Fuchs fuhr blitzschnell herum und entblößte nadelspitze Zähne.
„Ach, der kleine Kauk“, antwortete er nach einer kleinen Weile. „So allein im Wald unterwegs?“
Bo lief es kalt den Rücken herunter. Er mochte Pelun nicht sonderlich. Der Fuchs sagte immer so seltsame Sachen, bei denen man nie genau wusste, ob er jetzt Spaß machte oder es sein Ernst war. Und schließlich war Pelun ein Raubtier und fast genauso groß wie Bo selbst.
Was fraßen Füchse eigentlich? Doch keine Kobolde, oder?
Bo war sich diesbezüglich nicht sicher und wollte seine Begegnung mit Pelun so kurz wie möglich halten.
„Ähh, Pelun wie komme ich denn am schnellsten zum Markt?“, fragte er mit leicht zitternder Stimme.
Der Fuchs legte den Kopf schief und betrachtete den Koboldjungen mit funkelnden Augen.
Bo erschauderte. Ich sollte so schnell wie möglich von hier verschwinden, dachte er .
Pelun wandte den Kopf und sagte leise: „Dort entlang, kleiner Bo. Hinter dem Wolfsanger beginnt der Einhornpfad. Dann nach Norden. Wenn du soweit bist, kannst du den Markt nicht mehr verfehlen.“ Damit machte er einen Satz und verschwand im Unterholz. Bo setzte sich wieder in Bewegung. Der Fuchs war vielleicht doch kein so übler Bursche.
Endlich hatte er den Wolfsanger überquert und erreichte einen Weg, der nur der Einhornpfad sein konnte, als er ein knackendes Geräusch hinter sich vernahm. Bo drehte sich herum und sah dort im Zwielicht zwischen den Bäumen eine zierliche Gestalt stehen. Sie war nur ein klein wenig größer als er selbst, hatte langes, dunkles Haar und ein fein geschnittenes Gesicht. Es war ein Mädchen oder eine Frau. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, in das kleine, glitzernde Steinchen gewebt waren. Anscheinend hatte sie sich mit genau diesem in einem Dornenbusch verfangen, denn sie zerrte und zog an dem Saum ihres Kleides, kam aber nicht frei. Bo kannte die Frau nicht. Sie war keine Koboldin, das wusste er sofort. Aber sie konnte auch keine Elbin sein, dafür war sie zu klein. Für eine Waldfee war sie wiederum viel zu groß.
Da fiel Bo Flanas Erzählung wieder ein. Eine Frau, die zu keinem mir bekannten Volk gehörte, hat mir den Spiegel verkauft , hatte sie damals berichtet.
Bo fing an zu laufen.
„Warte“, rief er. „Kann ich dir helfen?“
Die Frau blickte auf, ihre Augenbrauen hoben sich erstaunt. Sie hatte ein hübsches Gesicht, befand Bo. Ihre Augen hatten den gleichen Farbton wie ihr Kleid, ihre Nase war klein und spitz. Sie lächelte. „Oh ja. Hilfe wäre mir sehr willkommen“, sagte sie mit sanfter Stimme.
Bo kniete vor ihr nieder und befreite den Saum des kostbaren Kleides aus dem Dornbusch.
„Danke vielmals. Was machst du so alleine im Wald, kleiner Kobold?“
„Ich bin Bo Kauk“, antwortete der Junge. „Ich bin auf dem Weg zum Bärenmarkt. Und wer bist du?“, er atmete heftig vor Aufregung.
„Ich bin eine Sucherin. Wo sind denn deine Eltern?“
Statt eine Antwort zu geben, stellte auch Bo eine Frage: „Bist du Mira? Mira Keel?“
Die schöne Frau legte den Kopf schief, fast so wie Pelun es getan hatte und zog die Stirn kraus. „Wieso suchst du Mira Keel, kleiner Bo?“
„Weil … weil, diese Frau meiner Schwester einen Zauberspiegel verkauft hat und dann hat Flana mit diesem Spiegel meinem Vater geholfen, aber seitdem ist sie selbst verschwunden und ich will, nein, ich muss sie wieder finden“, sprudelte es aus Bo nur so heraus.
Die Frau lachte glockenhell, wurde aber sofort wieder ernst.
„Das war aber ein hastiger Bericht, Bo. Nun, ich bin Mira und ich glaube auch zu wissen, warum deine Schwester Flana verschwunden ist. Sie hat den Rat des Orakels nicht bedacht oder nicht verstanden. Deswegen wurde der Spiegel zu einem gefährlichen Objekt und warf den Fluch auf deine arme Schwester zurück.“
Bo runzelte die Stirn. Er hatte nur die Hälfte von dem verstanden, was Mira soeben erzählt hatte.
„Was ist ein Objekt?“, fragte er deshalb schnell.
Mira seufzte. „Ein Ding, eine Sache, in diesem Fall der Spiegel.“
„Hmm, kannst du mir einen Rat geben, wie ich meine Flana wiederfinden oder zurückholen kann?“
Mira seufzte erneut. „Ich weiß nicht. Bist du nicht noch ein wenig zu klein für derlei Abenteuer?“
„Bitte Mira, ich vermisse meine Schwester so sehr und meine Eltern sind die ganze Zeit traurig und lachen fast überhaupt nicht mehr.“
Mira strich Bo über sein struppiges rotes Haar und lächelte wieder. Diesmal wirkte es aber nicht mehr fröhlich, sondern fast schon traurig.
„Manche Dinge sind nicht so einfach, wie sie scheinen, Bo. Ich kann dir nur den Weg zu einem Hilfsmittel sagen, wie du deine Schwester vielleicht finden kannst. Aber die Betonung liegt hierbei auf dem Wort vielleicht.“
„Aber ich will es versuchen. Wenn es eine Möglichkeit gibt, will ich es versuchen“, gab der Junge energisch zurück.
Mira nickte nachdenklich. „Also gut. Es gibt im Osten einen Bach. Der Gurgelbach. In seinem Kiesbett kann man zauberkräftige Steine finden. Du wirst sie erkennen, wenn du sie siehst und daran denkst, was du bist.“
Bo runzelte die Stirn und öffnete den Mund, aber Mira gebot ihm mit einer Geste zu schweigen.
„Drei davon musst du zusammenfügen, erst dann entfalten sie ihre Macht. Mit diesen Zaubersteinen kannst du viele Dinge tun. Doch Vorsicht! Du musst genau wissen was du willst.“
„Danke, Mira. So schwierig hört sich das gar nicht an.“ Bo bückte sich um eine Eichel aufzuheben. „Aber trotzdem würde ich noch gerne wissen, wie man die Steine …“
Als Bo sich wieder aufrichtete, war die fremde Frau verschwunden. „…zusammenfügt“, beendete er seinen Satz verblüfft. Er drehte sich um die eigene Achse. Umrundete den Dornenbusch und blickte den Weg hinauf und hinab, aber Mira Keel blieb verschwunden.
Bo kratzte sich an der Stirn, zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Weg zum Gurgelbach.
Nach einiger Zeit hatte Bo den Gurgelbach erreicht. Das Wasser glitzerte in der Sonne und kleine schäumende Wellen brachen sich an den Steinen des Bachbettes.
Der Junge blieb stehen, setzte seinen Rucksack ab und betrachtete den wunderschönen Wasserlauf nachdenklich.
Wie soll ich die Steine denn nun erkennen?, dachte er. Ich soll mich darauf besinnen, was ich bin. Ich bin ein Kobold. Ein junger Kobold. Hmm, und jetzt?
Bo kratzte sich wieder an der Stirn. Das tat er immer, wenn er angestrengt nachdachte.
Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Er lächelte. „Ich bin ein Kobold“, rief er. „Ich habe irgendein magisches Talent.“
Kobolde, so hatte ihm sein Vater erzählt, haben immer die ein oder andere magische Begabung. Nur wusste Bo noch nicht, welche die seine war. Er zog seine Stiefel aus und watete in den Bach hinein. Das Wasser war eiskalt. Bo quiekte leise, da er dachte seine Zehen würden erfrieren, aber nach kurzer Zeit hatte er sich an das kalte Nass an seinen Füßen gewöhnt. Er begann mit seiner Suche.
Als die Sonne hinter den Baumwipfeln verschwand, hatte Bo drei kleine Kieselsteine gesammelt. Der eine war schwarz, der andere kupferfarben und der letzte hell.
Er taumelte an das Ufer und stürzte ins hohe Gras. Er konnte seine Füße nicht mehr spüren.
Bo bekam schreckliche Angst. Seine Mutter hatte ihn im Winter vor Erfrierungen gewarnt.
Seine Zehen würden absterben und seine Füße für immer unbrauchbar sein.
„Nein“, jammerte der kleine Kobold. „Bitte nicht. Ich will meine Zehen behalten. Sie sollen wieder warm werden.“
Dabei hatte er gar nicht an die drei Steinchen in seiner linken Hand gedacht. Doch nun fühlte er, wie sie warm wurden. Die wohlige Wärme breitete sich in seinem ganzen Körper und auch in seinen Gliedern aus. Er konnte seine Füße wieder spüren. Er wackelte mit den Zehen und jauchzte: „Juhu. Nichts wird mir abfrieren.“
Dann blickte er auf seine Handfläche. Die Steine waren wieder kühl. Aber der Kupferfarbene war jetzt auch schwarz. Was auch immer das zu bedeuten hatte, er konnte zaubern.
Er sprang auf und lief zu Rucksack und Stiefeln zurück. Nun war es schon fast dunkel. Heute würde er nicht mehr nach Hause finden. Oder doch?
Bo schloss seine Hand fest um die kühlen Steine und dachte: Ich will nach Hause. Jetzt!
Eine Rauschen erklang, dann wurde Bo ganz schwindelig und er setzte sich rücklings auf seinen Hosenboden. In der Düsternis konnte er Licht erkennen. Das war sein Haus.
„Juhu“, rief er wieder. Langsam bewegte er sich auf sein Elternhaus zu. Dann blieb er erneut stehen und blickte in seine linke Hand. Nun waren alle drei Steine schwarz. Der Junge kratzte sich wieder an der Stirn. Zwei der Steine hatten sich verändert. Für jeden Zauber ein Stein. Das bedeutete, dass er nur noch einen Zauber übrig hatte.
Seine kleine Faust schloss sich wieder um die magischen Kiesel.
„Ich will, das Flana wieder hier ist“, sagte er laut.
Nichts geschah. Er wiederholte seinen Wunsch. Viel lauter diesmal.
Es passierte absolut nichts. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Bo erschrak schrecklich.
„Bo Kauk, wo warst du den ganzen Tag und die halbe Nacht?“, schimpfte seine Mutter und zerrte ihn ins Haus.
Bo erzählte seinen Eltern alles.
„Ich habe die falschen Steine genommen. Es hätte kein schwarzer dabei sein dürfen“, beendete der Junge seinen Bericht und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Bo, mein Kleiner. Beruhige dich. Das war sehr mutig von dir. Und es war eine selbstlose Tat. Irgendwann wird das belohnt werden. Wir werden einen Weg finden. Gemeinsam“, tröstete ihn sein Vater.
Quelle: Helmut Marischka