Am Rande eines Dorfes lebten einmal ein Armer und ein Reicher als Nachbarn nebeneinander. Der Reiche hatte einen großen Hof, einen gepflegten Garten, und er besaß viele Pferde und große Rinderherden. Haus und Hof waren aufs Beste ausgestattet. Eine große Zahl von Knechten und Mägden erledigten alle Arbeit. Dazu hatte er drei schöne Frauen geheiratet.
Der Arme dagegen besaß nichts als eine kleine Hütte, eine Ziege und nur wenig, was im Hause benötigt wurde. Als Tagelöhner war er mal hier, mal dort und nahm jede Arbeit an, die sich ihm bot. Seinen ganzen Verdienst brachte er nach Hause und davon lebte er und seine Familie mehr schlecht als recht.
Eines Tages war er müde von der Arbeit heimgekommen und aß gerade eine Schale Suppe, die ihm seine Frau gekocht hatte. Da klopfte ein Diener des Reichen an seine Tür. Er trat ein, grüßte den Armen und sagte: „Mein Herr schickt mich, er wünscht, dass du so schnell wie möglich zu ihm kommst!“
„Was will dein Herr von mir?“, fragte der Arme.
„Das weiß ich nicht“, antwortete der Diener.
Also erhob sich der Arme und folgte dem Man. Auf einem Diwan vor seinem Hause lag der Reiche auf einer seidenen Decke, neben ihm stand eine Tasse duftenden Tees und seine dicken, nackten und behaarten Beine wurden von einem jungen Diener massiert.
„Tritt näher, Nachbar“, sagte der Reiche, als der Arme in der Tür stand, „ich sehe dich gar nie bei mir. Wie ich weiß, ist bei euch Schmalhans Küchenmeister und ihr leidet oft Mangel, aber du kommst nie, mich um etwas zu bitten.“
„Nun, ein jeder Mensch muss mit dem zufrieden sein, was er hat“, entgegnete der Arme.
„Na, du scheinst ja sehr weise zu sein“, meinte der Reiche, „aber komm schon her und setze dich zu mir!“
Der Arme nahm auf dem äußersten Rande des Sofas Platz.
„Ich möchte dich etwas fragen“, sagte der Reiche, „wie du weißt, besitze ich alles, was man sich nur wünschen kann. Wie du aber auch weißt, habe ich auf meinem Hof keinen einzigen ruhigen Tag. Bald ärgern mich meine nachlässigen Dienstboten, was mein Blut in Wallung bringt. Ich schimpfe und schlage sie auch manchmal. Dann streiten sich meine Frauen so sehr, dass mir Hören und Sehen vergeht. Immer wieder kommen Leute mit ihren verschiedenen Anliegen zu mir, die ich ihnen erfüllen soll. Kurz gesagt, auf meinem Hof ist ständig Lärm, Zank und Streit.
Da wundere ich mich über dich, du bist doch mehr als arm, du besitzest nicht einmal den tausendsten Teil dessen, was ich mein eigen nenne, aber auf deinem Hof ist immer Ruhe. Noch nie habe ich deine Frau weinen hören oder Streit zwischen euch bemerkt. Auf eurem Hof hört man immer nur herzliches Lachen. Sag mir doch, wie kommt das?“
„Wir haben nichts, worüber wir uns streiten könnten“, lachte der Arme, „ich gebe mir jede Mühe, um für mich und meine Familie zu sorgen. Meine Frau weiß das und sorgt deshalb auch für mich, so gut sie kann. Sie hat auch ihren Kopf voll Sorgen. Aber da wir uns lieb haben, geben wir uns Mühe, unsere Herzen vor Kummer und Leid zu bewahren. Ja, und dann haben wir noch eine kleine Perle, mit der wir immer in unseren Mußestunden spielen. Das macht uns so viel Freude und lässt uns immer herzlich lachen.“
Nachdem der Reiche den Armen verabschiedet hatte, dachte er lange über alles nach, was der ihm erzählt hatte. „Wenn wirklich eine einzige kleine Perle Freude und Lachen hervorrufen kann, dann will ich sofort drei Perlen für meine Frauen kaufen und will damit mit ihnen spielen,“ beschloss er, “ich bin gespannt, was dabei herauskommt!“
Am andern Tag kaufte also der Reiche für eine riesige Summe Geld drei kostbare Perlen. Zu Hause setzte er sich auf das Sofa und rief seine drei Frauen herbei. Einer jeden gab er eine Perle und sagte: „Kommt her, wir wollen uns zusammen setzen und mit den Perlen spielen!“
Aber die älteste Frau verglich zuerst ihre Perle mit den Perlen der jüngeren Frauen. Dabei schien ihre Perle kleiner und billiger zu sein als die der beiden andern. Auch die zweite Frau und auch die Jüngste taten desgleichen. Und schon fuhren sie voller Neid und Missgunst aufeinander los, und im Hause war wieder der größte Krach. Der Mann geriet außer sich vor Wut, er verdrosch diese Weiber und sperrte sie in ihre Zimmer.
Dann lief er, so schnell er konnte, zu dem Armen. Als er dessen Hof betrat, schlug ihm fröhliches Lachen entgegen. Er sah, wie der Arme und seine Frau mit einem zweijährigen Knaben spielten. Sie hatten ihn zwischen sich sitzen und lachten von Herzen froh und glücklich über seinen kindlichen Mutwillen.
„Ich habe für meine Frauen drei Perlen gekauft,“ sagte der Reiche zu dem Armen. „Aber die haben keine Freude ausgelöst, ganz im Gegenteil, meine Frauen sind deswegen heftig miteinander in Streit geraten und haben einen mordsmäßigen Krach geschlagen. Was ist denn an eurer kleine Perle, dass ihr beim Spiel mit ihr froh und glücklich werdet?“
„Ach, Nachbar“, sagte darauf der Arme, „unsere Perle ist kein toter Gegenstand wie jene, die ihr euren Frauen geschenkt habt. Unsere Perle ist unser kleines Söhnchen hier, das wir von ganzem Herzen und von ganzer Seele lieb haben. Kannst Du dir vorstellen, dass es eine Perle gibt, die schöner und kostbarer ist als hier unser Kind?“
Dem Reichen war alles klar, und er verließ sehr nachdenklich, ohne noch ein Wort zu sagen, den Hof des armen Mannes.
Quelle: Henning Vieser – Nacherzählung eines Volksmärchens