An einem fernen, wüsten Gestade hatte ein Zauberer sein Schloss erbaut. Ein Schloss, schöner als irgend sonst etwas auf der Welt. Hohe, schlanke Säulen – eine jegliche aus einem Stück gefertigt! – zierten die Vorderfront, all überall zwischen den Säulen waren Blütenranken aus edelstem Porzellan angebracht, und die Fenster waren vielfarbige Bilder aus Bleiglas, welches im Sonnenlicht funkelte – golden in der Morgensonne, blitzend in der Mittagssonne und blutrot in der Abendsonne. Den Giebel trugen Atlanten und Atlantiden, jede Skulptur eine Augenweide carrarischen Marmors. Das Dach war aus purem Gold, selbst die Regenrinne wurde von goldenen Tiergestalten gehalten.
Vor langer Zeit hatte sich der Zauberer in eine wunderschöne Prinzessin namens Azelina verliebt. Er umwarb sie mit vielerlei kostbaren Geschenken. Sie aber sagte: „Mein Vater ist auch ein sehr reicher Mann, Puppen, Kleider, Naschwerk – das alles habe ich längst zur Genüge genossen. Wenn schon Reichtum, dann wünsche ich mir Reichtum des Herzens bei dem Mann, den ich heirate!“ Der Zauberer war über diese Worte arg verdrossen und nannte das Mädchen innerlich eine dumme Gans, die Werte nicht zu schätzen weiß. Aber er liebte sie noch immer und schickte einen Sänger unter ihr Fenster, dass er ihr eine schöne, gefühlvolle Serenade singe. Darauf sagte das Mädchen: „Wenn weder die Worte noch die Melodie von dir, o Freier, stammen, dann solltest du zumindest selber singen!“ Das verdross den Zauberer noch mehr. Er erkannte endlich, dass er das Mädchen gar nicht liebte, sondern nur begehrte. So begann er, sie zu erpressen: „Wenn du mich nicht erhörst, verwandele ich deine Eltern in Delphine!“ Das Mädchen glaubte nicht daran, dass der Zauberer so herzlos sein könnte und lachte ihn aus. Kurz darauf wälzten sich zwei große Delphine schwerfällig zum Schlosstor hinaus und in den Schlossgraben hinein. Die Prinzessin weinte bitterlich und flehte den Zauberer an, ihre Eltern wieder zurückzuverwandeln. Er aber sprach: „Füge dich mir, dann werde ich es vielleicht tun!“ Die Prinzessin erwiderte stolz: „Alles, was ich jetzt noch habe, ist meine Ehre, und die sollst du, o Fremdling, mir nicht beflecken!“ Nun ergriff den Zauberer ein heilloser Zorn. Er verwandelte die Maid in eine goldene Taube, dass sie künftighin neben all den anderen Tiergestalten die Regenrinne festzuhalten habe. Da versammelten sich alle Vögel des Himmels um das Schloss des Zauberers und berieten sich: „Soll die Königstochter, die stets lieb und gut zu allem Lebenden war, nun als goldene Taube enden? Nein! Der Bösewicht muss ein Wort festlegen, durch welches die Prinzessin erlöst werden kann, und sei es erst in hundert Jahren!“ Sie flogen in das Schloss hinein und pickten und zwackten den Zauberer, bis er sich geschlagen gab und schrie: „Ja, ja, ich setze ein Wort fest, ich schreibe es sogar in goldenen Lettern auf das Schlossdach, aber nur der wird es lesen können, der dem Geschmack dieser dummen Gans entspricht!“ Da ließen die Vögel von ihm ab, blieben aber in der Nähe, um zu sehen, ob er sein Versprechen auch halten werde. Und nur wegen dieser Präsenz hielt er es. Das Schlossdach trug nun ein Ornament aus funkelnden Diamanten, die derartig vielfarbige Blitze schleuderten, dass man sie schon aus weiter Ferne gewahrte. Wer sich tagsüber dem Schloss näherte, musste die Augen bedecken, um nicht von dem gleißenden Schein geblendet zu werden.
Der Hauslehrer der Prinzessin hatte inzwischen festgestellt, dass seine Schülerin nebst ihren Eltern nicht mehr in der Residenz weilte und er glaubte, dass sie die seit langem geplante Reise angetreten haben und vergessen hatten, ihn davon in Kenntnis zu setzen. So ging er spazieren und entdeckte die Delphine im Schlossgraben. Er sah, dass die Tiere dort nicht mehr lange würden leben können und veranlasste einen Bauern, die Tiere auf seinem Heuwagen zum Meer zu schaffen. Etliche Stallburschen und Schweizer mussten kräftig mit anpacken, um die schweren, glitschigen Geschöpfe auf den Wagen zu hieven, den der Hauslehrer vorsorglich mit kühlen Leinenplanen ausgelegt hatte. Während der langen, rasanten Fahrt begoss er die Delphine in regelmäßigen Zeitabständen, damit sie keinen Schaden nähmen. Er redete ihnen gut zu und versprach ihnen ein großes Gewässer, in welchem sie endlos schwimmen und viel zu fressen finden könnten. Dass die beiden bei „zu fressen“ zuckten, fiel ihm nicht weiter auf, denn sie hatten auf der langen Fahrt schon oft gezuckt. Der gute Mann wusste ja nicht, wen er kutschierte. Einer Majestät hätte er niemals etwas „zu fressen“ angeboten!
Die verwunschenen Majestäten wussten die Bemühungen ihres Angestellten zu schätzen. und waren ihm sehr dankbar, konnten sich aber nicht verständlich machen. Endlich im Meer angekommen, schwammen sie hin und her und kreuz und quer, besahen und bestaunten die Unterwasserwelt und fühlten sich beinahe wohl in ihrer neuen Gestalt. Sie verstanden inzwischen auch die Sprache der Tiere und hörten eines Tages das Gespräch eines Möwenpärchens: „Der Zauberer, dieser schlechte Mensch, hat uns betrogen! Niemals wird jemand die liebliche Azelina erlösen können, denn die Schrift auf dem Schlossdach blendet viel zu sehr!“ – „Wir könnten jedes Mal, wenn sich ein Schiff nähert, einen Schatten auf die Schrift werfen, aber nur, wenn der ganze Schwarm darüber kreist.“ – „Wie willst du den ganzen Schwarm dazu bewegen? Die sind doch alle viel zu beschäftigt! Der eine mit Fressen, der andere mit Zeugen, der dritte mit der Brutpflege und anderen Dingen! Nein, ich fürchte, die Prinzessin ist verloren!“
Die Delphine sahen einander an und wussten, was zu tun war. Sie fragten die Möwen, wo sich das Schloss befindet und machten sich auf den Weg. Sie spähten die Regenrinne hinauf und hinunter und erkannten ihre Tochter in der einzigen Taube in der Phalanx der Tiergestalten. Schon weit vor der Küste hatten sie die diamantene Schrift auf dem Dach gelesen, aber sie glaubten dass sie das nur konnten, weil sie durch das Wasser hindurch sahen, wären sie über dem Wasser, würden sie geblendet wie jeder andere. Das Wort war für einen Delphin unaussprechbar, sie konnten es niemandem übermitteln. Sie schleppten jeden Kahn, den sie finden konnten, in der Dämmerung zum Schloss. Die Insassen wehrten sich, aber das Königspaar war gewitzt, sie ließen sich nicht harpunieren. Sie führten den Fischern den Tanz auf ihren Schwänzen vor, lachten sie an mit dem den Delphinen eigenen Lächeln und zeigten sich auch ansonsten sehr menschenfreundlich und verständig. Die Fischer ließen sich bis vor das Schloss locken und waren gefesselt beim Anblick des wunderschönen Gebäudes. Sie fuhren aus eigener Kraft näher heran, um diese Schönheit zu genießen. Jeder blickte hinauf und hinunter und bestaunte das vollkommene Kunstwerk. Ja, auch das diamantene Ornament auf dem Dach fanden sie wunderschön. Die Delphine dachten: „Ihr Trottel! Könnt ihr nicht lesen? Seht ihr denn nicht, dass da ein Wort geschrieben steht?“ Und sie zogen aus, um weitere Schiffer zu der Schrift zu führen. Abend für Abend und Morgen für Morgen schleppten sie Schiffe dorthin, denn nur bei Dämmerung war man nicht geblendet von den Diamanten.
So ging es viele Jahre. Jeder Mensch sah nur die Vollkommenheit der Architektur, keiner erkannte das Wort. Doch die Delphine ließen sich nicht entmutigen. Sie konnten nur aus ihrer Tiergestalt erlöst werden, wenn ihre Tochter erlöst wird. So schleppten sie weiterhin jeden Kahn, der in ihre Reichweite kam, zum Schloss. Da erwischte die Königin einmal ein Unterwasserboot. Es war leckgeschlagen und von der Regierung bereits aufgegeben worden. Aber die Hälfte der Mannschaft war noch am Leben. Die Männer freuten sich, als das Schiff plötzlich wieder Fahrt aufnahm. Sie wussten, dass die Maschine defekt war, dass sie also gezogen wurden. Sie erblickten den Delphin und hätten ihn am liebsten geküsst!
Kurz vorher hatten sie noch sondiert, wer am entbehrlichsten war. Um den zur Atmung nötigen Sauerstoff zu strecken, hatten sie beschlossen, den Wissenschaftler, der zur Erforschung der Meereswelt an Bord war, den Fischen zum Fraß vorzuwerfen, denn er hatte ja keine Ahnung von den Feinheiten ihres Bootes. Nun ließen sie ab von ihm und jubelten ihrem neuen Führer zu.
Die Delphinin, die nicht wusste, aus welchem Dilemma sie das Boot befreite, machte die publikumswirksamen Faxen, die sie sich inzwischen antrainiert hatte. Sie wollte die Männer bei Laune halten und verhindern, dass sie beschossen wird. Sie konnte ja nicht ahnen, wie knapp der Sauerstoff in diesem U-Boot war! Die Männer begannen, sie anzufeuern, aber sie hörte die Rufe nicht. Da das Fahrtempo sich nicht änderte, begannen einige aus der Mannschaft, den Retter zu beschimpfen.
Ein Delphin muss von Zeit zu Zeit an die Oberfläche, so stieß auch endlich das U-Boot nach oben. Frische Luft, wie kostbar! Einmal tief durchatmen, und schon zog die Delphinin das Boot weiter, hin zu jenem Gestade, wo das Schloss des Zauberers prangte. Die Mannschaft jubelte: „Festland! Festland!“ Und alle stürmten auf den Strand. Der Wissenschaftler – ein verträumter junger Mann, der lieber auf seiner Geige spielte, anstatt mit den Matrosen Karten zu spielen – hatte einen Schriftzug auf dem Dach zu sehen gemeint. Er trat ein paar Schritte zurück und las es deutlich, er sprach das Wort unbewusst aus, und schon flatterte eine goldene Taube vom Dach herab und verwandelte sich in eine jungfräuliche Schönheit. Sie dankte anmutig ihrem Retter und wandte sich dann zornig gegen das Schloss: „Du verruchter Zauberer, ich will meine Eltern! Verwandle sie zurück! Sofort!“ Da sank ein giftiger Rauchschwaden aus einem der Schlossfenster herab, in welchem die Riesengestalt des Zauberers drohend die Fäuste schwang: „Verschwinde! Deine Eltern hast du selbst verwirkt! Sie sind Vergangenheit, es gibt kein Zurück für sie! Sei froh, dass du erlöst wurdest!“
Die Delphine hatten alles gehört und die Angst ihrer Tochter und die ihres Retters gesehen. Sie fügten sich und lebten noch viele Jahre im Ozean, immer in der Hoffnung, eines Tages ihren Enkeln zu begegnen . . .
Quelle:
falmmarion