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Dreißig aus Paris

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Es war einmal, es wird eines Tages sein: das ist von allen Märchen der Anfang. Es gibt kein Wenn und kein Vielleicht; der Dreifuß hat unbestreitbar drei Füße. Es war zur Zeit, da der liebe Gott mit dem heiligen Petrus und dem heiligen Johannes durch die Basse-Bretagne reiste. Als sie eines Tages alle drei unter mancherlei Gesprächen ihres Weges gingen, da schien es ihnen mit einem Male, als hörten sie das Wimmern eines Kindes im Straßengraben. Sie stiegen in den Graben und fanden wirklich zwischen den Farnkräutern ein kleines verlassenes Kind, welches überaus schön war. Sie nahmen es mit. Eine alte Frau, die keine Kinder hatte, nahm sich seiner an und zog es auf, als wäre es ihr eigener Sohn. Der Knabe gedieh prächtig. Mit fünfzehn Jahren war er schon ein kräftiger Bursche und er hatte ein gutmütiges Gesicht. Er wollte auf die Wanderschaft gehen. Die Alte mochte predigen, soviel sie wollte, und flehen, er möge sie nicht verlassen, schließlich mußte sie ihn doch gewähren lassen. Sie gab ihm ein wenig Geld mit und er machte sich auf den Weg nach Paris.

Als er in Paris angekommen war, bat er sogleich im Schlosse des Königs um Arbeit. Man nahm ihn auf, weil er einen gefälligen Eindruck machte und überhaupt ein hübscher Bursch war. Es dauerte nicht lange, so fiel er dem Könige auf, und dieser fand Gefallen an ihm. Er gewann ihn so lieb, daß die anderen Diener auf ihn eifersüchtig wurden und allerlei Mittel erdachten, um ihn zu verderben. Eines Tages, als sie untereinander über ihre Angelegenheiten plauderten, sagte einer von ihnen: »Ich möchte wissen, warum die Sonne morgens, wenn sie aufgeht, so rot ist.« »Es ist nicht leicht, das zu erfahren«, antworteten die anderen. »Wenn wir dem Könige sagen würden, daß Dreißig-aus-Paris (man hatte dem Burschen aus irgendeinem Grunde diesen Namen beigelegt) sich gerühmt habe, er sei imstande, die Sonne zu fragen, warum sie morgens beim Aufgehen so rot sei.« »Ja, sagen wir es ihm!« Der oberste Stallknecht suchte also den König auf und sprach zu ihm: »Wenn Ihr wüßtet, Herr, was Dreißig-aus-Paris gesagt hat!« »Und was hat er denn gesagt?« fragte der König. »Er hat gesagt, er sei imstande, die Sonne zu fragen, warum sie des Morgens, wenn sie aufgeht, so rot sei.« »Es ist nicht möglich, daß er das gesagt hat!« »Er hat es gesagt, ich versichere es Euch, Herr!« »Gut, er soll zu mir kommen!« Dreißig-aus-Paris begab sich zum Könige. »Wie, Dreißig-aus-Paris, du hast gesagt, du wärest imstande, die Sonne zu fragen, warum sie so rot sei, wenn sie am Morgen aufgeht?« »Ich, Herr? Nie habe ich etwas dergleichen gesagt!« »Du hast es gesagt, mein Junge, man hat mich dessen versichert, und du mußt das auch ausführen, womit du geprahlt hast, oder du mußt sterben. Geh!«

Nun war der arme Dreißig-aus-Paris sehr in Verlegenheit; das glaubt mir, bitte! »Es ist um mich geschehen!« sagte er zu sich selber. Dennoch machte er sich auf den Weg und vertraute auf die Gnade Gottes. Als er den Hof verließ, erblickte er eine prächtige weiße Stute, welche auf ihn zukam und ihn folgendermaßen anredete: »Steige auf meinen Rücken, dann werde ich dich bis zur Sonne führen. Wir haben vor Sonnenuntergang noch tausend Meilen bis zum ersten Schloß, in dem wir übernachten werden, zurückzulegen.« Dreißig-aus-Paris stieg auf den Rücken der schönen weißen Stute und sogleich erhob sich diese mit ihm in die Lüfte. Sie kamen in dem Augenblick, da die Sonne unterging, an ein Schloß. Dreißig-aus- Paris stieg ab und klopfte auf den Rat der Stute an das Tor des Schlosses: »Poch, poch!« »Wer ist draußen?« fragte eine Stimme von innen. »Dreißig-aus-Paris! Mein Roß und ich macht einunddreißig.« Man öffnete ihm, er trat ein und aß mit der Tochter des Schloßherrn zu Abend. »Wohin geht Ihr denn?« fragte ihn dieselbe. »Meiner Treu, Prinzessin, das weiß ich selber nicht genau. Man hat mir aufgetragen, die Sonne zu fragen, warum sie so rot sei, wenn sie morgens aufgeht, aber ich weiß nicht, nach welcher Richtung ich mich wenden soll.« »Gut, wenn Ihr jemals an das Ziel Eurer Reise kommt, so fragt doch auch, bitte, die Sonne, welches die Ursache der langen Krankheit meines Vaters ist und was man tun muß, um ihm die Gesundheit wiederzugeben.« »Ich werde sie danach fragen, Prinzessin.«

Am andern Morgen, als die Sonne aufging, bestieg Dreißig-aus-Paris wieder seine weiße Stute. Diese erhob sich sogleich in die Lüfte und flog schneller als der Wind davon. Bei Sonnenuntergang kamen sie vor ein zweites Schloß, welches tausend Meilen vom ersten entfernt war. Dreißig-aus-Paris wurde vom Schloßherrn gut aufgenommen, derselbe lud ihn, ebenso wie der erste, ein, mit ihm zu speisen. »Und wohin reist Ihr?« fragte er ihn. »Meiner Treu, man hat mir aufgetragen, die Sonne zu fragen, warum sie morgens, wenn sie aufgeht, so rot sei; aber ich weiß selber nicht recht, welchen Weg ich einschlagen soll.« »Gut, wenn Ihr jemals zur Sonne gelangt, so fragt sie doch auch, bitte, welches der Grund ist, daß ein Birnbaum, der in meinem Garten steht, auf der einen Seite vertrocknet und unfruchtbar ist, während er auf der anderen jedes Jahr Früchte trägt.« »Ich werde sie gern danach fragen.«

Am folgenden Tage brach er wieder frühzeitig mit seiner weißen Stute auf. »Wie? Sind wir noch nicht bald da?« fragte Dreißig-aus-Paris sein Reittier. »Doch,« versetzte jenes, »wir haben nur mehr tausend Meilen zurückzulegen. Bald werden wir an einen Meeresarm gelangen; dort müssen wir uns trennen und du mußt mich auf dieser Seite des Wassers zurücklassen. Es wird sich ein Fährmann dort finden, der dich in seiner Barke über den Meeresarm setzen wird. Er wird dich fragen, wohin du gehst, aber sage es ihm nicht, und bei der Rückkehr sage ihm nicht eher, wo du gewesen bist, bis er dich auf dieser Seite des Wassers wieder abgesetzt hat.«

Sie setzten ihren Weg fort und gelangten alsbald an den Meeresarm. Dreißig-aus-Paris ließ sein Roß auf einer Wiese, die sich dort befand, weiden und wandte sich zu dem Fährmann, den er auf seinem Boot gewahrte. »Wenn ich nicht aufdringlich bin, wohin geht Ihr denn, Herr?« fragte ihn dieser, während er ihn über das Wasser setzte. »Setzt mich nur über, und bei der Rückkehr werde ich Euch sagen, wo ich gewesen bin.« Sie kamen auf das andere Ufer. Dort sah er das Schloß der Sonne vor sich, das schönste Wunderwerk, welches seine Augen je geschaut hatten. Er trat näher, um seine Schwelle zu überschreiten.

Die Sonne ging gerade auf, und als sie ihn kommen sah, rief sie ihm zu: »Entferne dich, entferne dich schnell oder ich verbrenne dich! Was willst du hier?« »Ich bin gekommen, gnädigste Frau Sonne1, um Euch zu fragen, warum Ihr so rot seid, wenn ihr des Morgens aufgeht?« »Ich will es dir sagen: weil ich in diesem Augenblick über das Haus der Prinzessin vom goldenen Schlosse schreite. Nun aber geh geschwind fort, damit ich aufgehen kann. Geh, oder ich verbrenne dich!« »Zuvor müßt Ihr mir noch sagen, was zu tun ist, um einem kranken Fürsten, der in dem Schlosse wohnt, in dem ich das erstemal übernachtet habe, als ich herkam, und den die Ärzte nicht heilen können, die Gesundheit wiederzugeben.« »Unter dem rechten Fuße seines Bettes sitzt eine Kröte; man muß diese Kröte töten und sogleich wird der Kranke seine Gesundheit wiedererlangen. Jetzt aber geh, geschwind!« »Eine letzte Frage, gnädigste Frau Sonne! Ich werde nicht gehen, bevor Ihr mir nicht gesagt habt, welches der Grund dafür ist, daß ein Birnbaum, der in dem Garten des Schlosses steht, in dem ich die zweite Nacht zugebracht habe, als ich herkam, auf der einen Seite ganz dürr und abgestorben ist, während er auf der anderen Seite jedes Jahr Früchte in Fülle trägt.« »Weil unter dem Birnbaum eine Tonne Silber liegt, und die Seite, unter welcher das Silber liegt, ist vertrocknet und unfruchtbar, während die andere grün und voller Lebenskraft ist. Jetzt aber marsch, fort! Ich bin ohnehin schon zu spät daran.« Dreißig-aus-Paris verabschiedete sich und ging, nachdem er erfahren hatte, was er wissen wollte; und nun ging die Sonne auf.

Als er zum Meeresarm gekommen war, nahm ihn der Fährmann in seinen Kahn, und mitten auf dem Wege fragte er ihn: »Nun, was hat Euch die Sonne gesagt?« »Ich werde es Euch erzählen, sobald wir am anderen Ufer sind.« »Sagt es mir sofort oder ich werfe Euch ins Wasser!« »Dann erfahrt Ihr erst recht nichts, also ist es gescheiter, wenn Ihr mich ans andere Ufer bringt.« Und der Fährmann brachte ihn auf die andere Seite des Wassers. »Sagt es mir jetzt, da Ihr übergefahren seid!« bat er ihn wieder. »Ich werde es Euch ein andermal erzählen, wenn ich wieder hier vorbeikomme.« »Weh! Ich bin wieder betrogen!« rief der Fährmann. »Meinen Fluch über dich! Seit fünfhundert Jahren bin ich hier Fährmann, und du könntest mich erlösen, indem du meine Frage beantwortetest.« »Jawohl, um dann deinen Platz einzunehmen und ebensolange dortzubleiben wie du, und vielleicht noch länger. Ich danke schön!« Und er ging davon. Er fand sein Roß da wieder, wo er es verlassen hatte. »Nun,« fragte es ihn, »hast du dir gut herausgeholfen?« »Ausgezeichnet!« »Steige nun auf meinen Rücken, wir wollen abreisen.«

Bei Sonnenuntergang waren sie vor dem Schlosse, in dem sie die zweite Nacht auf ihrer Herreise verbracht hatten. Dreißig-aus-Paris wurde dort gut aufgenommen und speiste mit dem Schloßherrn zu Abend; dieser fragte ihn: »Nun, habt Ihr meinen Auftrag bei der Sonne ausgerichtet?« »Ja, das habe ich getan.« »Und was hat sie zu Euch gesagt?« »Sie hat mir gesagt, daß unter Eurem Birnbaum eine Tonne Silber liegt und daß die Seite des Baumes, unter welcher das Silber liegt, vertrocknet und unfruchtbar ist, während die andere grünt und Früchte trägt.« Man fällte sogleich den Birnbaum und überzeugte sich, daß die Sonne die Wahrheit gesagt habe.

Am andern Morgen machte sich Dreißig-aus-Paris wieder frühzeitig mit seinem Roß auf den Weg, und bei Sonnenuntergang standen sie vor dem Schloß, in dem sie auf der Herreise die erste Nacht verbracht hatten. Dreißig-aus-Paris wurde dort wiederum gut aufgenommen und aß mit der Tochter des Hausherrn zu Abend, denn dieser lag noch immer krank im Bett. »Nun,« fragte sie ihn, »habt Ihr meinen Auftrag bei der Sonne ausgerichtet?« »Ja, das habe ich getan, Prinzessin.« »Und was hat sie Euch geantwortet?« »Sie hat mir gesagt, daß unter dem rechten Fuß vom Bette Eures Vaters eine Kröte sitzt und daß Euer Vater seine Gesundheit nicht eher wiedererlangen wird, bis die Kröte fortgenommen und getötet ist.« Man suchte unter dem Bette nach und fand die Kröte an der angegebenen Stelle; sie wurde getötet und sogleich wurde der Schloßherr wieder gesund.

Am nächsten Morgen, sobald die Sonne aufgegangen war, machte sich Dreißig-aus-Paris mit seinem Roß wieder auf den Weg und am Abend waren sie wieder in Paris vor dem Palaste des Königs. »Nun, Dreißig-aus-Paris,« fragte ihn der König, als dieser vor ihn trat, »habt Ihr bei Eurer Reise Glück gehabt?« »Vollkommen, gnädiger Herr!« »Und was hat Euch die Sonne geantwortet?« »Die Sonne, gnädiger Herr, hat mir geantwortet, daß dasjenige, was sie morgens beim Aufgange so rot erscheinen läßt, das Haus der Prinzessin vom goldenen Schlosse ist, über welches sie schreitet.« »Es ist gut. Sie muß sehr schön sein, diese Prinzessin!«

Dreißig-aus-Paris kehrte an seine alte Arbeit zurück und eine Zeitlang ließen ihn seine Kameraden in Frieden. Indessen dachten sie immer noch auf ein Mittel, sich seiner zu entledigen. Einer von ihnen suchte kurz darauf den König auf und sprach zu ihm: »Wenn Ihr wüßtet, Herr, wessen sich Dreißig-aus-Paris gerühmt hat!« »Wessen hat er sich denn wieder gerühmt?« »Wessen? Euch die Prinzessin vom goldenen Schlosse hierher, in Euren Palast, bringen zu wollen.« »Wirklich? Sagt ihm, er solle sogleich zu mir kommen, denn ich bin sehr begierig, diese Prinzessin zu sehen.« Man benachrichtigte Dreißig-aus-Paris, er solle sich sogleich zum König begeben. »Wie, Dreißig-aus-Paris?« fragte ihn der alte Monarch, »du hast dich gerühmt, du könntest mir die Prinzessin vom goldenen Schlosse hierher in meinen Palast bringen?« »Ich? Mein Gott! Ich habe nie etwas dergleichen gesagt, Herr!« »Du hast es gesagt, und du mußt es auch tun oder du mußt sterben. Mach dich sogleich auf!«

Nun war unser armer Dreißig-aus-Paris wieder sehr in Unruhe. »Was tun?« sprach er zu sich selber, »wenn nur meine gute weiße Stute wieder käme, um mir wie das vorige Mal zu helfen!« Er ging am andern Morgen frühzeitig fort. Kaum hatte er den Hof verlassen, so sah er auch schon die weiße Stute auf sich zukommen, und diese redete ihn folgendermaßen an: »Steige geschwind auf meinen Rücken, dann wollen wir gleich abreisen, denn wir haben einen weiten Weg zurückzulegen.« Er umhalste sie vor Freude, dann stieg er auf ihren Rücken und sie eilten von dannen.

Sie kamen ans Ufer des Meeres. Auf dem Strande gewahrten sie außerhalb des Wassers einen kleinen Fisch, der das Maul offen hatte und nahe am Tode war. »Nimm rasch diesen Fisch und setze ihn wieder ins Wasser!« sagte die weiße Stute. Dreißig-aus-Paris gehorchte ihr eilends, der kleine Fisch aber streckte den Kopf aus dem Wasser und sprach: »Meinen Segen über dich, Dreißig-aus-Paris! Ich bin der König der Fische, und wenn du jemals meiner oder der Meinigen bedarfst, so rufe nur und ich werde sogleich erscheinen.«

Er bestieg nun ein kleines Fahrzeug, welches er in der Nähe bemerkte, überschritt den Meeresarm und befand sich vor dem Schlosse der Prinzessin, welches aus lauterem Golde war. Er klopfte an das Tor, und die Prinzessin kam selbst und öffnete. »Guten Tag, Dreißig-aus-Paris!« sagte sie zu ihm und hieß ihn nähertreten. »Du kommst hierher, um mich an den Hof des Königs von Frankreich zu holen.« »Das ist wirklich wahr, Prinzessin.« »Ich werde mit dir gehen, aber du sollst diese Nacht hier bleiben, morgen früh werden wir abreisen.«

Er verbrachte die Nacht im Schloß und am andern Morgen reisten sie ab. Die Prinzessin nahm den Schlüssel zu ihrem Schlosse mit; aber als sie über das Wasser fuhren, warf sie ihn auf den Grund des Meeres. Sie fanden die weiße Stute am andern Ufer, stiegen alle beide auf ihren Rücken und schlugen den Weg nach Paris ein. Als der alte König die Prinzessin vom goldenen Schlosse sah, war er vor Freude und Glück derart außer sich, daß er fast den Verstand darüber verlor. Alle Tage veranstaltete er Festlichkeiten und Spiele am Hofe und wollte sich auf der Stelle mit der Prinzessin verheiraten. Diese sagte zu ihm, sie wünsche sich nichts Besseres, aber nur unter der Bedingung, daß man ihr das goldene Schloß hole und neben das des Königs stelle, denn sie wolle kein anderes bewohnen. Da war der König betrübt. »Wie sollte man das Schloß der Prinzessin nach Paris bringen? Wäre das möglich?« »Bah!« sagte einer seiner Höflinge zu ihm, »der, welcher Euch die Prinzessin gebracht hat, soll Euch auch ihr Schloß bringen.« Dreißig-aus-Paris wurde wieder beauftragt, vor den König zu kommen. »Nun, Dreißig-aus-Paris, du mußt mir das goldene Schloß der Prinzessin holen und hierher bringen, denn die Prinzessin will kein anderes bewohnen.« »Und wie soll ich das machen, Herr?« »Du wirst es so machen, wie du es für das beste hältst, aber jedenfalls mußt du dieses wunderbare Schloß herbeibringen oder du mußt sterben.« Nun war unser armer Dreißig-aus-Paris mehr in Verlegenheit als je. »Wenn meine Stute mir zu Hilfe käme, vielleicht könnte sie mir wieder heraushelfen!« sagte er zu sich selber.

Am nächsten Morgen, als er den Schloßhof verließ, sah er wieder seine weiße Stute, welche ihn erwartete, und er erzählte ihr alles. »Geh wieder zum König und sage ihm, daß du vor Antritt deiner Reise ein Pferd mit Gold und eines mit Fleisch beladen benötigst«, sagte sie zu ihm. Dreißig-aus-Paris bat den König um ein Pferd, beladen mit Gold, und um eines mit Fleisch. Man gab ihm beide, und sogleich machte er sich mit seiner weißen Stute auf den Weg. Sie kamen ans Meeresufer. Dreißig-aus-Paris lud das Fleisch in ein Boot, dann fuhr er ab und ließ die Stute und die beiden Pferde am Ufer zurück. Er landete alsbald auf einer Insel, wo er vier Löwen grimmig miteinander kämpfen sah, die einander zu verschlingen trachteten, denn sie kamen um vor Hunger. »Kämpft nicht so, ihr armen Tiere,« rief er ihnen zu, »folgt mir vielmehr, ich will euch zu fressen geben.« Die vier Löwen folgten ihm zum Boot und er warf ihnen genügend Fleisch zum Fraße vor. »Unsern Segen über dich!« sagten die vier Löwen zu ihm, als sie wohlgesättigt waren, »wir hätten einander verschlungen, wenn du nicht gekommen wärest, denn die furchtbarste Hungersnot herrscht auf unserer Insel. Wenn du je unser bedarfst, so brauchst du uns nur zu rufen und wir werden dir eilends zu Hilfe kommen.« »Meiner Treu, ihr armen Tiere, ich habe schon jetzt dringend Hilfe nötig.« »Was können wir für dich tun?« »Der König von Frankreich hat mir befohlen, ihm den Palast der Prinzessin vom goldenen Schlosse nach Paris zu bringen, und wenn ich es nicht tue, muß ich sterben.« »Wenn es weiter nichts ist, das soll bald geschehen sein!« Und die vier Löwen eilten zum goldenen Schlosse, rissen es vom Felsen, auf dem es stand, und trugen es auf das Schiff. Dann, ehe sie davongingen, sagten sie zu Dreißig-aus-Paris: »Du wirst unser nochmals bedürfen, Dreißig-aus-Paris, aber wo es auch sein mag, rufe uns nur und wir werden kommen.«

Am folgenden Morgen, als der König die Augen öffnete, war er sehr überrascht, sein Zimmer heller als sonst erleuchtet zu sehen. »Was ist das?« sagte er. Er sprang aus dem Bett und streckte den Kopf zum Fenster hinaus. »Hola!« rief er sogleich, »das goldene Schloß ist da!« Und er eilte in das Zimmer der Prinzessin und sprach zu ihr: »Euer Schloß ist da, Prinzessin, kommt und seht es Euch an!« »Es ist wahr,« sagte die Prinzessin, als sie es gesehen hatte, »es ist wirklich mein Schloß, ich kann es nicht leugnen. Laßt uns es besichtigen!« Und sie gingen, das goldene Schloß zu besichtigen, und der ganze Hof folgte ihnen. »Aber wo ist der Schlüssel?« fragte die Prinzessin, als sie das Tor verschlossen fand. »Ah! Ich erinnere mich jetzt, daß er mir aus der Hand glitt und ins Wasser fiel, als wir über das Meer fuhren, um uns hierher zu begeben.« »Man wird einen andern Schlüssel machen,« sagte der König, »und wir können uns ohne weiteren Aufschub verheiraten.« »Oh, es gibt keinen Schlosser auf der Welt, der einen Schlüssel anfertigen könnte, welcher das Tor meines Schlosses zu öffnen imstande wäre. Ich muß unbedingt meinen alten Schlüssel wieder haben, und bis ich ihn nicht wiedergefunden habe, will ich nichts mehr von der Hochzeit hören, denn ich will mich nur in meinem Schlosse verheiraten.« »Aber was ist zu tun, um diesen Schlüssel auf dem Meeresgrunde wiederzufinden?« »Wenn es Dreißig-aus-Paris nicht gelingt, so muß man darauf verzichten«, sagte ein jeder. Dreißig- aus-Paris wurde wiederum vom König beauftragt, den Schlüssel des Schlosses zu suchen und ihn beizubringen, andernfalls müsse er sterben.

Seine treue Stute und er machten sich am andern Morgen auf den Weg. Als sie ans Meeresufer gelangt waren, sagte die Stute zu ihm: »Entsinnst du dich des kleinen Fisches, dem du das Leben gerettet hast dadurch, daß du ihn ins Wasser setztest?« »Ich entsinne mich recht gut!« »Nun, du weißt, daß es der König der Fische war und daß er dir versprochen hat, dir zu Hilfe zu kommen, wenn du ihn benötigst. Rufe ihn!« Und Dreißig-aus-Paris ging zum Meeresstrand und rief den König der Fische. Dieser eilte sogleich herbei und sagte, indem er seinen kleinen Kopf aus dem Wasser streckte: »Was für einen Dienst begehrst du, Dreißig-aus-Paris?« »Ich brauche den Schlüssel des goldenen Schlosses, Herr, den die Prinzessin auf den Grund des Meeres hat fallen lassen, als sie darüberfuhr, um sich mit mir nach Paris zu begeben.« »Wenn es weiter nichts ist, das soll bald geschehen sein.« Sogleich berief der König der Fische alle seine Untertanen, jeden bei seinem Namen, groß und klein, und als sie vorüberkamen, fragte er sie, ob sie nicht den Schlüssel des goldenen Schlosses gesehen hätten. Keiner hatte den Schlüssel gesehen. Alle hatten dem Aufrufe gehorcht mit Ausnahme einer Alten, die immer zu spät kam. Sie kam zuletzt und trug den Schlüssel im Maul. Der König der Fische nahm ihn und stellte ihn Dreißig-aus-Paris zu. Dieser schlug schleunigst mit seiner Stute den Weg nach Paris ein.

»Jetzt aber«, sagte der König, als er der Prinzessin den Schlüssel überreichte, »habt Ihr keinen Grund mehr, unsere Vereinigung hinauszuschieben, denn ich habe alle Eure Wünsche erfüllt.« »Das ist wahr,« entgegnete sie, »jetzt müssen wir die Hochzeit richten. Indessen brauche ich zuvor noch eine Kleinigkeit; es wird Euch nicht schwer sein, sie zu erlangen, nachdem Ihr schon soviel für mich getan habt.« »Redet, Prinzessin, ich gehorche Euch!« »Ihr seid nicht mehr jung, Herr, und bevor ich Euch heirate, möchte ich Euch ins Alter von fünfundzwanzig Jahren zurückversetzt sehen.« »Und wie könnte das geschehen?« »Nichts ist leichter als dies; Ihr habt schon viel Schwierigeres vollbracht. Es genügt ganz einfach, das Wasser des Todes und das Wasser des Lebens zu besitzen.« »Aber wo soll man dieses Wasser suchen?« »Das ist Eure Sache; aber ich werde Euch nicht eher heiraten, als ich es habe.« Der alte König ließ wieder Dreißig-aus-Paris rufen und sagte ihm, daß er als letzte Aufgabe das Wasser des Todes und des Lebens holen müsse und daß er, falls er es nicht besorgen könne, sich zum Tode vorbereiten solle.

Am andern Morgen fand Dreißig-aus-Paris wieder seine Stute, die ihn am Tore des Schloßhofes erwartete, und er sagte ihr, was der König als letzte Aufgabe verlange. »Weh!« sagte die Stute, »das wird unsere schwerste Prüfung sein; aber wenn sie uns gelingt, so wird es auch die letzte sein und man wird dich endlich in Ruhe lassen. Gehen wir also, denn wir haben einen weiten Weg vor uns.« Nachdem sie eine große Zahl von Königreichen und verschiedene andere Länder durcheilt hatten (denn sie reisten fortwährend durch die Luft), kamen sie endlich an ihren Bestimmungsort, der lag inmitten eines großen Waldes, wohin vielleicht noch nie ein Mensch gekommen war. »Dort unten sind die beiden Quellen am Fuße der großen Felsen, die du dort erblickst«, sagte die Stute zu ihrem Begleiter. »Ein Tropfen, ein einziger, fällt jede Stunde von jedem der beiden Felsen in die Quellen.« »Ja, ich sehe wohl die beiden Quellen, aber ich sehe auch zwei Löwen, die jede von beiden bewachen, und wenn ich näherkomme, werden sie mich gewiß in Stücke reißen.« »Rufe den König der Löwen zu Hilfe!« Er rief den König der Löwen, und dieser erschien sogleich. »Womit kann ich dir dienen, Dreißig- aus-Paris?« fragte er. »Der König von Frankreich hat mich hierher gesandt, um ihm eine Flasche vom Wasser des Todes und eine andere vom Wasser des Lebens zu holen, aber die Löwen, die ich da unten bei den Quellen sehe, werden mich gewiß in Stücke reißen, wenn ich näherkomme.« »Sei ohne Furcht, ich werde mit meinen Kameraden ein paar Worte reden.« Der König der Löwen trat zu den Wächtern der Quelle und befahl ihnen, Dreißig-aus-Paris kein Leids zu tun. Dieser füllte ruhig seine Flaschen – von jeder Quelle eine –, dankte dem König der Löwen und kehrte auf seiner weißen Stute nach Paris zurück.

Die Reise hatte drei Jahre gedauert, und wenn der König schon bei seiner Abreise alt und gebrechlich gewesen war, so war er es jetzt noch viel mehr, aber trotzdem war er nicht gescheiter geworden, sondern sprach unausgesetzt vom Heiraten und belästigte fortwährend die Prinzessin. Als er Dreißig-aus-Paris mit den beiden Wassersorten zurückkommen sah, begann er vor Freude wie ein echtes Kind zu singen und zu tanzen. Er wünschte auf der Stelle verjüngt zu werden, um sich rasch verheiraten zu können. Man entkleidete ihn, legte ihn rücklings auf einen Tisch, und dann goß man einige Tropfen vom Wasser des Todes auf ihn. Er sagte nicht mehr bu noch ba, er starb auf der Stelle. Dann sprach die Prinzessin vom goldenen Schlosse: »Nehmt dieses Aas fort und schmeißt es in den Schloßgraben, damit es dort verfaule. Der, welcher alle Mühen ertragen hat, soll auch den Lohn ernten. Dreißig-aus-Paris soll mein Gatte sein!«

Man tat, wie sie sagte: die Leiche des alten Königs wurde in den Schloßgraben geworfen, und Dreißig- aus-Paris heiratete die Prinzessin vom goldenen Schlosse. Es gab großartige Festlichkeiten und Gastmähler. Am Ende des Mahles sagte Dreißig-aus- Paris: »Ich bedaure nur eines.« »Was denn?« fragte die Prinzessin. »Daß ich nicht meine treue weiße Stute hier unter uns sehe, die mir Rat erteilt und mich auf allen meinen Prüfungsfahrten geleitet hat.« Alsogleich erblickte man – niemand wußte, wie es kam – eine Frau von wunderbarer Schönheit im Saal, sie war noch weit schöner als die Prinzessin vom goldenen Schlosse, die doch auch schon sehr schön war. Die hohe Frau sprach folgendermaßen: »Ich bin es, die dich, Dreißig-aus-Paris, bei allen deinen Arbeiten und Prüfungen unter der Gestalt einer weißen Stute geleitet hat. Ich bin die Jungfrau Maria, die Gott der Herr gesandt hat, um dich zu schützen, Gott, der dich aus dem Straßengraben, in dem du ausgesetzt warest, rettete.« Nachdem sie so geredet hatte, verschwand sie wieder, ohne daß man gewahrte, auf welche Weise sie ging. Und meine Erzählung ist zu Ende.

Ernst Tegethoff, Französische Volksmärchen

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